Der Ritt auf den Seiten

Beitragsbild: Das Buchcover auf einer Fotografie von Janko Ferlic, die einen mit Glühbirnen beleuchteten Regal-Gang einer Bibliothek zeigt.

Mit manchen Büchern verhält es sich so, dass sie definitiv Interessantes erzählen, voller Wortkunst geschrieben, voller Inspiration und wunderbarer Momente sind und es doch schwerfällt, ihnen so ganz nah zu und von ihnen nicht nur angetan sondern gar begeistert zu sein. Im Bereich der Prosa weiß Michael Maar in seinem, vom Rowohlt Verlag zurecht als Hauptwerk bezeichneten, Buch Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur von einigen Veröffentlichungen zu berichten, auf die das zutrifft. Was nun den Bereich der Sachbücher angeht, können wir sein für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 nominiertes Buch gern auf diese Liste setzen.

So widmet sich das Buch im Grunde der großen Frage: Was ist (guter) Stil? Diese Frage bleibt unbeantwortet, sonst würde das Ding auch nicht 34,00 Euro sondern ein paar Nullen mehr kosten. Das macht aber auch nichts, denn die Reise, die der Germanist, Schriftsteller und Literaturkritiker mit uns auf den gut sechshundert Seiten durch die deutsche Literaturgeschichte unternimmt, ist so vielschichtig, weitreichend und interessant, dass das Interesse auch ohne Beantwortung dieser Frage hoch bleiben kann.

Proust war kein Deutscher, schade eigentlich

Nur die deutschsprachige Literatur? Ja, „nur“ die. Auch aus dem einfachen Grund, dass, um auch vergleichend unterwegs zu sein, die Hinzuziehung von übersetzten Titel eine Ebene aufgemacht hätte, die den Rahmen dieses Experiments, wie wir es gern nennen wollen, doch bei Weitem gesprengt hätte (Maar merkte auch bei der sehr sehenswerten Matinée zum Deutschen Sachbuchpreis an, dass es zuerst ein etwa einhundertseitiger Essay werden sollte). Was nun nicht bedeutet, dass nicht an verschiedenen Stellen auch nicht-deutschsprachige Autor*innen erwähnten werden. Marcel Proust kommt früh und scheint für Maar, aus für uns guten Gründen, immer eine gute Adresse zu sein, wenn es um bestimmte und besondere Momente und Eigenheiten von Stil geht. Gustave Flaubert und Virginia Woolf begegnen uns ebenso immer mal wieder.

Alles in allem bleiben wir aber über die sieben Hauptkapitel und die gut achtzigseitigen Anmerkungen und Nachweise im deutschsprachigen Raum. Zu den Anmerkungen: Sie runden das zuvor im Hauptteil Gelesene nicht nur ab, sondern ergänzen es um teils recht notwendige Informationen. Hier sollte der Blick also immer mal wieder nach hinten gehen. So ist Die Schlange im Wolfspelz übrigens mal ein Buch, in dem ein zweites Lesebändchen von Nutzen, wenn nicht gar vonnöten, wäre. Auch sei hier erwähnt, dass es nicht notwenig ist, ein Literaturprofi zu sein; gut wäre es allerdings, wenn nicht nur gern gelesen würde, sondern eine große Affinität zu komplexen und wortspielerischen Lektüren bestünde.

Michael Maar beginnt sein sorgsam komponiertes Buch im ersten Kapitel mit, wenn wir so wollen, allgemeinen Anmerkungen, Beispielen und Fragen zum Stil. Lässt dabei Ludwig Börne fragen, warum so viele deutsche Schriftsteller so schlecht schrieben, beginnt bereits einzelne Manierismen zu analysieren und startet eine Auseinandersetzung mit dem manchmal den Inhalt überragenden Stil Adornos, auch etwas, das uns über weite Teile immer mal wieder begegnen soll (und das an mancher Stelle Maar zu gern – unbewusst? – imitiert).

Stier gegen Stier oder: Alfred Döblin gegen Thomas Mann

Im zweiten Teil ist er vergleichender und auch selber wertender unterwegs. Hier kann gesagt werden: Egal ob wir Leser*innen ihm, der die Leser*innen nicht selten im generischen Femininum adressiert, zustimmen oder nicht, ob wir die einzelnen erwähnten Geschichten der Schriftstellerinnen und Schriftsteller kennen oder nicht, Maar weiß mit seinen oft lakonischen, manchmal hart ironischen Einschätzungen zu unterhalten. Auch das meinen wir mit „sorgsam komponiert“.

Überhaupt: Wenn er anhand jeweils einer Szene Alfred Döblin und Thomas Mann (Haßobjekt Döblins) vergleicht, bereitet das Freude trotz des dumpfen Themas sterbender Stiere. Kurz danach vergleicht er Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas mit Thomas Manns Tod in Venedig. Thomas Mann, der es immer mit dem Morden habe, wenn es um Sex ginge, kommt oft, wie sollte es aber auch anders sein, fragen wir uns rhetorisch in aller Stille. Und lesen weiter, was Maar über die richtige Verwendung von Verben („das Mitochondrion des Satzes“), Adjektive, Interpunktion, Rhythmus und Syntax zu sagen hat oder auch seine Schriftstellerinnen und Schriftsteller sagen lässt. 

Im dritten Teil zeigt er die Instrumente und es wird metaphorisch, aufzählerisch, aus irgendwelchen Gründen ständig „wagnerisierend“, dialogisch, kitschig, floral und mal mehr, mal weniger authentisch. Es wird auch tratschig (wie im Grunde zuvor auch schon): Wir lernen von Fehden zwischen einzelnen Schreibenden, von machen mag gehört worden sein, von anderen nicht, bei wieder anderen ist es einfach nur fein zu lesen, was wer über wen sagte oder schrieb. Dass beispielsweise Elias Canetti „den eitlen“ Emil Ludwig als Vielschreiber verachtete, ist nicht unkomisch. Womöglich auch, weil wir gerade die ausführliche Emil Ludwig-Biografie von Armin Fuhrer lesen und diese Bewertung Canettis nach dessen Maßstäben Sinn zu ergeben scheint. 

Verbote, Irritationen und Überbewertungen

Auch durch diese Gossip-Momente sind die ersten 160 Seiten des Buches immer mal wieder locker zu lesen und bringen eine gewisse voyeuristische Freude mit sich, wenn sie auch dadurch anstrengen können, dass Maar nicht nur nachempfindet, sondern auch nachstellt oder hommagiert: Er passt sich dem an, was er beschreibt. Dieser Wechsel erfordert Aufmerksamkeit, was in Ordnung ist, würde es nicht manches Mal eher nach Ego- als nach Leser*innenbefriedigung aussehen. Zu angestrengt wirkt es an einigen Stellen auch. Da würde er, wenn er sich selber läse, vermutlich zurecht Opfer seiner eigenen Kritik. Auch scheint er sich nicht immer sicher, ob er nun nur analysieren und kombinieren oder auch gern bissig bewerten möchte. Diese Unentschlossenheit lässt nach, irritiert anfangs aber. In diesem Zusammenhang irritiert es übrigens auch, wenn er im „Verbotskanon“ meint, dass ständige Phrasen wie „Paradigma“, „Diskurs“ und „Narrativ“ nerven würden und besser zu unterlassen seien. Zwar bezieht er sich in dem Moment auf Essays, aber Prosa allemal. Uns begegnet selten Prosa, in der „Narrativ“ oder Ähnliches zu oft oder überhaupt vorkämen. Und wer über den politischen Diskurs schreibt, kann das Wort „Diskurs“ nur schwer vermeiden, außer er wird zum semi-galanten Zyniker und ersetze es also mit „Zirkus“, schlagen wir mal vor. Irritierend. 

Ebenfalls strengt es mit der Zeit an, dass Maar immer noch auf etwas zurückkommen will – was er durchaus jedes Mal macht – doch ist dies ab und an bereits nach zwei, dann nach zehn oder nach zweihundertdreiundsiebzig Seiten der Fall. Egal ob das Buch binge- oder in Häppchen gelesen wird, das ist ein überreiztes Stilmittel, um die Aufmerksamkeit hoch zu halten, aber vermutlich auch, um uns zu zeigen, wie vernetzt er mit seiner Geschichte (oder auch seinem Narrativ…) ist. 

Nun auch zurück zu den Geschichten: Den Hauptteil des Buches macht die Bibliothek aus. Über knapp dreihundert Seiten porträtiert er in kurzen Sequenzen verschiedene Schriftstellerinnen und Schriftsteller, mal anhand einzelner ihrer Werke oder auch ihres Schlüsselwerks, manches über einzelne Mittel oder das gesamte Schaffen. Das bleibt also inhaltlich wie auch bei den Namen abwechslungsreich. So darf natürlich der verehrte (hier aber auch für seinen Werther kritisch betrachtete) Goethe nicht fehlen, die Bedeutung von „Grimms Ton“ für die deutsche (Schrift-)Sprache wird betont, ausführlich arbeitet er an Rudolf Borchardt, der uns noch eher unbekannt war. Anna Seghers, Marieluise Fleißer, Marie von Ebner-Eschenbach, Brigitte Kronauer oder Herta Müller: Auch Frauen finden statt, die Maar manches Mal für unterschätzt hält, sicherlich auch einer der Gründe, warum wir weit mehr Herren begegnen. Joseph Roth, Franz Werfel, Thomas Bernhard, Wolfgang Herrndorf (den wir, auch nach der Bewunderung die Maar empfindet, selber immer noch für stark überschätzt halten), Botho Strauß (ebd.) und einige mehr. Herrndorf stellt übrigens mit wenigen anderen die Ausnahme der in der wolfspelzigen Schlange deutlich unterrepräsentierten Gegenwartsliteratur dar. 

Vermisste und Loriots Lyrik

In diesem Sinne passt es auch, dass Michael Maar nicht auf Vollständigkeit beharrt und klar sein lässt, wer hier fehlt; er nennt da Droste-Hülshoff, Horváth, Dürrenmatt und einige andere, dass es „zu bedauern und keineswegs ihre Schuld“ sei. Andere erwähnt er spät, wie Ulrich Becher und dessen „Murmeljagd“, der auch uns unbekannt war und nachgeholt werden soll. Allerdings sind diese Schreibenden doch an mancher Stelle im Buch anzutreffen; auf Annette von Droste-Hülshoff kommt er hier und da und Becher erwähnt er zum Beispiel schon im fantastischen Kapitel zu Hildegard Knef. 

Ebenfalls fantastisch ist unzweifelhaft jenes über „Heine und die Folgen: Kraus, Adorno“, weil Michael Maar hier alle seine Stärken – Auseinandersetzungen von damals ironisch intoniert ins Heute tragen, lakonisch das Geschehen kommentieren und Zitate zu einem klaren, über diese Auszüge hinaus für die betreffenden Personen sprechen lassenden, Bild machen – vereint. Es gibt manche dieser wunderbaren Momente, in denen die Schlange wirklich ganz groß und elegant ist.

Vor Schluss gibt es noch einen „Kürzestausflug“ in die Lyrik. Wobei das auch halber Betrug ist, denn auch zuvor haben wir dieser aus der Prosa heraus immer mal gewunken. Manches Mal nicht nur gewunken, sondern gar mit ihr Tee getrunken, mit Rainer Maria Rilke, leider, gleich mehrfach. Dafür geht Maar in dem in der Tat kurzen Abschnitt wunderbar auf neuere Lyrik wie auch spannende Lyrikerinnen (Ann Cotten, Else Lasker-Schüler, Christa Reinig) ein, die auch hier Interesse daran wecken, sich mit der Lyrik und mit ihnen einmal genauer auseinanderzusetzen und er bringt uns, zwar über eine Rilke-Einleitung, aber was soll’s, den „Loriot-Test“ nah und da haben wir wieder so einen großen, witzigen und treffenden Moment.

Sex und Tod im Abendrot… oder so

Schließlich, quasi in der oder dem Klimax, geht es dann um Sex oder auch „Das Pikante und der Spaß der Welt“, was übrigens ganz passend beinahe mit Thomas Mann und dem Tod endet, aber nur beinahe. Es mag daran liegen, dass wir uns inzwischen so gut eingelassen haben, oder auch daran, dass es von der Form her weniger sprunghaft zugeht, aber diese letzten gut sechzig Seiten lesen sich kurzweilig und durchweg unterhaltsam. Maar beschreibt hier wie Dinge be- oder umschrieben wurden, die direkt zu schreiben sich nicht ziemte, nicht erlaubt oder im Ton nicht gewünscht waren. Aber auch weniger verhüllte Beispiele wie die homoerotischen Betrachtungen in Friedrich Hölderlins Hyperion, Gossen-Sex in Josefine Mutzenbacher oder die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt, ein schon zuvor erwähnter Fußfetisch in den Wahlverwandtschaften von Goethe, „normale Vergewaltigungen“ bei Ingeborg Bachmann und Arno Schmidts Wandel hin zu einer sehr eigenen, immer misogynen Erotik-Wortwahl, die auch Maar selber nur bedingt einzuordnen vermag und Sex auf dem Friedhof bei Ulrich Becher, dessen Buch Murmeljagd nun, wie erwähnt, ganz weit oben auf unserer Agenda steht.

So lernen wir interessierten Leser*innen zwar nicht, was DAS Geheimnis großer Literatur ist, was nun Stil oder auch guten Stil definitiv ausmacht, dafür aber, wie stilsicher über Sex und Tod zu schreiben wäre, so uns nach dem einen oder anderen gelüstete. Michael Maar schreibt am Ende seines etwas uneinheitlichen, das Ego des Autors manches Mal zu offensichtlich mindestens kitzelnden, bei Interesse am Thema überdurchschnittlich interessanten, trotz der unbestreitbaren Unvollständigkeit vielfältigen und fein komponierten (ja, wir hatten es schon) Ritts durch die Seiten deutschsprachiger Literaturen: „Vielleicht haben wir durch Beispiele guten Stils die Empfindlichkeit gegen schlechten erhöht? Das wäre immerhin schon etwas.“ Das ist in der Tat etwas und auch wenn die Werkzeuge, mit denen er die Beispiele guten Stils ausgesucht, untersucht und erläutert hat, immer mal subjektiv sind, dürfte nach der Schlange im Wolfspelz anders, vor allem auf andere Art neugieriger gelesen werden. 

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur; 7. Auflage, Februar 2021; 656 Seiten; Hardcover, mit Schutzumschlag und Lesebändchen; ISBN: 978-3-498-00140-7; Rowohlt Buchverlag; 34,00 €; auch als eBook

Anmerkung: Der erste Deutsche Sachbuchpreis wird am 14. Juni 2021 vergeben. Die Schlange im Wolfspelz ist eines von acht nominierten Büchern. Bis zur Verleihung werden wir sechs der Bücher besprechen.

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