Urlaub, um zu lesen?

Mythen, Nazis, Rationalität, Kolonialismus, Rassismus, Utopien, Tiere, Umstürze, Diktatoren, Frauen, Grenzen, Strände und Hannah Arendt. Nein, das ist nicht etwa der Schlagwortkatalog für den Claim einer neuen, woken Streamingserie bei ZDFneo oder RTL+. Vielmehr sind es die acht für den diesjährigen Deutschen Sachbuchpreis nominierten Titel in aller Kürze, in a nutshell quasi.

Acht Bücher, Sieben Köpfe

Im vergangenen Jahr wünschte sich der Preisträger des ersten Deutschen Sachbuchpreises, der von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels vergeben wird, Jürgen Kaube (für Hegels Welt, bei Rowohlt), in seiner Dankesrede: „Lesen Sie auch die anderen Bücher.“ Nun – die siebenköpfige Jury, bestehend aus Prof. Dr. Meron Mendel (Bildungsstätte Anne Frank), Dr. Jeanne Rubner (Bayerischer Rundfunk), Stefan Koldehoff (Deutschlandfunk), Dr. Klaus Kowalke (Buchhandlung Lessing & Kompanie), Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger (Wissenschaftskolleg zu Berlin), Denis Scheck (ARD), unter dem Vorsitz von Tania Martini (die tageszeitung) scheint diesen Gedanken direkt an die geneigten Leser:innen weitergeben zu wollen, ist die Liste der nominierten Bücher doch so divers wie herausfordernd:

Die Jury, v. l. n. r.: Meron Mendel, Jeanne Rubner, Stefan Koldehoff, Klaus Kowalke, Barbara Stollberg-Rilinger, Denis Scheck, Tania Martini // © vtnr.media

„Der Zweifel ist konstitutiv für das Verständnis von Gegenwart, die von Gespenstern der Vergangenheit bewohnt wird. Die Verwerfungen und Konflikte unserer Gegenwart zeugen davon. Die nominierten Bücher liefern kluge Problematisierungen und scharfe Analysen einiger Grundkonstellationen unserer Zeit. Sie beeindrucken durch Präzision und intellektuelle Redlichkeit oder mit unorthodoxen Zugängen und überraschenden Assoziationen. Elegant und leicht vermögen sie den Leser*innen große Themen nahe zu bringen. Sie erzählen dabei von Freiheit und Mut, von Glück und Verdrängung und hinterfragen für selbstverständlich gehaltene Weltsichten und Rationalitäten. Diese Bücher vermögen Räume zu öffnen, die zu betreten sich lohnt. Die Leser*innen finden dort keine vorgefertigten Wahrheiten, sondern Anregungen, eine Sache weiterzudenken und Gegensätze auszuhalten. Mit ihnen lässt sich ein wenig anders auf die Welt blicken.”

Jurysprecherin Tania Martini, taz, zu den Nominierungen

Die drei Freudezeichen

Zunächst einmal freuen wir uns über zwei oder gar drei Dinge ganz besonders: Einmal, dass es diesen Preis wieder und weiter gibt; dass Sachbücher oft ein wenig abseitig behandelt werden – außer sie behandeln gerade heißen Scheiß oder sind schwurbeliger Nonsens wie jener von Richard David Precht oder gefährliche Diktatorenverklärung wie jene von Gabriele Krone-Schmalz – stört uns durchaus etwas. Zumal es oft von einem Satz à la: „Die sind einfach nicht so interessant“ begleitet wird. Schade.

Zum Zweiten freuen wir uns sehr, dass sich einige Titel finden, die wir schon seit geraumer Zeit auf der Nominierten-Liste vermutet hatten. So zum Beispiel Die Hohenzollern und die Nazis von Stephan Malinowski, das die Jury in der Begründung eine „glänzende Milieustudie“ nennt, zu der Malinowski über die Kollaboration der Hohenzollern mit den Nazis „ein ebenso klug komponiertes wie erkenntnisförderndes und politisch wie juristisch brisantes Buch geschrieben, das zu lesen bei allem Erschrecken eine Freude und ein intellektuelles Vergnügen ist.“ Das Buch Malinowskis besprechen wir in Bälde.

Vögel, Affen, Delfine und ihre Autor*innen

Ebenso gingen wir fest davon aus, Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche von Ludwig Huber zu finden. Sein Buch, so die Jury, sei ein Höhepunkt von Wissenschaft und Aufklärung zugleich. „Die Saatkrähe, die lernt, aus einem Rohr mit einem Stab Futter zu holen; Affen, die mit ganz unterschiedlichen Werkzeugen Nüsse knacken; Delfine, die zögern, wenn sie einen Laut nicht richtig erkennen. Tiere kommunizieren, lesen Gedanken und planen Handlungen. Sie sind – das haben zahllose Experimente der vergangenen Jahrzehnte gezeigt – weitaus intelligenter, als wir Menschen lange vermutet haben. Mehr noch: Sie handeln auch rational, wie Ludwig Huber beschreibt“, heißt es weiter. Ein Buch, das sich übrigens hervorragend mit Das wilde Leben der Vögel kombinieren lässt, darin arbeitet Walter A. Sontag durch Beobachtungen heraus, wie bedacht die gefiederten Freunde agieren können. 

Erzählende Affen – Mythen, Lügen Utopien. Wie Geschichten unser Leben bestimmen von Samira El Ouassil und Friedemann Karig war für uns genauso naheliegend. Nicht nur ist es ein ausgewogenes Buch zu gleich mehreren hot-button issues, also zentralen Streitthemen, sondern ebenso entschlüsseln die beiden „universelle Erzählmuster, die der Welt Sinn verleihen und kollektive Identitäten formen, aber auch Feindbilder prägen und Kriege rechtfertigen. El Ouassil und Karig verfolgen das kreuz und quer durch die Epochen und schildern mit Anschaulichkeit und aufklärerischer Verve, wie es bis heute funktioniert.“ Ein Buch also, das zurückblickt und dabei doch zukunftsweisend und lehrreich sein kann. Unsere Besprechung folgt.

Ohne Hannah Arendt geht nichts mehr

Ebenfalls lassen sich Lehren und Lehren aus vermeintlichen Lehren ziehen, wenn mensch Natan Sznaiders detaillierte und doch süffisant-knackige Debattenaufarbeitung Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus aufmerksam liest. „Dass die Globalisierung der Erinnerung nicht unbedingt eine gemeinsame Meta-Erzählung hervorbringt, ist der Befund, mit dem Natan Sznaider in die hitzige Kontroverse um das Verhältnis zwischen Holocaust und Kolonialismus interveniert. Mit Autor*innen wie Hannah Arendt oder Albert Memmi gibt er wichtige Anregungen, um ein produktives Gespräch zwischen Postkolonialismus und jüdischen Erfahrungen zu ermöglichen. Dafür legt er präzise die ideologischen Kurzschlüsse frei, die sich um scheinbar moralisch einwandfreie politische Begehren gruppieren“, und auch wenn unsere Besprechung noch aussteht, können wir uns dieser wertenden Zusammenfassung nur anschließen. 

„Ein glaubwürdiges Plädoyer für freie, liberale, pluralistische Gesellschaften und gegen Diktaturen postsowjetischer Prägung aus den Mündern jener Frauen, die gerade mitten in Europa um ihre Freiheit kämpfen“, nennen die Jurymitglieder Alice Botas im vergangenen Sommer erschienenes Buch Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit, das wir hier zum Erscheinen ausführlich besprochen haben und das nichts an seiner brenzligen Aktualität und menschlichen Dringlichkeit eingebüßt hat, auch dank der von der Jury herausgehobenen sachkundigen Analysen. Dass die titelgebenden Frauen nur wenige Tage vor der Verleihung des Sachbuchpreises am 30. Mai in Aachen mit dem Karlspreis für Verdienste um die Europäische Einigung ausgezeichnet werden, illustriert einmal mehr, wie wichtig ihr Aufbegehren für die Demokratie ist.

Kriege und Grenzverschiebungen

Sachkundig und ebenso aktuell dürfte sicherlich auch der von Stefan Creuzberger nominierte Beitrag Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung sein (hier merkt ihr schon: „dürfte“, Konjunktiv, wir sind nun bei den Titeln, in die wir noch nicht geschaut haben). Das klingt natürlich nach einem Buch der Stunde, erst recht, wenn wir die Jurybegrünung lesen: „Kann man Krieg verstehen? Kann man Wladimir Putin, kann man das gegenwärtige Russland verstehen? – Vermutlich nicht. Verstehen kann man aber im Rückblick die Entwicklung und die Resultate von Geschehnissen. Stefan Creuzberger beschreibt hier eine deutsch-russische Geschichte. Die Zarenzeit, Revolution und Umbruch, I. Weltkrieg, Sowjetunion, II. Weltkrieg, Kalter Krieg, Willy Brandts Moskauer Verträge, schließlich Wende und Gegenwart.“ Und: „Die Fülle der Wechselwirkungen in der gemeinsamen Geschichte lassen unser Verhältnis zum heutigen Russland verständlicher werden, und seine Deutung der Gegenwart ist auch eine Offenbarung für uns.“ Dann vertiefen wir bald mal unsere unter anderem dank des Russland-Experten Jens Siegert bereits gewachsenen Russlandkenntnisse.

Etwas, das sich auch ohne große Zusammenhänge verstehen lässt, sind Fluchtbewegungen aus Kriegsgebieten, wenn es auch einmal dringend nötig sein wird, über die unterschiedliche Einstufung von… nennen wir es mal Flüchtlingskategorien zu sprechen, selbst obwohl es auch kein neues Phänomen ist. Steffen Mau jedenfalls befasst sich in Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert im Rahmen der neuen Edition Mercator bei C.H. Beck mit den Privilegien offener Grenzen für die einen und die Unmöglichkeit der Bewegung der Mehrheit. „Grenzen sind unsichtbar für die einen und unüberwindbar für die anderen. Darin liegt ihre doppelte Funktion als ‚Sortiermaschinen‘. Entgegen den Mythen von der entgrenzten Globalisierung sind Grenzen – diese Orte des Öffnens und Schließens, des Durchwinkens und Abweisens – in der jüngsten Geschichte nicht per se durchlässiger geworden; sie wurden im Gegenteil ausgebaut, hochgerüstet, technisch optimiert und ‚fortifiziert‘. […] Der Berliner Soziologe Steffen Mau analysiert empirisch fundiert und stilistisch schnörkellos die Grenzen unserer globalen Gegenwart und zerstört dabei so manche Illusion einer grenzenlosen Welt.“ Höchste Zeit, dass wir uns diesem Titel, der hier bereits seit einiger Zeit darauf wartet, detailliert widmen.

Urlaub am Strand?

Zu guter Letzt ist auch ein Buch aus einem Indie-Verlag auf der Liste zu finden: Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand von Bettina Baltschev, von dem wir, wie wir zu unserer Schande gestehen müssen, noch nichts gehört hatten, obwohl es bereits seit bald einem Jahr draußen ist, nach einem wunderbaren Thema klingt und wir erst kürzlich Camanchaca aus dem Berenberg Verlag mit Begeisterung gelesen haben. So schreibt die Jury etwa: „Ein Buch, das den Blick auf die Welt verändert. So, wie Bettina Baltschev über den Strand schreibt, hat man die Grenze zwischen Meer und Land noch nie wahrgenommen. […] Bettina Baltschev kennt das Idyll. Sie zeigt in ihrem begeisternden Essay den Strand aber auch als Ort von Politik und Geschichte und führt ihre Leserinnen und Leser mit Winston Churchill (‚We shall fight on the beaches …‘) nach Dünkirchen, mit J.D. Salinger am D-Day an den Utah Beach in der Normandie oder beschreibt Not und Elend von Geflüchteten heute am Beach of Refugees von Lesbos.“ Das klingt in der Tat faszinierend und aufweckend.

Feststellen lässt sich wie erwähnt eine thematische Bandbreite, die durchaus spannend ist. Wenn auch natürlich nicht alles abgedeckt werden kann (Psychologie, Queerness, auch dezidiert feministische Themen, etc. fehlen), was einfach mal wertfrei festgestellt werden darf. Im Gegensatz zum letzten Jahr, fehlen auch Titel über das Lesen, was nach der harten Arbeit im vergangenen Frühjahr aber auch in Ordnung ist – winkwink. 

Und die Zugänglichkeit?

Womit wir bei einem anderen Punkt sind: Immer mal wieder begegnen wir der Frage oder dem Argument, dass viele der Preise  – also definitiv und absolut nicht nur der noch junge Sachbuchpreis – vor allem Titel auf der Liste haben, die nicht als niedrigschwellig zu bezeichnen sind. Oder wie die geschätzte Dagmar Eckhardt, die den Blog Geschichtenagentin betreibt, es vor einiger Zeit so passend formulierte: „Klingt für mich alles wie Texte, für die ich Urlaub einreichen müsste.“ 

Ebenfalls im vergangenen Jahr nominiert – und ein sehr zugänglicher Titel

Das ist nicht von der Hand zu weisen (hier bezog sie sich auf die 15 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Titel) und selbst wenn natürlich mit solchen Preisen besondere Leistungen bedacht werden sollen, die nicht selten mit einer gewissen Härte im Anspruch einhergehen, ist es dennoch ein Gedanke, den zu spinnen es wert ist, ob es nicht auch einmal um „Zugänglichkeit“ gehen könnte. Es ist schön, sich ein Buch und dessen Thema zu erarbeiten; es ist aber ebenso fein, komplexe Sachverhalte greifbar wiedergegeben zu finden (passend dazu, die im vergangenen Jahr nominierte Mai Thi Nguyen-Kim, es ginge also) – eine Durchmischung oder gar neue Preise, die dies auf dem Schirm haben, wären wünschenswert.

Ab ins Wettbüro

Nach diesem kleinen Exkurs ins Über-das-Lesen nun zum unserem dritten Punkt, der uns neben dem Preis und einigen erwarteten und gewünschten Titeln noch erfreut: Unsere Sachbuchzuneigung, ja gar Liebe zu diesen erwähnten wir. So passt es in diesem Sinne ganz wunderbar, dass unser Herausgeber, Hans, heute Geburtstag hat und diese Liste als ein kleines Geschenk betrachtet (er muss diesen Text ja auch nur zur Korrektur lesen…).

Fünf der acht nominierten Titel im Office-Arrangement // © the little queer review

Wir sind gespannt, welcher Titel und welche Autorin oder welcher Autor – oder ob gar ein Duo – den Preis am 30. Mai 2022 aus dem Humboldt Forum mit nach Hause nehmen und sich ins Arbeitszimmer oder Bad hängen darf. Und ja, ja, ja, natürlich haben wir bereits eine Vermutung, oder eher, verschiedene. 

Eure queer-reviewer

Hinweis: Mehr Infos zum Sachbuchpreis findet ihr auf der offiziellen Homepage; ebenso findet auch in diesem Jahr das Sachbuchpreis-Bloggen statt – hier gibt es alle der Teilnehmer*innen (letztes Jahr nahm übrigens Petra Wiemann von Elementares Lesen teil, die demnächst eine Gastrezension für uns verfassen wird); hier gibt es Termine und weitere Infos.

PS: Nein es gibt keinen Geburtstagskuchen, aber später Apfel-Rhabarber-Crumble

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