Ein Buch ist ein Buch ist eine Geschichte

Leute, Leute, Leute – gerade erst hatten wir das Osterwochenende, das uns alle völligst und vollkommen in Anspruch genommen hat; gestern war Earth Day (nicht zu verwechseln mit dem Earth Overshoot Day, also dem Erdüberlastungstag, der in diesem Jahr vermutlich in den Mai (!) fällt); morgen ist der Tag des Deutschen Bieres (Cheers); am Montag ist Weltpinguintag (jippie!) und am Dienstag schon der Tag der lesbischen Sichtbarkeit. Es bleibt also kaum Zeit zum Durchatmen und Innehalten zwischen Klimakrise, Biertrinken, Pinguine retten und Sichtbarmachung marginalisierter Menschen. Nur am Donnerstag war für die Britinnen und Briten unter uns der National Tea Day – also ein wenig abwarten und Tee trinken.

Ästhetische Gedanken

Über all dies gibt es natürlich diverse Bücher, was super ist. Natürlich gibt es auch Bücher über Bücher, eines war im vergangen Jahr für den Deutschen Sachuchpreis nominiert, über das Business hinter und in Büchern und über den Buchhandel. Eines dieser Bücher ist von Ursula Töller und trägt den programmatischen Titel: Buchhandel – Da, wo wir Bücher kaufen und ist als Band 15 im Wallstein Verlag in der Reihe Ästhetik des Buches erschienen. 

Nun finden wir zwar auch antizyklisches Lesen und Rezensieren toll, doch dachten wir uns hier, welch besseren Tag gäbe es, unsere Einschätzung zu diesem gehaltvollen, fein ziselierten und gedankenanregenden Band zu veröffentlichen als den heutigen Welttag des Buches, der zum 23. April 1995 von der UNESCO eingerichtet wurde und als „Aktionstag für das Lesen, für Bücher, für die Kultur des geschriebenen Wortes und auch für die Rechte ihrer Autoren“ dienen soll (danke, Wikipedia).

Schwindelerregende Fülle

In der Tat passt das gerade einmal 80 Seiten umfassende, teils wunderbar süffisante Büchlein Ursula Töllers zum diesem Tag wie ein richtig abgestimmtes Lesebändchen zu manch einem fein aufgemachten Buch (auch hier finden wir reichlich passend gesetzte Abbildungen). Denn auch wenn es Buchhandel heißt, deckt es einiges mehr ab: Im ersten, dreißig Seiten umfassende Kapitel schafft Töller nicht weniger, als kurz einmal auf die Geschichte von Wort und Schrift im Römischen Reich, das Verschwinden selbiger hinter Klostermauern, erste Papiermühlen und Lesesteine, einen gewissen Herrn Johannes Gutenberg und so weiter und so fort zu schauen.

Da wird’s uns ob der gut sortierten Fülle auch mal kurz schwindelig, ganz ohne dass wir schon im Vorfeld auf den Tag des Deutschen Bieres angestoßen hätten. Im selben Kapitel erläutert sie kurz die Geschichte des entstehenden, sehr regionalisierten Vertriebsnetzes für Bücher (Hallo, Reformation!) und wie dies zum Kommissionshandel führte, den Einfluss des Dreißigjährigen Kriegs oder warum zu Beginn des 18. Jahrhunderts kaum noch ausländische Titel auf der Messe in Frankfurt zu finden waren.

Ugh! Geistige Freiheit

Schließlich wird im Grunde ausgeführt, wie ein komplett neuer Geschäftszweig aufgebaut wurde: Der Buchhandel, der anfangs nicht nur hohe Zugangsbarrieren hatte (teuer und eher für das Bürgertum), sondern auch sehr skeptisch von Adel und Klerus beäugt wurde – aufklärerische und emanzipatorische Gedanken und all dieser Horror! 

„Das frühaufklärerische Publikum grenzt sich vom höfischen Geschmack ab und entdeckt den Roman als erzählende Gattung. Der Roman bleibt fortan die beliebteste literarische Form des bürgerlichen Lesepublikums. In ihm werden die Themen der Zeit diskutiert und mit den literarischen Figuren neue Lebensentwürfe projektiert. Lange und nicht selten ist die Handlung des Romans der Wirklichkeit um einige Jahre voraus.“

Ursula Töller, Buchhandel, S. 21

Manches ändert sich nicht so schnell, was? Jedenfalls haben in dieser Zeit die Buchhändler noch einen großen Einfluss auf das Publikum, können es quasi erziehen. Hier stellt Töller an späterer Stelle fest, dass dieser Einfluss immer stärker schwand (und schließlich durch große Ketten ohne konkrete thematische Sortierung sowieso zumindest dort obsolet wurde) und nie wieder so richtig zurückkehrte. Das ist natürlich auf der einen Seite zu begrüßen, denn ein wenig Selbstständigkeit darf dem Publikum sowohl zugetraut als auch zugemutet werden.

Nicht ohne Widerspruch

Zudem würden wir dem entgegenhalten wollen, dass sich, wie Töller es auch zum Ende bedenkt, Sortimentsbuchhandlungen und spezialisierte, sehr persönliche Läden zuletzt wieder stärker durchsetzten. Und hier kommen sowohl eine gewisse Lenkung des Publikums als auch eine durch dieses zusammen, da ergibt sich im Idealfall eine Art symbiotische Beziehung, wie es beispielsweise auch Beate Klemm, Inhaberin von lesen und lesen lassen in Berlin, beschreibt

Auch widersprechen möchten wir der Vermutung Töllers, dass, gerade mit Blick auf Bibliotheken und digitalisierte Buchbestände, einziger Grund für einen privaten Erwerb von Büchern jener wäre, dass sich diese nicht in den Bibliotheksbeständen befänden. Das blendet doch Liebhaber:innen von Büchern, dem Geruch, der Haptik, dem Gefühl beim Umblättern einer Seite, beim Immer-Mal-Zur-Hand-Nehmen und derlei aus. Ein Gedanke der auch im Widerspruch zu ihrem Einstieg, wie beliebt Bildbände über Buchhandlungen (und Bibliotheken) sind, zu stehen scheint. 

Klagen, Brände und Boykotte

Doch sind wir ihr für diese Momente und Gründe zum Widerspruch dankbar, denn was gibt es Schöneres als über Gelesenes nachdenken und bestenfalls disputieren zu können? Debatte mochte auch die frauenliebende Margaret Anderson, die in ihrer Literatur-Zeitschrift The Little Review (merkt ihr was?) Auszüge vom noch unveröffentlichten Ulysses von James Joyce abdruckt, was in den USA eine Anklage wegen Verbreitung von Pornographie nach sich zieht. 

Überhaupt geht es in Buchhandel ausführlich um Zensur – das zweite Kapitel lautet auch so – und auch welch willfähriger Helfer der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hierbei war. Nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus und der Bücherverbrennungen, sondern auch in der Zeit, der noch jungen Bundesrepublik in Westdeutschland, als etwa Exilautoren wie Lion Feuchtwanger boykottiert werden sollten. Auch greift sie hier sehr spannend die wechselvolle Geschichte mancher Verlage auf, ebenso die Entschlussfindungen aus der nun bestehenden DDR in den Westen zu wechseln (lange Zeit war der nun von den Sowjets kontrollierte Teil Deutschlands verlegerisch und inhaltlich weit solider und breiter aufgestellt, was wiederum mehrere Jahrhunderte zurückreichte).

Überdruss und Koketterie

So erfahren wir wirklich viel über die … nennen wir es mal Befindlichkeiten deutscher Verleger:innen und deren Stellungskriege (legendär die „Nacht der langen Messer“ bei Suhrkamp unter Siegfried Unseld), die nicht selten einigermaßen konträr zu denen der Autorinnen und Autoren standen (sonst würden wir wohl auch nicht so gierig diverse Briefwechsel lesen, was?). Spannend an Buchhandel ist, dass auch wenn die Kapitel (BuchhandlungenZensurVerlegerAutorenAbschweifungen) thematisch unterteilt sind, Ursula Töller Querverbindungen schlägt, die sich zwar naturgemäß ergeben und doch im Sinne einer Aufzählung ignoriert werden könnten, was dieses Buch sehr, sehr abgerundet sein lässt.

Bevor sie abschweift, entlässt sie uns mit den Einlassungen diverser Schreibender zu Gedanken an ihre Buchhändlerinnen und Buchhändler, die den Eindruck erweckten, das Übermaß an Büchern würde zu einem Überdruss führen, vermutlich, so Töller, gesteigert dadurch, „selbst ein Bestandteil geworden zu sein.“ Wir wollen an dieser Stelle noch die wohl nicht allzu abwegige Vermutung oder Unterstellung ergänzen, dass dazu noch eine gewisse Koketterie mit dem eigenen Image Künstlerin und Künstler (sie zitiert nur Autoren) zu sein, sowie jene, sich von eben diesem nicht vereinnahmen lassen zu wollen, mitspielen mag. 

Also: lesen wir

Das Abschweifen haben wir dann zu Notting Hill und dem Buchladen der Florence Green – es freut, dass Töller hier noch filmische Narrative zu Buchhandlungen, Büchern und Co. aufgreift, gar so sehr, dass wir uns fragen, warum sie nicht schon früher einen Bogen schlug (ja, ja, dann könnte der Teil nicht „Abschweifungen“ heißen). Sie spricht hier Spannendes an, das gern an anderer Stelle vertieft werden dürfte.

Nun sind wir am Ende von Ursula Töllers Buchhandel, einem großen, kompakten Ritt, der nicht nur dazu verführt, noch mehr und bewusster zu lesen, sondern auch dazu, sich weiter in die Geschichte von Verlagen, in die Zusammenhänge von Geschäft und Kreativität, Kunst und Kommerz zu vertiefen – denn ob unabhängiger aka Indie-Verlag oder nicht: Ohne Finanzierung nützt der beste Wunsch nach Freiheit, weder verlegerischer noch schreibender, nichts. 

So schließen wir frei nach Jürgen Kaube oder auch Insa Wilke: Lest mehr – andere – Bücher. 

AS

PS: Auch zu Sachbüchern und deren wachsender Beliebtheit finden sich Ausführungen wie auch dazu, wie komplex es anfangs war, verlässliche Bestsellerlisten aufzustellen. 

PPS: Nicht ganz nachvollziehbar scheint der Gedanke, wieso verlegerischer Anspruch und demokratische Verhältnisse im Verlag einander ausschließen müssten. Wenn das natürlich auch von Verlag zu Verlag anders sein kann (hier wieder Unseld und Suhrkamp).

PPPS: Ursula Töller bringt im Vorwort einige sehr spannende Gedanken zum Deutschen Buchhandlungspreis auf, wie jenen, dass Wirtschaftsunternehmen eben keine subventionierten Kultureinrichtungen seien. 

PPPPS: Der Rezensent bleibt dabei: Günter Grass war ein furchtbarer Mensch, ein überschätzter Autor ohnehin und es sagt einiges über unsere Befindlichkeiten, dass wir einen undankbaren, antiamerikanischen Autoren, der seine teils geschichtsrevisionistischen Ansichten als persönlichen Reifeprozess verpackt hat, auf einen Schild heben (vgl. dazu unter anderem S. 56 f.).

PPPPPS: Musik, die sich ganz wunderbar während der Lektüre hören lässt ist, übrigens der Soundtrack zu Napoleon: In the Name of Art von Remo Anzovino.

Ursula Töller: Buchhandel – Da, wo wir Bücher kaufen; September 2021; englische Broschur; 80 Seiten, 22 Abbildungen; ISBN: 978-3-8353-5083-0; Wallstein Verlag; 14,90 €

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