„Es fordert und schmiegt sich nicht an“

Beitragsbild: Preisträger Ewald Frie mit elf Geschwistern // © Daniel Müller

128 Verlage. 206 eingereichte Titel. Nur acht können nominiert werden. Nur ein Titel wird gewinnen. Sieben unterschiedliche Menschen entscheiden über Sieg oder Niederlage. Leben oder Tod. Oder noch krasser: Kaufen oder Stehenlassen. Können diese sieben Personen – Julika Griem (Kulturwissenschaftliches Institut Essen), Stefan Koldehoff (Deutschlandfunk), Michael Lemling (Buchhandlung Lehmkuhl), Markus Rex (Alfred-Wegener-Institut), Jeanne Rubner (Jurysprecherin, Technische Universität München), Adam Soboczynski (Die ZEIT) und Mirjam Zadoff (NS-Dokumentationszentrum München) – trotz unterschiedlicher Hintergründe, Sozialisationen und Expertisen es schaffen, ein konstruktives Miteinander zu finden, wenn es um die eine, alles entscheidende, große, den Verlauf der Welt und die Menschheit definierende Frage geht:

Die Anmaßung eines Urteils

Wer wird König oder Königin der Sachbuchlobpreisung 2023?!?!! Wer also wird Preisträger*in des Deutschen Sachbuchpreises 2023, der am 1. Juni 2023 in der Hamburger Elbphilharmonie verliehen wurde.

Spoiler Alert: In der Jury gab es wohl weder Hauen und Stechen noch andersartig mit Härte ausgekabbelte Differenzen. Wenn Jurysprecherin Jeanne Rubner im Gespräch mit der durch den Abend führenden Katja Gasser auch anmerkte, dass es vor allem in einem Punkt „Konflikte“ gegeben habe. Nämlich jenem, ob ein gutes Sachbuch neben Fragestellungen und Darstellungen von Problemfeldern auch Lösungsansätze und/oder -optionen bieten sollte. Hier unterschieden sich die Ansichten der naturwissenschaftlichen Jurymitglieder wohl von jenen der geistes- und gesellschaftswissenschaftlich geprägten.

Die Jury, v. l. n. r.: Jurysprecherin Dr. Jeanne Rubner, Michael Lemling, Stefan Koldehoff, Dr. Adam Soboczynski, Dr. Mirjam Zadoff, Prof. Dr. Julika Griem, Prof. Dr. Markus Rex // Foto: © vtnr.media

Ebenso geht es beim Deutschen Sachbuchpreis, auch im dritten Jahr, nicht um Leben oder Tod. Brot und Spiele, das war einmal (außer in Bayern, bei der CSU, aber zu Markus Söder mehr an anderer Stelle). Womöglich gibt es das noch in Russland, der nominierte Martin Schulze Wessel wird es sicherlich wissen. Da wir es aber beim Deutschen Sachbuchpreis nicht mit einer Autor*innen-Casting-Show zu tun haben, wie es etwa bei den Are You The One? ähnlichen Tagen der deutschen Literatur der Fall ist, und es hier nicht primär um Selbstdarstellung, Gefälligkeit und das publikumswirksame Abfeiern von inquisitorischen Hinrichtungstendenzen geht, lief und läuft das alles ganz gesittet ab.

Mit einer durchaus selbstreflektiererten Erhabenheit der Jurymitglieder. Wenn es etwa um die große Vielfalt von Titeln geht und Mirjam Zadoff im hotten Trailer zur Preisverleihung sagt: „[d]a seh ich uns als Jury auch ein bisschen als Vertreter*innen danach zu schauen: Was bewegt die Menschen.“ Oder Stefan Koldehoff, dass man sich anmaße über Bücher zu entscheiden, an denen Menschen jahrelang gearbeitet haben „und wir lesen diese Bücher und sind dann quasi Richter. Aber auch Richter ist ja letztlich ein ehrenwerter Beruf.“ Was das wohl sagen will: Wir wissen um unsere Verantwortung und machen es uns nicht leicht. Letztlich. Sind aber auch recht cool. Letztlich.

„Ein gutes Sachbuch…“

„…zeichnet sich durch eine hohe Zugänglichkeit aus. Es muss das Potenzial haben, einen breiten Leserkreis anzusprechen. Ansonsten ist es eher ein Fachbuch“, sagt Markus Rex im selben Einspieler. Und da lässt sich in der Tat ein Unterschied zu den in den vorvergangenen Jahren nominierten Titeln ausmachen: Wenn auch 2023 kein sonderlich populärwissenschaftlich geprägtes Buch am Start ist/war, so fand sich eben auch kein verkopft-verranter Jürgen Kaube über Hegel, kein verklausulierter (und dezent ins eigene Schreiben verliebter) Maar über deutsche Literatur oder ein zwar schmissiger, aber doch sehr spezieller Ludwig Huber über das rationale Tier, gleichzeitig aber dennoch ein sehr anspruchsvoller und bereits erwähnter Martin Schulze Wessel über die Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine, den wir als Patenbuch lesen durften.

Dessen unbenommen war die Liste der Acht vielfältig und inhaltlich durchaus herausfordernd. Auf Titel wie Judith Kohlenbergers Das Fluchtparadox muss mensch sich auch einlassen und für eine gewinnbringende Lektüre vollends konzentriert sein – das Buch fordert den Leser*innen einiges ab und ist ohne ein gewisses Vorwissen kaum zu erfassen. Ähnlich und doch anders sieht es mit Meron Mendels Titel aus, der weit essayistischer und persönlicher geprägt ist. Auch hier schadet es allerdings nicht, sich schon einmal mit der so genannten Israeldebatte aka sehr besonderen „Israelkritik“ befasst zu haben, gleichwohl sein Buch auch als Einladung verstanden werden kann, sich weiter mit der Thematik zu beschäftigen.

Die Nominierten mit ihren Titeln, v. l. n. r.: Hanno Sauer, Omri Boehm, Teresa Bücker, Elisabeth Wellershaus, Martin Schulze Wessel, Ewald Frie, Judith Kohlenberger // Foto: © the little queer review

Alle_Zeit von Teresa Bücker erfüllt stark den von Börsenverein-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs geäußerten Anspruch an den Preis als wichtiger Plattform für die Themen der Zeit. Das mag nun erstmal nach einem Allgemeinplatz klingen. Ist es aber nicht, wenn wir uns anschauen, welche Titel nominiert waren – auch in den vergangenen Jahren. Die Listen unterscheiden sich – siehe oben – stark. In diesem Jahr jedenfalls war es deutlich, dass die aktuellen Befindlichkeiten in Deutschland, Europa und der Welt und die Versuche diese unter Einbeziehung verschiedener Perspektiven zu verstehen, im Fokus stehen respektive standen.

Der Kompromiss und seine Geschwister

Wenn Jeanne Rubner im Gespräch mit Katja Gasser weiters davon spricht, dass gute Sachbücher auch dadurch definiert sind bzw. sein sollten, nicht nur die eigene Bubble anzusprechen, geben wir ihr nur recht. Auch uns scheint das an der einen oder anderen Stelle ein Problem zu sein. Eines allerdings, das nicht ausschließlich an den Autor*innen, sondern gern auch an der Vermarktung der Verlage liegen mag. Bespielen diese doch gern (und dennoch nicht immer zielführend) eine als erreichbar gefühlte Klientel – und nur diese. Was manchen Titel sicherlich einseitiger erscheinen lässt, als er das eigentlich sein mag – und manch tunnelblickiger Person im jeweiligen Verlag im Geiste einer Self-Fulfilling Prophecy recht zu geben erscheinen vermag. (Gleiches gilt im Übrigen ebenso für Belletristik.)

Blick aus der Elphi // Foto: © the little queer review

Am Ende darf jedenfalls Ewald Frie sich ausgezeichnet ausgezeichnet fühlen. Sein Ein Hof und elf Geschwister war wohl das Ergebnis dieses Gedankens von Adam Soboczynski (der übrigens mit seinem aktuellen Titel Traumland. Der Westen, der Osten und ich für den NDR Sachbuchpreis nominiert ist), nach dem es darum ginge, zu einer Auswahl zu kommen: „und es geht um Kompromisse bei so einer Jury.“ Der Preisträger war sichtlich ergriffen und überrascht, was im Video der Preisverleihung schön (an)zusehen ist. Ebenso gut zu sehen ist das ungläubige Kopfschütteln anderer im Saal anwesender Personen.

Karin Schmidt-Friderichs übergibt Preisträger Ewald Frie die Urkunde // Foto: © the little queer review

Aber so ist das wohl bei jedem Preis und jeder Vergabe, jedem Gewinn und jedem Verlust: Gönnen können oder nicht. Unser Herausgeber wird das Buch in Kürze lesen. Wenn es auch nur im Ansatz an die sehr feine Rede Ewald Fries herankommt, ist es schön, dass ein so vermeintlich nischiges aber womöglich doch die Belange der Gegenwart – die auch in Auf- und Verabeitung der Vergangenheit bestehen (erneut: schaut auf die derzeit gefeierten belletristischen Titel – primär geht‘s um „Wie-Komme-Ich-Damit-Klar-Dass-Ich-Nicht-Die-Erste-Person-Meiner-Familie-Bin“-Nummern) – aufnehmendes Buch, hier Aufmerksamkeit erfährt und wir auf Wolke zwei schweben können.

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PS: Katja Gasser greift in ihrer Moderation eine während ihrer Einführung getroffene, persönliche Anmerkung Karin Schmidt-Friderichs auf, in der diese meinte, dass es beim Deutschen Sachbuchpreis nicht nur um Fragen ginge, die derzeit in aller Munde seien, sondern auch „derjenigen, die es verdienen, dass ich mich, dass wir uns damit beschäftigen.“

Moderatorin des Abends: Katja Gasser // Foto: © the little queer review

Gasser nun: Dass bedeute, der Deutsche Sachbuchpreis schürfe nicht nur an der Oberfläche, spiegele nicht nur Marktdynamiken und ließe sich von der Dummheit der Zeit nicht verleiten. (Wieso dachten wir hier nur durchweg an bspw. den Titel der Ignoranz-Leichtigkeits-Beförderer Precht/Welzer?!) Und schließt mit diesen Worten, die es gern als Bonmot in die Geschichte von (Buch-)Preisverleihungen schaffen darf:

„Und jede Dummeheit – und jede Zeit hat ihre Dummheit –, und jede Dummheit korrumpiert wie wir wissen.“

PPS: Die Zweite Bürgermeisterin Katarina Fegebank hat auch gesprochen. Hamburg ist gut, die Elphi toll, kommen Sie und kommt alle wieder. Hamburg kann alles. So wie es sich eben gehört. Die Häppchen waren trocken, sagen wir. Das Nebenher muss ja auch begeistern.

Herausgeber Hans mit Fischbrötchen 9 von 328 // Foto: © the little queer review

PPPS: Apropos: Wir haben über den Preis hinaus ein paar Tage in der Hansestadt verbracht und haben manches erlebt (und Fischbrötchen gegessen). Da gibt es zeitnah noch was zu lesen…

PPPPS: …apropos was zu lesen: Ihr habt sicher auf unsere Kaffeesatzleserei zum Deutschen Buchpreis 2023 gewartet – warum diese 2023 ausfiel, lest ihr in Bälde einen Text bei uns.

PPPPPS: Zu guter Letzt ein UPDATE – seit dem 25. September 2023 läuft die Ausschreibung für den Sachbuchpreis 2024 (Verleihung am 11. Juni 2024).

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