„Die ganze Wahrheit ist noch viel schrecklicher.“

„Komm her zu mir, du freier Mensch, der das Glück hatte, nicht in die Hände dieser abscheulichen, kultivierten, zweibeinigen Tiere geraten zu sein. Ich erzähle dir mit welch raffinierten, sadistischen Methoden sie Millionen von Menschen eines einsamen, hilflosen Volkes, des Volkes Israel, das von niemandem Hilfe bekommen hat, zugrunde gerichtet haben.“

Salmen Gradowski, geboren zwischen 1908 und 1910 in Suwałki, Polen, ermordet in Auschwitz-Birkenau; aus dem Hörspiel

Heute vor 77 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das mittlerweile zu einem Symbol für den Holocaust gewordene Lager Auschwitz. Die Zahl der in Auschwitz Ermordeten beläuft sich, da viele Häftlingsunterlagen verschollen sind und nicht wenige Opfer gar nicht registriert waren, auf Grundlage von Schätzungen auf etwa 1,1 bis 1,5 Millionen Menschen. Bevor die vorrangig jüdischen Opfer „ins Gas geschickt“ wurden, galt es sie vorzubereiten, anschließend auszuplündern und schließlich die Leichen zu verbrennen und die Asche zu beseitigen.

„Wir hatten uns restlos vergessen.“

„Wenn ihr so wollt, ist es eine Hölle. Doch ist die Hölle von Dante unwahrscheinlich lächerlich im Vergleich zur echten Hölle hier. Und wir sind Augenzeugen, die nicht überleben dürfen.“

Herman Strassfogel, geboren 1895 in Warschau, Polen, ermordet in Auschwitz-Birkenau; aus dem Hörspiel

Diese Arbeiten wurden im KZ Auschwitz-Birkenau vom jüdischen Sonderkommando Auschwitz unter Zwang erledigt, sollten die Hände der SS-Leute doch möglichst sauber und ihre Psyche unbelastet bleiben. Die Angehörigen des Sonderkommandos wiederum wurden nach einiger Zeit als Zeugen des Massenmords erschossen und durch neue Häftlinge ersetzt. Umso erstaunlicher ist es, dass schriftliche Zeugnisse einzelner Mitglieder des Sonderkommandos für die Nachwelt erhalten geblieben sind. Die meisten von ihnen, in Flaschen in der Erde vergraben, wurden nicht selten durch Zufall entdeckt.

Neun dieser schriftlichen Zeugnisse in Form von Briefen, Notizen und Tagebucheinträgen hat der russische Kulturgeograph und Historiker Pavel Polian bereits im Jahr 2019 unter dem Titel Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz. bei wbg Theiss veröffentlicht. Nun sind Teile davon als dokumentarisches Hörspiel, als mahnendes Tondokument, bei Der Audio Verlag erschienen. 

„Ethik und Moral, das alles steigt hier wie das Leben ins Grab hinab.“

„Normale Menschen, mit normalen menschlichen Zügen. Keine Verbrecher, keine Mörder, sondern Menschen mit Herz, mit Gefühl und Bewusstsein. An all diese Dinge haben sie sich gewöhnt. An diese Arbeit. Aber nicht sie sind schuld daran. Die allerersten von uns machten sich gleich in der ersten Nacht an die Arbeit. Es wurde ihnen nur gesagt, dass die Arbeit schwer ist. Niemand von ihnen wusste etwas, weil das alte Kommando das dort arbeitete, am selben Tag ermordet wurde.“

aus dem Hörspiel

Der Journalist, Autor, Musiker und Komponist Andreas Weiser hat einige der Aufzeichnungen wie eine chronologisch und thematisch überlappende Collage mit zurückhaltender und doch eindringlicher Musik und sparsamen, aber erschreckend wirksamen Effekten vertont. Dabei neigen er und die Sprecher:innen Wolfram Koch, Robert Gallinowski, Martin Engler, Tonio Arango, Patrick Güldenberg, Matthias Bundschuh und Nina Ernst jedoch keinesfalls zur Überinszenierung. 

Das Hörspiel Briefe aus der Hölle ist kein effektheischender Mitleidsporno, keine Kunst auf dem Rücken der Opfer, sondern rahmt beim allem Schrecken und aller formulierten Grausamkeit das Wiedergegebene in einen stimmigen und auch einfühlsamen Kontext ein. Unschön und schwer zu ertragen ist es aber allemal – gut so. Beschreibungen von den Deportationen, dem Ankommen und den Ankommenden, dem Begreifen und Erfassen des Ausmaßes, den Vorbereitungen und dem Ausplündern, dem Verbrennen – all das ist sehr unmittelbar.

„Im Abfalleimer des Gedächtnisses werden sie nicht herumkramen wollen.“

Dabei wechselt die Tonalität jedoch an mancher Stelle: Einige der Zeugen beschreiben sachlich, andere kleiden ihre Worte in einen erzählenden, manches Mal fast lyrischen Ton. Selbst unter diesen verheerenden Umständen ist Menschlichkeit geblieben. Und der unbedingte Wille, all dies nicht ohne Zeugnisse geschehen sein zu lassen. So geben manche der Aufzeichnungen auch wieder, welcher Widerstand noch kurz vor dem gewissen Tod geleistet wurde.

„Ihr verfluchten Dreckskerle, ihr starrt mich an mit eurem lechzenden, bestialischen Blick. Ihr sättigt euch an meiner Nacktheit. Ja, es sind glückliche Zeiten für euch. In Friedenszeiten konntet ihr davon nicht mal träumen. Ihr Kriminellen und Verbrecher. Endlich habt ihr den Ort gefunden, wo ihr euren abartigen Durst stillen könnt. Doch es bleibt nicht mehr viel Zeit, das zu genießen. Euer Spiel ist schon bald aus. Alle Juden könnt ihr nicht töten. Alles werdet ihr büßen.“

Eine junge, hellhaarige Frau; aus dem Hörspiel

Briefe aus der Hölle schließt mit eindrücklichen Schilderungen wider dem Vergessen, geschrieben von Menschen, wissend, dass das Erinnern nicht nur schwerfallen, sondern womöglich gar unerwünscht sein wird. In den Aufzeichnungen finden sich Anweisungen, wo weitere vergraben sind; die Gewissheit des Todes wird angenommen, schwerer wiegt es, dass es keine persönliche Rache der Häftlinge geben kann. 

Die knapp einhundert Minuten der Briefe aus der Hölle sind bedrückend und wichtig, unheimlich und vermittelnd. Machen sie doch auch klar, dass es für die Häftlinge, die gezwungen worden sind, im Sonderkommando Auschwitz zu arbeiten, nicht etwa darum ging, ihr Leben zu verlängern oder gar zu retten. Ganz im Gegenteil leisteten sie durch ihre Aufzeichnungen Widerstand.

AS

PS: Das Hörspiel ist auf der Longlist der Nominierungsjury für den Deutschen Hörbuchpreis 2023.

Hinweis: Die Überschrift und Zwischenüberschriften sind ebenfalls dem Hörspiel entnommen. 

Pavel Polian (Hg.): Briefe aus der Hölle. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz; Hörspiel von Andreas Weiser; Sprecher:innen: Wolfram Koch, Robert Gallinowski, Martin Engler, Tonio Arango, Patrick Güldenberg, Matthias Bundschuh und Nina Ernst; 2 CDs, 98 Minuten; ISBN: 978-3-7424-2306-1; Der Audio Verlag; ca. 18,00 €; als CD und Download

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert