Erstmalig: Gedenkstunde im Bundestag für LSBTIQ*-Opfer des Nazi-Regimes

Seit 1996 gedenkt der Deutsche Bundestag am 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus. Der Tag ist nicht blind gewählt: Es ist der Tag, an dem die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit worden sind. Am „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ wird jährlich nicht nur an dieses Ereignis erinnert, sondern auch an verschiedene Opfer beziehungsweise Opfergruppen des nationalsozialistischen Regimes. So, neben natürlich jüdischen Menschen, unter anderem Rom*nja und Sinti*zze oder Personen mit Behinderung. Nicht gedacht wurde bisher Personen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung wurden.

Beendigung viel zu langer Ignoranz

Dieses Versäumnis wird nun zum morgigen 27. Gedenktag seit 1996 ausgeräumt. Oder kurz: Erstmals wird derMenschen der LSBTQI*-Community gedacht. Sprechen werden neben Bundestagspräsidenten Bärbel Bas (SPD) die Holocaust-Überlebende Rozette Kats, Klaus Schirdewahn, als Vertreter der queeren Community, Schauspieler Jannik Schümann und die Schauspielerin Maren Kroymann, die Texte über zwei Opfer vortragen werden (mehr zum Ablauf unten). 

Verfolgt wurden LSBTIQ* auf Grundlage des Paragrafen 175 RStGB (Reichsstrafgesetzbuch), speziell durch den unter den Nazis verschärften § 175a. Dieser blieb auch im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik bestehen und wurde erst 1969 erstmalig entschärft; abgeschafft gar erst 1994. In diesem Zeitverlauf erscheint es beinahe folgerichtig, dass es bald dreißig Jahre brauchte, bis die Parlamentarier des Bundestages und Gäste erstmals dieser Menschen- und Opfergruppe gedenken. Dazu der Queer-Beauftrage der Deutschen Bundesregierung, der Grünen-Politiker Sven Lehmann

„Die Gedenkstunde im Bundestag beendet eine schmerzhafte, viel zu lange Ignoranz von erlittenem Leid und holt die queeren Opfer in das kollektive Gedächtnis. Jahrzehntelang wurde der grausamen Verfolgung und den furchtbaren Erlebnissen von LSBTIQ* während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft mit vollkommener Gleichgültigkeit begegnet, oftmals sogar mit ausdrücklicher Billigung. Sie galten nicht als ‚würdige‘ Opfer, noch nicht einmal als Opfer. Ihre Geschichte wurde viel zu lange in der Forschung, der Aufarbeitung und der Erinnerung missachtet. Die Gedenkstunde im Bundestag ist daher eine längst überfällige Anerkennung massiven Unrechts, das weit über 1945 hinausging.“

Leerstellen im Geschichtsbewusstsein

Auch der Sprecher für LSBTI der FDP-Fraktion im Bundestag, Jürgen Lenders, meint: „Den Homosexuellen im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland ist schweres Unrecht widerfahren. Unsere Erinnerungskultur hat sich lange auf andere Opfergruppen fokussiert. Hass und Diskriminierung hatten nicht nur im Nationalsozialismus schlimme Folgen, sie sind eine Bedrohung für unsere liberale freiheitliche Gesellschaft. Die Geschichte mahnt uns und zeigt, wozu Hass und Hetze führen.“ 

Jan Plobner, stellvertretender queerpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, beurteilt dies ähnlich: „Kaum eine andere Opfergruppe wurde so stark und mit so erschreckender Kontinuität aus der kollektiven Erinnerung getilgt wie queere Menschen. Dass queere Menschen als einzige Opfergruppe des Nationalsozialismus bis heute noch nicht unter den besonderen Schutz des Artikel 3 Grundgesetz gestellt sind, spricht für sich. […] Konsequent wäre es jetzt aber, dass wir in diesem Jahr auch die Ergänzung von Artikel 3 verabschieden können – und dabei sowohl die sexuelle Orientierung eines Menschen als auch dessen Geschlechtsidentität berücksichtigen.“ So sollten auch CDU/CSU ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und eben dieser Ergänzung zustimmen, meint der Bundestagsabgeordnete.

Teil der offiziellen Gedenkstunde, die um 10:00 Uhr im Bundestag beginnt, sind auch Vertreter*innen des Bundesverband Trans e. V. (BVT*). In einer Pressemitteilung weist BVT*-Vorständin und unsere Gastautorin Nora Eckert auch auf ein erweitertes historisches Versäumnis hin, wenn: „78 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur, erstmalig der queeren Opfer des Nationalsozialismus unter Einbeziehung von trans* Personen gedacht wird, macht das deutlich, welche Leerstellen unser Geschichtsbewusstsein aufweist. Es ist an der Zeit, die Verfolgungsgeschichte von trans*, inter und nicht-binären Personen historisch aufzuarbeiten.“

Forschung ausbauen, Diskriminierung abbauen

Sven Lehmann bedankt sich in diesem Sinne auch ausdrücklich bei „der Community und Historiker*innen, die sich seit Jahren für diese Gedenkstunde am 27. Januar und für die Aufarbeitung eingesetzt haben“ und hält weiters fest, dass die „Verfolgung homo- und bisexueller Männer und Frauen, insbesondere in der NS-Zeit, aber auch ihre Kontinuität in der Bundesrepublik und der DDR, sind nicht ausreichend erforscht“ seien. Ebenso, dass es, beinahe anknüpfend an Nora Eckert, kaum Forschung zur Geschichte von trans- und intergeschlechtlichen Menschen gebe.

Trans* Personen sind Teil der Gesellschaft und ein Teil ihrer Geschichte. Diese Geschichte sollte endlich für alle sichtbar sein. Geschichtsbewusstsein ist auch wichtig, um unsere aktuellen Kämpfe um Anerkennung richtig zu verstehen“, so Nora Eckert weiter. Auch trans* Personen wurden „selbstverständlich“ nach der NS-Zeit weiter verfolgt und diskriminiert. Exemplarisch für eine gesetzlich verankerte Diskriminierung und Pathologisierung steht das 1980 eingeführte so genannte Transsexuellengesetz (TSG). Dieses enthielt lange den Zwang, sich bei einer Personenstandsänderung fortpflanzungsunfähig machen zu lassen. Eine Forderung, die an die Sterilisierungen in der Zeit des Nationalsozialismus erinnert, wie nicht nur der BVT* festhalten möchte.

Sichtbarmachen — nicht nur am Gedenktag

Das Bundesverfassungsgericht setzte diese Anwendung erst 2011 aus; wie das TSG in den vergangenen Jahren überhaupt in weiten Teilen gekippt wurde. Seit geraumer Zeit soll es durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden. Dieses umzusetzen ist ebenso Ziel des Aktionsplans „Queer leben“ der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP wie auch die Aufarbeitung der Geschichte von LSBTIQ* in Deutschland. Dies sieht Sven Lehman, der als Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt maßgeblich am Aktionsplan und dessen Umsetzung beteiligt ist, genau wie das Sichtbarmachen von Lebens- und Leidensgeschichten, als wichtiges politisches Zeichen.

Als solch ein wichtiges Zeichen des Sichtbarmachens darf nun auch die morgige Gedenkstunde gelten. Nach der Eröffnung durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas um 10:00 Uhr wird die 1942 in eine jüdische Familie geborene Rozette Kats sprechen. Sie überlebte die NS-Diktatur bei einem Ehepaar in Amsterdam, das sie als ihr eigenes Kind ausgab. Ihre leiblichen Eltern wurden in Auschwitz ermordet. Erst später nahm Kats ihre wahre jüdische Identität an. 

Ergreifende und erschütternde Biografien

Nach dieser liest Schauspieler Jannik Schümann einen Text über Karl Gorath (1912-2003), der als schwuler Mann die nationalsozialistische Gewaltherrschaft überlebte und auch im im Querverlag erschienen Buch Erinnern in Auschwitz auch an sexuelle Minderheiten mehrmals Erwähnung findet (das Buch wurde u. a. vom Historiker Dr. Lutz van Dijk herausgegeben, der Initiator der Petition zum Gedenken an queere Opfer der NS-Zeit im Deutschen Bundestag war). 

Die Schauspielerin Maren Kroymann trägt die Biografie der lesbischen Jüdin Mary Pünjer (1904-1942) vor. Die in einer Hamburger Kaufmannsfamilie geborene, verheiratete Frau war im Jahr 1940 unter dem Vorwand der „Asozialität“ als „Lesbierin“ verhaftet worden. Interniert wurde sie im Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie 1942 für die Mordaktion „Aktion 14f13“ selektiert und im Frühjahr desselben Jahres in der „Euthanasie“-Anstalt Bernburg an der Saale ermordet wurde.

Im Anschluss an diese Vorträge wird Klaus Schirdewahn das Wort ergreifen. Er, der selbst 1964 nach Paragraf 175 verhaftet worden war, spricht im Parlament über die Bedeutung des Gedenkens an die im Nationalsozialismus verfolgten sexuellen Minderheiten. Musikalisch begleitet wird die Gedenkstunde von der Sängerin Sängerin Georgette Dee und dem Pianisten Tobias Bartholmeß. Mehr Informationen dazu findet ihr auf bundestag.de, wo das Gedenken auch live übertragen wird.

Um 12:00 Uhr findet noch ein Stilles Gedenken samt Kranzniederlegung am Denkmal für die zur NS-Zeit verfolgten Homosexuellen im Berliner Tiergarten statt.

QR

PS: Nora Eckert, die neben diversen anderen Veranstaltungen im Rahmen des Gedenktages, auch an der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag teilnimmt, wird im Anschluss einen Kommentar dazu bei uns veröffentlichen.

PPS: Im Bundestag wird heute Abend (26.1.2023, ca. 18:45 Uhr) über den Antrag der Fraktion DIE LINKE: „Die ‚vergessenen‘ queeren Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ beraten. Auch dies kann live verfolgt werden.

PPPS: Auf unseren Social-Media-Kanälen findet ihr morgen diverse Buch- und Filmtips zu Thema.

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