„Sie müssen es mit ihrem Gewissen vereinbaren“

Diese Worte, die hier Überschrift geworden sind, stammen aus einem flammenden Appell, einer dringlichen Warnung, einer mahnenden Ansprache, die der Präsident der Ukraine Wolodymyr Selenskyj am 19. Februar 2022 an seine Zuhörerschaft auf der 59. Münchener Sicherheitskonferenz richtete. Er beschrieb seinen Besuch an der so genannten Demarkationslinie im Donbass, die formell „die Ukraine von den vorübergehend besetzten Gebieten“ trennt. In Wirklichkeit sei dies jedoch eine Grenze zwischen Krieg und Frieden. 

Er erinnerte und warnte, dass Appeasement Leben koste. Er sprach vom EU– und NATO-Beitritt; beklagte, dass Antworten auf Fragen zu Beitrittsperspektiven ausblieben. Er sagte, es gehe nicht um noble Gesten, sondern „Ihren Beitrag zur Sicherheit in Europa und auf der Welt.“ Es gehe darum, dass „die Ukraine seit acht Jahren einen zuverlässigen Schutzschild“ gegen „eine der größten Armeen der Welt“ bilde. Er mahnte, dass alte Regeln nicht mehr gälten und dass ein Russland unter Putin hier, also auf der Münchener Sicherheitskonferenz, „vor 15 Jahren angekündigt [hat], dass er die globale Sicherheit infrage stellen wird.“

Die Trümmer der Weltordnung

Er verweist weiter darauf, dass er bereits seit 2019 im Rahmen diverser Gipfeltreffen und Foren gesagt habe, dass „[d]ie Annexion der Krim und der Krieg im Donbass ein Schlag gegen die ganze Welt“ seien und dass es sich nicht um einen Krieg in der Ukraine, sondern in Europa handele. Seine Worte in all der Applaudierenden Ohren — damals wie heute! Wie es weiterging — in den Jahren 2019, 2020, 2021, vor allem aber 2022 und noch immer 2023 — das wissen wir. Wir sehen es seit nunmehr auf den Tag genau exakt einem Jahr. Denn in den frühen Morgenstunden des 24. Februars 2022 fielen Wladimir Putins Truppen in die Ukraine ein

Der nannte diesen Überfall, seinen lange als „Blitzkrieg“ geplanten Angriffskrieg eine „Spezialoperation“ (und tut es noch) und verhielt sich im Rahmen seiner Propaganda so, als hätte er keine Wahl gehabt. In der Ukraine wird gemordet und geplündert. Folter und Vergewaltigung werden als Waffen gegen das ukrainische Volk eingesetzt. Zivile Ziele werden gezielt bombardiert. Putin und seine Schergen begehen Kriegsverbrechen. Jeden einzelnen Tag. In Butscha, Charkiw, Mariupol, Cherson. Manche hier schauen ein wenig ahnungslos. Einigen reicht es. Sie wollen mit diesem Krieg und alldem nicht mehr belästigt werden. Dass es dabei um die Auslöschung einer Kultur, eines Volkes als Ziel geht — sei’s drum! Nach etwa achtzig bis neunzig Jahren ist in Europa wieder von einer „Endlösung“ die Rede, es geht „sozusagen um die Endlösung der ‚ukrainischen Frage‘“, wie Selenskyj am 20. März 2022 vor der israelischen Knesset sagte. 

Dummheit ist nicht Naivität

Wie jetzt? Hitler und Putin — die können wir doch nicht vergleichen. Wir müssen es wissen, immerhin arbeiten wir seit nunmehr 75 Jahren mit dem Phänomen Hitler! Und das wirtschaftlich sehr erfolgreich, möchte angefügt sein. Nun blicken wir auf den russischen Autoren Viktor Jerofejew, der dem Berliner Tagesspiegel unlängst ein Interview gab. Hier spricht er in Bezug auf das unsägliche, die Kriegssituation missachtende und die Menschen in der Ukraine augenscheinlich verachtende, so genannte „Manifest für den Frieden“, davon, dass es nicht nur naiv sondern dumm sei, so Frieden zu fordern. 

Weiters sagt er in dem Gespräch: „Man muss etwas verstehen: Das Putin-Regime ist nicht weit weg von einem Hitler-Regime. Und stellen wir uns vor, in der Mitte des Zweiten Weltkrieges hätte jemand einen Frieden mit Hitler vorgeschlagen.“ Er sehe da also keinen Unterschied, fragt Lena Schneider, die das Interview führt. Zumindest nicht in dem Sinne, „dass man auch bei Hitler von Anfang an wusste, dass der Weg einer Befriedung nie funktioniert hätte.“ Na Mensch! 

Was wir finanziert haben

Dem sei hinzugefügt, dass wir die Ukraine allein schon deswegen unterstützen sollten, um unser schlechtes Gewissen zu beruhigen. Schließlich konnte Putin diesen Krieg nur so lange vorbereiten, da er „unendlich viel Geld mit Öl- und Gasexporten verdient und es in die Vorbereitung dieses Kriegs gesteckt“ hat. Diese Zeilen stammen aus einer Ansprache, die Wolodymyr Selenskyj am 22. März 2022 vor der Italienischen Abgeordnetenkammer hielt. Auch hier spricht er wieder davon, dass dies kein Krieg (ausschließlich) in und gegen die Ukraine, sondern in und gegen Europa wäre. Immer wieder geht es um die zivilen Opfer, vor allem die ermordeten Kinder.

Zu finden ist diese, wie auch die zwei zuvor genannten Ansprachen, in dem Büchlein Reden gegen den Krieg, das im vergangenen Sommer im Droemer Verlag erschienen ist und neben zehn Reden des ukrainischen Präsidenten ein kurz einordnendes Vorwort der Stern-Journalistin Bettina Sengling sowie ein paar erläuternde Anmerkungen enthält. 

Neben den bereits erwähnten Ansprachen finden wir (natürlich) auch jene an das russische Volk am Vorabend der Invasion Russlands in die Ukraine. Es ist ein so eindrücklicher wie eindringlicher Appell an die Menschen, Freiheit zu schätzen und zu würdigen und zu schaffen, statt zu zerstören. Hierzu sei angemerkt, dass die jahrelange Propaganda von Putins Regime selbstredend verfangen hat und nicht wenige Menschen in Russland durchaus der Meinung waren und es teils noch sind, dass die Ukraine kein eigenständiger Staat sei, dass sie eher ein Fehler der Geschichte wäre, denn es nun zu korrigieren gelte.

Grauzone zwischen dem Westen und Russland

Auch fehlt die Ansprache an das ukrainische Volk am Ende des ersten Tages des Angriffskriegs nicht — in der Selenskyj unter anderem erste Opferzahlen benennt. Ebenso enthalten sind Ansprachen an den US-Kongress, den Deutschen Bundestag und das Schweizer Volk. Hoch interessant sind jene auf dem NATO-Gipfel vom 24. März 2022 und an den Europäischen Rat tags darauf. In diesen beiden Reden, zieht Selenskyj alle Register seines rhetorischen Könnens. Weiß zu bitten, zu drängen, zu schmeicheln, zu sticheln. 

So sagt er etwa, dass die Ukraine sich offenbar in einer „Grauzone“ zwischen dem Westen und Russland befände, erinnert an das augenscheinlich gescheiterte Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994. In einem gekonnten Bitchslap erwähnt er zum Ende der NATO-Rede, dass die Ukraine gezeigt habe, was sie „zur gemeinsamen Sicherheit in Europa und der Welt beitragen“ könne. „Die NATO dagegen muss erst noch zeigen, was sie tun kann, um Menschen zu retten.“ Das hat gesessen und wenn es da mal nicht unter den Blauen Helmen klingelt. 

In der EU-Rede fragt sich der ukrainische Präsident, ob man den russischen Kämpfern womöglich nur das Töten und nicht das Lesen beigebracht habe, wenn sie etwa Menschen töteten, auf deren Westen fett „PRESSE“ stand. Anschließend zählt er die EU-Staaten auf, die die Ukraine unterstützen, es womöglich noch tun werden und schließt mit: „Und wir glauben, dass auch Deutschland im entscheidenden Moment auf unserer Seite steht.“ 

Hier

Der hat gesessen und bildet den Schlusspunkt des Droemer-Büchleins, das Claudia Dathe, Olga Radetzkaja und Volker Weichsel übersetzt haben. Dass Wolodymyr Selenskyj sowohl formulieren wie auch reden und performen kann, ist bekannt. Dies wird, genau wie seine Karriere als Komiker und Schöpfer von sowie Star in Diener des Volkes, im Vorwort von Reden gegen den Krieg ebenso erwähnt wie in jenem von Botschaft aus der Ukraine, das in der Übersetzung von Christiane Bernhardt und Gisela Fichtl im Dezember 2022 im Siedler Verlag erschienen ist. Hierfür hat der britische Autor und Journalist des Economist, Arkady Ostrovsky, noch weiter zurückgeschaut und analysiert ein wenig genauer, wie Selenskyj Teile seiner Ansprachen aufbaut und verweist auf die Wichtigkeit von Selenskyjs kürzester Rede „achtunddreißig Stunden nach Beginn von Russlands völkerrechtswidrigem Vernichtungskrieg gegen sein Land.“

Es zeigte, dass er „tut“ war, also „‚hier‘, an seinem Platz, und meldete sich zum Dienst. Genau wie sein Land.“ Anhand dieses Einstiegs — beide Vorworte greifen übrigens die anfänglich gern gemachten und doch eher unzutreffenden Churchill-Vergleiche auf — wundert es ein wenig, dass in der Botschaft aus der Ukraine die NATO- und EU-Rede fehlen. Dafür gibt es hier zum einen ein Vorwort von Wolodymyr Selenskyj selbst, der schreibt, dass er der glücklichste Mensch der Welt wäre, wäre dieses Buch nie veröffentlicht worden. Das glauben wir ihm gern.

„Wir wollten diesen Krieg nicht“

Zum anderen ordnet der Präsident selber kurz ein, wieso seine Antrittsrede vom 20. Mai 2019 am Anfang des Buches steht und seine Rede vom 24. August 2022 in Kiew zum ukrainischen Unabhängigkeitstag am Ende des Buches steht. Dazu schreibt er: „Wir wollten diesen Krieg nicht. Wir taten alles, um den Krieg abzuwenden. Für dieses Ziel redete ich unablässig, ab dem Moment, seit ich als Präsident vereidigt wurde.“

Wie wahr das ist, lässt sich an den sechzehn im Siedler-Buch festgehaltenen Reden nachzeichnen. In einem ersten Teil, „Unsere Werte“ genannt“, finden sich nämlich ausschließlich Reden aus der Zeit vor dem Angriffskrieg. So eine aus dem September 2021 vor dem United States Holocaust Memorial Museum. Diese lässt auch tief in das Bewusstsein des Präsidenten blicken. Jenes, das er gegenüber seinem Land hat, aber auch jenes, wie er Geschichte und Partnerschaft denkt. Natürlich mag hier manches beschönigt sein, wenn er etwa sagt, dass sich keine Spur Rassismus und Nazismus im Bewusstsein der Ukrainer fände. Wünschenswert ist das Land, für das dies gelten könnte.

„Ein Krieg gegen Europa“

Dennoch geben diese Reden einen spannenden Kontext und erweitern unseren Blick noch einmal auf eine Zeit, bevor wir alle uns quasi mit der Ukraine befassen „mussten“ — auf diese oder jene Art. Im zweiten Teil, „Unser Kampf“, findet sich auch in diesem Buch die MSK-Rede, wie auch die Ansprache an das russische Volk und schließlich die im Vorwort erwähnte Kurzrede und eine, in der er sich am 25. Februar 2022 an die Menschen Europas wendet. 

In „Unsere Stimme“, dem dritten Teil, finden sich die Videoschalte-Reden vor dem britischen Parlament, dem US-Kongress, dem Deutschen Bundestag und der Knesset. Interessant an den Reden, die Selenskyj in Richtung der Parlamentarier*innen der Verbündeten oder hoffentlich bald Verbündeten hält, ist, dass er immer mit historischen Bezügen zum jeweiligen Land arbeitet und dabei eine Verknüpfung zur Ukraine schafft.

Sei es der Mount Rushmore in den USA und der Angriff auf Pearl Harbour; die Mauer in Deutschlandmitten in Europa also —, die Freiheit und Unfreiheit trennte; den Tag der Gründung der NSDAP — ein 24. Februar vor nunmehr 103 Jahren — und der Verweis auf Gerechte unter den Völkern in der Ukraine und so weiter und so fort. Er packt die Menschen also bei ihrem Stolz, ihrem Nationalgefühl, ihrer Geschichte und ihrer Verantwortung. Oder anders: Er kitzelt das Ego, indem er auf klang- und teils ehrvolle Historie verweist, um dann zu erinnern, dass Geschichte auch Zukunft ist und diese Handeln erfordert. 

„Den Mangel an Menschlichkeit können Sie nicht übersehen haben“

Faszinierend ist, dass sich das auch wenn die Reden kurz hintereinander gelesen werden, in der Form nicht abnutzt. Eher mag mensch den Hut ziehen und sich denken: So geht das also mit dem Honig und dem Maul und dem Zuckerbrot und der schön verpackten Peitsche. Ein wenig zuckrig wird es im vierten und letzten Teil in Botschaft aus der Ukraine — übrigens werden alle Abschnitte durch ein paar Zeilen eingeleitet; das bei Siedler erschienene Buch ist durchaus sorgsamer kuratiert — namens „Unsere Nation“. 

Es sind allesamt Reden die er in der der Ukraine nach Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges hielt. Natürlich gilt es hier, im Grunde wie bei den Reden ins Ausland, darum, das eigene Volk bei der Ehre und Verantwortung zu packen. Sie eben nicht verteidigungsmüde werden zu lassen. Da geht es, zumindest für mein westlich geprägtes Dafürhalten, durchaus auch mal pathetisch zu. Wenn es etwa in der Osteransprache vom 24. April 2022 um die Sophienkathedrale und „das Bild der Oranta, der Schutzpatronin der Menschheit“ geht.

Aber auch hier hilft eine Einordnung in der Fußnote, die mitteilt, dass Kiew der Legende nach unbesiegbar sei, solange die Arme der Gottesmutter erhoben seien. Das Mosaik, auf das der Präsident sich bezieht, befindet sich an der so genannten „unzerstörbaren Wand“. 

„Das freie Volk der unabhängigen Ukraine“

Die letzte Rede zum ukrainischen Unabhängigkeitstag ist natürlich erwartungsgemäß feurig, schlagkräftig und stolz. Hier sehen wir, dass Wolodymyr Selenskyj nicht dazu tendiert sich, sein Volk oder sein Land kleinzumachen oder kleinreden zu lassen. Man habe gesagt, die Ukrainer hätten keine Chance. Nun hätten sie sowohl die Welt als auch die Geschichte verändert. Alle hätten eine Wahl getroffen, „[m]anche wählten Mariupol, andere Monaco.“

Foto von Wolodymyr Selenskyj // © www.president.gov.ua

Die Ukraine habe die Welt geeint und die Tyrannei eine Antwort erhalten. So viel habe man durchgemacht, nun gebe es kein Recht, nicht bis zum Ende standzuhalten. „Wir leben lieber in Schützengräben als in Ketten.“ Der Donbass, die Krim, alle fünfundzwanzig Regionen, „ohne ‚Zugeständnisse‘ und ohne ‚Kompromisse‘“ gehören zur Ukraine.

Das sind aufgeladene Worte. Das sind Worte die nachhallen. Worte die erkennen lassen, dass die Freiheit eines Landes, die Existenz eines Volkes nicht nur diese bedeutet. Welche Meldungen kommen denn aktuell aus Moldau? Aus Belarus? Immer und immer wieder aus Georgien? Auch, um uns daran zu erinnern, dass „Wir“ kein Vakuum ist und ein Rosinenpicken mehr Fatales anrichten kann als ein Rosinenbomber, sind diese beiden Bücher gut, die wir trotz kleiner Überschneidungen in Kombination empfehlen.

AS

PS: Mit dem Verkauf von Reden gegen den Krieg unterstützt Droemer Knaur Geflüchtete aus der Ukraine. 

PPS: An alle Freund*innen im Geiste: Ja, ihr dürft weiter Wodka trinken. Nehmt halt finnischen Wodka

Wolodymyr Selenskyj: Reden gegen den Krieg; Juni 2022; Aus dem Ukrainischen und Russischen von Claudia Dathe, Olga Radetzkaja, Volker Weichsel; 96 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN: 978-3-4262-7897-0; Droemer Verlag; 10,00 €

Wolodymyr Selenskyj: Botschaft aus der Ukraine; Dezember 2022; Aus dem Englischen von Christiane Bernhardt, Gisela Fichtl; 160 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-8275-0173-8; Siedler Verlag; 16,00 €

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