„Alle 20 Minuten ein Kopf“

Hä — 1943?! Dit sind doch noch zwanzich Jahre bis zu de hundert! Mögen sich manche denken, wenn sie auf den Titel des neuen Buches von Oliver Hilmes, Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgrund, schauen. Und in der Tat haben Bücher, die ein „1923“ im Titel tragen, derzeit Hochkonjunktur (nicht ganz zu Unrecht, in dem Jahr war doch mehr los, als mensch zuerst so denken mag; Stichwort: Ruhrbesetzung). Überhaupt werden 100-jährige Jahrestage jedweder Couleur gern medial und öffentlichkeitswirksam ausgeschlachtet, äh, ausgewertet. 

Keine zwei Dekaden zu früh

Dennoch können wir von Glück reden, dass der 1971 geborene Oliver Hilmes mit der Veröffentlichung von Schattenzeit im Siedler Verlag nicht noch zwanzig Jahre gewartet hat, ist dieses erzählende Sachbuch doch sowohl ein einnehmendes Zeit- und Ortsportrait wie auch eine gegenwartsnahe Erinnerung daran, wie problemlos Alltag und Abgrund ganz eng beieinander sein können. Während Abertausende Soldaten bei Stalingrad ums Leben kommen, feiern etwa am 5. März 1943 2 000 Gäste den fünfundzwanzigsten Geburtstag der Ufa (Universum Film AG) im Ufa-Palast am Zoo

„Mitten im Getümmel befindet sich Joseph Goebbels, der seinen Auftritt sichtlich zu genießen scheint“, schreibt Hilmes in seinem fein verwobenen Buch, das uns in zehn Kapiteln und chronologischer Reihenfolge durchs Jahr führt. Wenngleich das Finale schon im September in Form von Hinrichtungen bei Kerzenschein auf uns wartet — die Blutnächte von Plötzensee mögen manchen ein Begriff sein. Hier schließt sich, wenn wir so wollen, auch der emotionale Kreis für uns Leser*innen, denn in jenen Nächten wird auch der junge Pianist Karlrobert Kreiten hingerichtet. 

Networking rettet keine Leben

Schattenzeit beginnt mit dem Satz „Karlrobert Kreiten ist ein ungewöhnlich ruhiges Kind“. Wäre er doch am 17. März vor achtzig Jahren besser ruhig geblieben, denken wir uns. An diesem Tag nämlich lässt sich der 1916 geborene Karlrobert dazu hinreißen, gegenüber der Adolf Hitler treuergebenen Ellen Ott-Monecke so manch Abschätziges über den in ihren Augen größten Führer aller Zeiten zu sagen. Dass die gute Frau, bei der er am Lützowufer 1 unterkommt, bis seine eigene Berliner Wohnung bewohnbar ist, eine enge Freundin von Mutter Emmy ist, spielt hierbei keine Rolle. 

Wenig später wird Karlrobert in Karlsruhe festgesetzt und es entspinnt sich ein sechsmonatiger Kampf um seine Freiheit, der nicht zuletzt auch durch diverse Misslichkeiten verlorengeht. Die Kreitens sind immerhin eine in der Kulturwelt Nazideutschlands angesehene und gar bis zum nach manchem Glauben größten Dirigenten aller Zeiten, Wilhelm Furtwängler, vernetzte Familie (zumal Robert durch den niederländischen Vater irgendwie geschützt scheint). Doch was nützt all das, wenn der Karlrobert am Ende beim sich selber als „politischen Soldaten“ sehenden Todesrichter Roland Freisler (ja, wir begegnen in Schattenzeit auch den Geschwistern Scholl) landet?!

Das „Kochlöffelduell“ der Schlächter

Nichts. Die Lektüre dieses gut zu lesenden, an Anekdoten reichen, jedoch nicht geschwätzigen Bandes hingegen bringt recht viel. Beinahe meisterlich verknüpft Hilmes dabei kurze Eindrücke aus dem Jahr — sei es via öffentlicher Verlautbarungen und Anweisungen aus Pressekonferenzen oder Tagebucheinträgen etwa von Erich Kästner, Viktor Klemperer oder Joseph Goebbels — mit den politischen Entwicklungen im Land, dem Schicksal Kreitens (das unglaublich intensiv recherchiert ist) und diversen Animositäten beispielsweise zwischen Goebbels und Hermann Göring.

„Anweisungen der Pressekonferenz der Reichsregierung, 8. Februar 1943: >>Für den Ausdruck die >Alliierten< kann der Begriff >Hilfsvölker der Sowjet-Union< gebraucht werden.<<“ 

Die dauerhafte Fehde zwischen den beiden, wird im Februar, wenige Wochen nach Görings 50. Geburtstag, im, ich möchte es mal „Kochlöffelduell“ nennen, auf die Spitze getrieben, als Goebbels sich anschickt, Görings geliebtes Luxusrestaurant „Horcher“ schließen zu lassen. Auf zweieinhalb Seiten beschreibt Hilmes bissig einen erbitterten Zickenkrieg zweier Massenmörder, den er gekonnt zur Pointe souffliert, in der sich am Ende vor allem der Dritte in der Mitte freuen kann. 

Aus diesem geht Goebbels als vermeintlicher Sieger hervor, aber auch nur weil er die Hilfe von Papa GröFaZ holte, der zu der Zeit ohnehin schon nicht mehr so gut auf den Hermann zu sprechen ist (dies, nachdem die britische Royal Air Force im März, April und Mai 1942 Lübeck, Rostock und dann Köln bombardierte). Auch dies weiß Hilmes in kurzen und prägnanten, manches Mal mal brechend komischen Sätzen, zu beschreiben. Dennoch liest sich seine Schattenzeit nie wie eine Satire oder gar so, als wollte er das Grauen und den kalkulierten Wahn des Nationalsozialismus und einzelner Figuren als Komik abtun.

„Prominenz verpflichtet“, also andere!

Ganz im Gegenteil: In jenem Teil, in dem es um die Sportpalastrede von Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 geht, wird deutlich, worin die Stärke dieses sehr vermittelnden Tons liegt. Wir können nachfühlen, wie Goebbels es schafft die Massen zu mobilisieren, diese Mobilisierung und den Jubel kalkuliert, sich inszeniert und gleichwohl in der Masse und „dieser Stunde der Idiotie“, wie er es selber nennt, wiegt.

„Anweisungen der Pressekonferenz der Reichsregierung, 3. September 1943: >>Aus gegebenem Anlass wird gebeten, bei propagandistisch wirksamen Meldungen Künstler, auch wenn sie im feindlichen Lager stehen, nicht als Juden zu bezeichnen, sofern dies nicht zutrifft.<<“

Nun waren nicht alles Idiotinnen und Idioten, sondern so einige willfährige Mitläufer, Helfer und Helfers-Helfer. Etwas, das sich im Buch nicht nur in dem Damengespann um Ellen Ott-Monecke zeigt, das sich im Rahmen einer Aufarbeitung der Geschehnisse nach der Nazi-Diktatur so nicht mehr an die Ereignisse erinnern mag, sondern auch am Journalisten Werner Höfer. Dieser führte im Nachkriegsdeutschland „[ü]ber fünfunddreißig Jahre […] Sonntag für Sonntag plaudernd und Moselwein trinkend durch den Internationalen Frühschoppen“, wie Hilmes es zum Text eines Bildes des Mannes schreibt, der noch wenige Jahre zuvor ein glühender Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie war.

In seiner Kolumne für das „12 Uhr Blatt“ vom 20. September 1943 etwa schreibt Höfer, von der „strengen Bestrafung eines ehrvergessenen Künstlers“. Niemand dürfe heute dafür Verständnis haben, „wenn einem Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten Volksgenossen. […] gerade der Künstler mit seiner verfeinerten Sensibilität und seiner weithin wirkenden Autorität“ habe ehrlich und tapfer seine Pflicht zu tun. „Denn gerade Prominenz verpflichtet!“

Ein Traum der Kriegsnormalität

1987, als Höfer über seine Vergangenheit stürzt — arg sanft, wohlgemerkt — gibt er sich entsetzt, alte Kamellen und so. Allein in dieser nachkriegsdeutschen Episode, die Oliver Hilmes neben andren im Abschlusskapitel „Nachleben“ schildert, wird deutlich, wie wenig weite Teile der (west-)deutschen Politik– und Medienwelt aber auch der Bevölkerung im Allgemeinen an einer aufrichtigen und auch juristischen Aufarbeitung, Verfolgung und Ahndung interessiert waren. Das Stichwort der „Wiedergutwerdung“ kommt uns hier in den Kopf. Das aber ist ein Kapitel, welches sich der Rezensent für die anstehende Besprechung von Max Czolleks Versöhnungstheater aufheben möchte. 

„Anweisungen der Pressekonferenz der Reichsregierung, 20. August 1943: >>Für den Begriff >evakuiert< ist grundsätzlich >umquartiert< zu verwenden.<<“

Bis dahin sei die Lektüre von Schattenzeit empfohlen, das nicht nur eine so unterhaltende wie mahnende Reise in die Vergangenheit ist, sondern gekonnt abbildet, wie leicht es war, so zu tun, als wüsste keiner von irgendwas. Mit welcher Selbstverständlichkeit die Deutschen Normalität lebten, während sie für einen Weltenbrand und die Vernichtung von Millionen Menschen verantwortlich waren, ist gruselig. Dass Einzelschicksale, wie jenes des Karlrobert Kreiten oder auch Franz Doms in Österreich, dabei so verstörend sind, fügt dem Ganzen nur noch Schattierungen des Grauens hinzu. Rausgerissen wurden die Menschen zeitweilig aus dieser vermeintlichen Normalität erst durch diverse effektive Luftangriffe — die nach Meinung mancher Linken-Politikerin künftighin wohl gern zur Relativierung aktuellen Leids in der Ukraine sowie der NS-Zeit herhalten dürfen.

AS

Ulrich Noethen liest aus Schattenzeit; DLF Kultur-Moderator Christian Rabhansl und Buchautor Oliver Hilmes sprechen am Abend des 14. März 2023 in der Staatsbibliothek zu Berlin darüber // Foto: © the little queer review

PS: Wir begegnen natürlich auch kurz Thomas Mann und den Seinen, im „Schwabing unter Palmen“, den Pacific Palisades; ebenso Margot Bendheim, besser bekannt als Margot Friedländer oder auch Hans „Hansi“ Rosenthal.

PPS: Das Buch wurde am 14. März 2023 in der Staatsbibliothek zu Berlin vorgestellt. Ausgerichtet vom Verein der Freunde der Staatsbibliothek, dessen Vorsitzender, der Ex-Kulturstaatssekretär von Berlin André Schmitz, ein enger Freund Oliver Hilmes’ ist. Der Abend war… seltsam. Nicht uninteressant, aber seltsam. Die Struktur von Lesung (von Ulrich Noethen, der vor allem Ulrich Noethen war und den das Buch weniger zu interessieren schien; allerdings sei gesagt, dass er kurzfristig für den verhinderten Ulrich Matthes einsprang) und Fragen (durch den sympathischen Deutschlandfunk Kultur-Moderator Christian Rabhansl) griff manches Mal kaum und manches Mal so sehr, dass es redundant wurde.

Beim Austausch mit ein paar Leuten aus dem Freunde-SBB-Verein im Anschluss war die Stimmung eher kühl — was ich zum Zwecke der Mitgliederwerbung (die während der Veranstaltung durchaus fleißig betrieben wurde) als eher weniger zielführend beurteilen möchte. Mittlerweile kenne ich „nur“ noch zwei Arten von Buchpremieren/-vorstellungen/-lesungen: Jene, die nahezu famos sind und jene, nach denen mensch froh sein kann, das Buch schon gelesen und besprochen zu haben, da sich die Wahrnehmung desselben im Kontext des Abends nicht zum Besseren verändern würde. 

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Oliver Hilmes: Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe; Januar 2023; 304 Seiten mit 10 s/w Abbildungen; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-8275-0159-2; Siedler Verlag; 24,00 €

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