Europäischer Schandfleck in Weiß

Wenn am heutigen Abend in Aachen der Karlspreis an Svetlana Tichanovskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo verliehen wird, richten sich die Augen der Öffentlichkeit zumindest kurzfristig auf die Lage in Belarus, das Land, das Wladimir Putin in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine so willfährig gewähren lässt. Dabei ist – ähnlich wie in Russland – lange nicht die gesamte Bevölkerung auf Seiten des langjährigen Diktators Alexander Lukaschenko, vermutlich ganz im Gegenteil.

Die Oppositionsbewegung in Belarus ist groß und die drei heute mit diesem Preis zur europäischen Einigung ausgezeichneten Frauen hatten ihren wesentlichen Anteil daran, dass sie so groß und sichtbar wurde. Aber nicht nur sie, sondern viele Frauen und Männer in Belarus sind 2020 ob der gefälschten Wahlen aufgestanden, haben protestiert und vielfach ihr Leben riskiert.

Ein Oppositionsbericht

Das gilt auch für den in Deutschland praktizierenden, aber aus Belarus stammenden Dirigenten Vitali Alekseenok. Er hat seine Erfahrungen und Erlebnisse rund um die Proteste des Sommers 2020 gegen die gefälschte Wahl in einem Bericht zusammengefasst, der unter dem Titel Die weißen Tage von Minsk – Unser Traum von einem freien Belarus gemeinsam mit einem Vorwort der ebenfalls belarusisch stämmigen und in den USA ansässigen Lyrikerin und Übersetzerin Valzhyna Mort (aus dem Englischen übersetzt von Irmengard Gabler) 2021 bei S. Fischer erschienen ist.

Auf weniger als 200 Seiten inklusive Zeittafel von Mai bis Anfang Dezember 2020 erläutert Alekseenok seine persönlichen Erlebnisse rund um die Proteste gegen Lukaschenko, aber auch die teils sehr schmerzhaften Erfahrungen so vieler weiterer Protestierender. Beginnend mit einer kurzen Vorstellung seiner Heimat – er wuchs in einem kleinen Dorf namens Vilejka nördlich der Hauptstadt Minsk auf – und seiner relativ behüteten Jugend, umreißt er kurz seinen Werdegang und seinen Weg nach Deutschland.

Die Opposition formiert sich

Wichtiger sind aber die anschließenden Schilderungen: die kurze und unvermittelte Vorbereitung der Präsidentschaftswahl 2020, die Steine, die der Opposition seitens des Regimes vorab in den Weg gelegt wurden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefälschte Durchführung der Wahl sowie die Reaktion des Regimes auf die darauffolgenden Proteste. Alekseenok veranschaulicht anhand eigener Beobachtungen, aber auch an den Erfahrungen vieler weiterer Protestierender, mit welcher Brutalität der Staatsapparat mit Hilfe der gleichgeschalteten Medien gegen die Oppositionsbewegung vorging.

Die Protestbewegung umfasste direkt nach der Wahl im August 2020 fast alle gesellschaftlichen Gruppen. Von Studierenden, streikenden „normalen“ Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Fabriken über Rentnerinnen und Rentner bis hin zu künstlerisch Tätigen – so wie Alekseenok selbst – fanden sich eine Reihe von Personengruppen unter den Demonstrierenden. Jeder und jede kann sich im Protest engagieren und die Menschen in Belarus scheinen dies bereits vor zwei Jahren stark beherzigt zu haben. Vitali Alekseenok führt uns sehr deutlich vor Augen, wie groß, stark und oft auch kreativ die Protestbewegung war, die gegen das Regime aufbegehrte.

Staatsterror

Und doch war der staatliche Terror in dieser von Putin und seinen Kleptokraten stark beeinflussten Autokratie enorm. Die staatlichen Sicherheitskräfte gingen auf die Demonstrantinnen und Demonstranten los, nahmen sie fest und quälten die friedlichen Demonstranten mit Methoden, die wohl nicht mehr nur als nahe an der Folter zu klassifizieren sind. Alekseenok schildert auf erschreckende Weise, welche Torturen viele der Demonstrantinnen und Demonstranten über sich ergehen lassen mussten – nicht alle kamen mit dem Leben oder körperlicher Unversehrtheit davon.

Trotz der hohen Eindrücklichkeit, der vielen schrecklichen Schilderungen und der in der Tat Mut machenden Beschreibung der demokratischen Bewegung in Belarus finden sich jedoch ein paar Punkte, die bei Alekseenoks Schilderungen etwas unklar bleiben. Zuallererst müssen die Leserinnen und Leser berücksichtigen, dass es sich bei Die weißen Tage von Minsk um einen persönlichen Erfahrungsbericht handelt. Alekseenok geht bei seinen Beobachtungen trotz eines vorhandenen Roten Fadens nicht wissenschaftlich vor. Was er mit uns teilt, sind seine persönlichen Erfahrungen, seine Empfindungen und seine Beobachtungen. Bei einem Aufenthalt in Belarus von mehreren Wochen aber kann dies nur ein Ausschnitt der gesamten Realität sein. Das ist ganz und gar nicht schlimm, sollten die Leserinnen aber in jedem Fall im Kopf behalten.

Berichte aus zweiter Hand

Etwas problematischer ist dies bei den Schilderungen, über die er selbst nur berichtet. Es gibt zwar keinen Zweifel daran, dass die Gräuel, die den Verhafteten wohl angetan wurden, real sind, aber anders als manch wissenschaftlichere oder journalistische Aufarbeitung verweist Alekseenok leider nicht auf Quellen oder legt häufig nicht offen, wie er seine Informationen erlangt hat. Dass Informantinnen und Informanten in dieser Lage anonym bleiben wollen und sollen, ist völlig berechtigt, aber anders als beispielsweise Catherine Belton in ihrem wegweisenden Buch Putins Netz verweist er nicht auf (anonymisierte) Interviews, die er geführt hat oder bestimmte Quellen.

Das soll wie gesagt nicht heißen, dass seine Schilderungen unglaubwürdig seien – das sind sie ob ihrer Detailliertheit und Grausamkeit ganz und gar –, aber gerade im Zuge einer belarusischen oder russischen Propaganda kann auf dieser Basis die Glaubwürdigkeit seiner Berichte doch in Zweifel gezogen werden. Dazu trägt leider auch bei, dass Alekseenok sich einige kleinere, eigentlich vernachlässigbare, Ungenauigkeiten leistet. Er spricht beispielsweise mehrfach vom „KGB“, dem früheren sowjetischen Geheimdienst, den es aber in dieser Form nicht mehr gibt und der heute FSB heißt. Natürlich lebt der KGB noch heute, aber gerade solche Ungenauigkeiten bieten leider ein Einfallstor für potentielle Versuche, Alekseenoks Schilderungen zu verunglimpfen.

Belarus: ein europäischer Schandfleck

Ansonsten aber ist Die weißen Tage von Minsk ein wichtiges und detailreiches Dokument der Zeitgeschichte, das einerseits Mut macht und zeigt, wie stark der Wunsch nach Demokratie und Freiheit im belarusischen Volk verankert ist und welchen Mut die Menschen in dem Land bereits aufgebracht haben, indem sie sich gegen die gefälschte Wahl von 2020 auflehnten. Gleichzeitig zeigt es, wie weit das von Putin gestützte Regime des Diktatoren Lukaschenko bereit ist zu gehen, um seine Macht zu sichern, welche Gräuel seine Schergen den eigenen Bürgerinnen und Bürgern bereit ist anzutun, nur um seine Macht zu sichern.

Die drei Anführerinnen der Opposition werden heute Abend, wie eingangs erwähnt, mit dem Aachener Karlspreis bedacht. Eine weitere Frau, die Journalistin Alice Bota, hat über diese drei Frauen und die Protestbewegung in Belarus das absolut lesenswerte Buch Die Frauen von Belarus geschrieben, das derzeit für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert ist, der am Montag in Berlin vergeben wird. Vitali Alekseenoks Buch Die weißen Tage von Minsk reiht sich daher neben Botas in der Tat sehr gut recherchiertem Band sehr gut in die Dokumentation des wohl brutalsten und dreistesten Wahlbetrugs ein, den Europa in den letzten Jahren gesehen hat.

HMS

PS: Das Konzert „Die unvollendete Revolution“ während der Ludwigsburger Schlossfestspiele widmete Vitali Alekseenok Maria Kolesnikowa. Zu sehen ist es bis zum 15. Juni 2022 in der arte-Mediathek.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Vitali Alekseenok: Die weißen Nächte von Minsk. Unser Traum von einem freien Belarus; März 2021; 192 Seiten; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-10-397098-2; S. Fischer Verlag; 18,00 €; auch als eBook erhältlich

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