Nicht zu vergessen: Die Ukraine

Mehr als drei Monate Krieg in der Ukraine – mehr als drei Monate Leid für Millionen von Menschen zwischen Lwiw und Donezk, Kiew und Odessa. Und für viele im Westen tritt die Gefahr ein, dass der Krieg schon grausiger, bedauerlicher Alltag wird. Aber solange er weit weg stattfindet – werden sich manche denken – betrifft er uns nicht.

Themenabend bei arte

Hier bleibt nur zu sagen: ganz weit gefehlt! Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine betrifft uns, egal ob wir wollen oder nicht. Ihn zu ignorieren oder als Tragödie in der Ferne abzutun, wäre der größte Fehler, den wir begehen könnten. Dagegen hilft es, sich immer wieder der Gräuel dieses Krieges zu vergegenwärtigen, selbst wenn das alles andere als angenehm ist.

Ukraine – Kampf gegen Moskaus Diktat: Am 24. Februar 2022 startete Russland seinen unerbitterlichen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Ausmaße der Zerstörung sind bereits jetzt verheerend // © Capa Presse/Ksenia Bolchakova/Philippe Lagnier/Foto: ARTE

arte hatte am 24. Mai zu diesem Zweck einen Themenabend zum Krieg in der Ukraine und drei sehr anregende Dokumentationen gezeigt. In diesen Filmen – zwei davon als Erstausstrahlungen in Deutschland – informierte uns der deutsch-französische Sender über den Krieg, seine Hintergründe und Auswirkungen und die zentralen Akteure – vor allem den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Hintergründe einer Tragödie

In der Erstausstrahlung Ukraine – Kampf gegen Moskaus Diktat gehen Ksenia Bolchakova und Philippe Lagnier auf die genannten ersten Monate des Kriegs ein. Sie zeigen teils erschreckende Bilder, sprechen mit Betroffenen, Menschen aus dem Widerstand vor Ort, aber auch solchen, die unter Moskaus neuem Diktat leiden müssen.

Ukraine – Kampf gegen Moskaus Diktat: Je weiter die russischen Panzer vorrücken, desto stärker festigt sich die ukrainische Identität. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind bereit, ihr Land mit der Waffe zu verteidigen // © Capa Presse/Ksenia Bolchakova/Philippe Lagnier/Foto: ARTE

Andrej Kurkow, uns vorgestellt als der am meisten übersetzte ukrainische Autor, arbeitet mit dem, was er am besten kann – Sprache –, um den Angriff von Putins Armee zurückzudrängen. In der Hafenstadt Odessa wiederum sehen wir eine ursprünglich sehr russophile Stadt, die sich nun aber auch zur Festung verwandelt hat.

Willfährige Partner und wohlsortierte Opposition

Weitere Aufnahmen aus Russland und Belarus zeugen von der Unterdrückung, die Medienschaffende – ein Redakteurspaar des im März verbotenen Fernsehsenders Dozhd, das nach Georgien fliehen musste und nun von dort aus arbeitet – oder die allgemeine Bevölkerung erfahren. Die belarusische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja kommt ebenso zu Wort wie manche ihrer Landsleute vor Ort, die einerseits gegen den Diktator Lukashenko in Minsk, andererseits aber zur Unterstützung der Bevölkerung in der Ukraine kämpfen.

Die belarusische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in ihrem litauischen Exil // © © Capa Presse/Ksenia Bolchakova/Philippe Lagnier/Foto: ARTE

Dieser Film gibt die Lage vor Ort sehr gut wieder, zeigt uns, welche Gräueltaten das ukrainische Volk über sich ergehen lassen musste und weiterhin muss. Überdies legen Bolchakova und Lagnier auch sehr gut die lange und verwobene Geschichte von Russland, Ukraine und Belarus dar. Eine somit überaus gelungene, berührende und informative Dokumentation.

Ukraine und Polen

In der ebenfalls erstmals ausgestrahlten Dokumentation Ukraine – Polen: Die Grenze der Solidarität widmet sich Regisseur Lech Kowalski nicht unmittelbar der Ukraine, sondern ihrem Nachbarn Polen. Während das von der rechtskonservativen Partei PiS regierte Land vielfach ein kleines Schmuddelkind im europäischen Staatenverbund ist – mangelnde Unabhängigkeit der Justiz und frappierende Homofeindlichkeit sind nur zwei sehr wesentliche Beispiele –, leistet es dennoch im Ukrainekrieg Erstaunliches.

Hunderttausende Ukrainer und – primär – Ukrainerinnen haben bislang in Polen Zuflucht gefunden und anders als bei der Flüchtlingsdramatik aus Syrien in den Jahren um 2015 trägt Polen heute wohl eine der Hauptlasten in der Europäischen Union. Und trotz der offensichtlichen Aufnahme- und Hilfsbereitschaft der Polinnen und Polen sind die Vorbehalte gegenüber der Ukraine vielfach doch etwas größer.

Nachbarsein ist schwer…

Lech Kowalski arbeitet gut heraus, wie tief das Misstrauen zwischen Polen und Ukrainern teilweise sitzt, wie sich das auch auf die gemeinsame Geschichte im Zweiten Weltkrieg und teilweiser Kollaboration mit Nazi-Deutschland erklären lässt und wie das noch heute das gegenseitige Miteinander prägt.

Ukraine-Polen: Die Grenze der Solidarität: Erste Zwischenstation für ukrainische Flüchtlinge auf polnischer Seite // © Revolt Cinema/Foto: ARTE

So informativ diese Dokumentation auch ist, über manche Teile hinweg ist sie aber leider auch etwas weniger fesselnd als beispielsweise Ukraine – Kampf gegen Moskaus Diktat. Nichtsdestoweniger gibt sie einen wichtigen Einblick in die Seele von zwei Nachbarstaaten mit bewegter Vergangenheit – jedes Land und jedes Volk für sich, aber auch in Bezug auf die gemeinsam geteilte Geschichte. Verurteilen oder gar verdammen sollten wir sie dafür übrigens nicht, denn auch wir hatten und haben nicht immer die einfachste Vergangenheit mit unseren Nachbarn – was sich angesichts unterschiedlicher Interessen selbstverständlich auch gut erklären lässt.

Selenskyj – ein Mann der Verteidigung

Bleibt abschließend das Portrait Selenskyj – Ein Präsident im Krieg von Dirk Schneider und Claudia Nagel vom rbb, die bereits weniger als einen Monat nach Putins Überfall auf die Ukraine erstmalig ausgestrahlt wurde. Schneider und Nagel zeichnen das Bild eines Mannes, der von vielen unterschätzt wurde, aber bereits in den ersten Wochen weltweiten Zuspruch fand.

Manche seiner Kritikerinnen und Kritiker haben ihn lange nicht ernst genommen, was auch an seiner Vergangenheit als Comedian und Entertainer liegen dürfte. Schneider und Nagel schneiden hier gekonnt altes Material von Selenskyj aus verschiedenen ukrainischen Shows zusammen und zeichnen so den Werdegang des heutigen Präsidenten nach. Das reichern sie mit Kriegsbildern der ersten Tage nach dem russischen Einmarsch an. Für die sehr kurze Zeit zwischen Einmarsch und Erscheinen des Portraits haben sie eine erstaunlich gute Dokumentation komponiert.

Selenskyj – Ein Präsident im Krieg: Selfie-Videobotschaft von Wolodymyr Selenskyj vor Barrikaden. Kiew, 08.03.2022 // © The Presidential Office of Ukraine/Foto: RBB

Allerdings geht vieles davon leider ein wenig auf Kosten der kritischen Auseinandersetzung. So werden beispielsweise Selenskyjs Verbindungen zu manch einem nicht ganz lupenreinen Oligarchen zwar erwähnt, aber eine wirkliche Analyse oder mögliche Interessenkonflikte werden nur am Rande erwähnt. Hier zählte vermutlich leider doch eher Geschwindigkeit und Zeitdruck, weniger die wirklich tiefe und hintergründige Auseinandersetzung. Das macht die Dokumentation aber nicht weniger sehenswert. Auch der Film über den selbsternannten russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny und seine Recherchen zum Giftanschlag gegen ihn hat deutliche Schwächen und Probleme, aber auch dieser ist sehr sehenswert.

Nachschauen lohnt sich!

Der Themenabend zur Ukraine liegt zwar nun bereits einige Tage zurück, aber das macht die gezeigten Dokumentationen nicht weniger wichtig – ganz im Gegenteil. Der Georgienkrieg 2008 lieferte die erste Blaupause für die aggressive russische Expansionspolitik und das, was ab 2014 auf der Krim und im Donbass geschah, waren weitere deutliche Fingerzeige. Der Krieg in der Ukraine bedroht uns alle. Er darf nicht vergessen werden, sondern muss immer wieder auf die Agenda kommen.

Ukraine-Polen: Die Grenze der Solidarität: Ankunft ukrainischer Flüchtlinge im Bahnhof von Warschau // © Revolt Cinema/Foto: ARTE

Die arte Mediathek sorgt dafür, dass wir diese drei Filme noch einige Wochen sehen können (am Vormittag des 3. Juni werden die Filme von Bolchakova und Lagnier sowie Kowalski auch noch einmal im linearen Programm wiederholt). Von diesem Angebot sollten möglichst viele Personen Gebrauch machen, denn es sind aufschlussreiche, informative und weitgehend gut recherchierte Filme, die sich hier in den digitalen Sphären verstecken.

HMS

Ukraine – Kampf gegen Moskaus Diktat; Frankreich 2022; Ein Film von Ksenia Bolchakova und Philippe Lagnier; bis zum 28. Juli 2022 in der arte-Mediathek verfügbar

Ukraine – Polen: Die Grenze der Solidarität; Frankreich 2022; Ein Film von Lech Kowalski; bis zum 22. Juni 2022 in der arte-Mediathek verfügbar

Selenskyj – Ein Präsident im Krieg; Deutschland 2022; Ein Film von Dirk Schneider und Claudia Nagel; bis zum 13. September 2022 in der arte-Mediathek verfügbar

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