Blackbox mit Doppeladler

Mit Russlands Angriffskrieg hat eine bei uns längst vergessene Art von Gebäude tragischerweise wieder Bedeutung erlangt: der Bunker. Auch wenn die ukrainische Luftabwehr so viele russische Raketen wie möglich abfängt, vielfach müssen sich die Menschen wieder in Bunker oder U-Bahnhöfe flüchten. Wie das Leben dort aussehen kann, haben wir bereits in dem Film Donbass von Sergei Loznitsa tragisch erlebt.

Während Bunker in Mitteleuropa zum Glück zuletzt keine große Bedeutung mehr hatten, gibt es aber ein europäisches Land, in dem das anders ist: Albanien. Der frühere Diktator Enver Hoxha hat das kleine Land am Mittelmeer in seinem Verfolgungswahn mit Bunkern regelrecht zugepflastert und viele davon sind auch mehr als 30 Jahre nach dessen Tod noch erhalten.

Ein kaum bekanntes Land

Das mit den Bunkern jedoch ist häufig das Einzige, das Menschen wissen, wenn sie nach Albanien gefragt werden – wenn sie überhaupt etwas wissen. Denn lange war Albanien so etwas wie das Nordkorea Europas, eine Blackbox, aus der kaum etwas nach außen drang. Entsprechend unbekannt ist es noch heute. Das zu ändern, dürfte eine Motivation gewesen sein, die die österreichische Journalistin Franziska Tschinderle dazu bewog, ihr Buch Albanien – Aus der Isolation in eine europäische Zukunft zu verfassen. 2022 erschien es in der Czernin Verlags GmbH und bereits 2020 gab der DuMont Reiseverlag eine stark abgespeckte Version dessen heraus.

Das Buch besteht aus 16 Reportagen, die verschiedene Perspektiven auf das mehrheitlich muslimisch geprägte Land abbilden. Mit in der Regel zehn bis 15 Seiten haben diese eine optimale Länge, um uns ganz verschiedene Besonderheiten dieses so nahen und doch so fernen Landes näherzubringen. Tschinderle schreibt über Politik, Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Religion, spricht mit dem aktuellen Ministerpräsidenten Edi Rama und manch anderen früheren Verantwortungsträgern, die wieder nach der Macht zu greifen versuchen.

Ein fragiler Staat

Sie besucht Bäuerinnen und Bauern auf dem Land, taucht in die teils glorreiche, teils betrübliche Geschichte des Landes ein und führt uns an einige Orte, die wir nicht in Albanien vermutet hätten. Lange, menschenleere Strände wie in der Karibik oder kaum zugängliches Bergland gehören ebenso zu Albanien wie die vielen eingangs erwähnten Bunkeranlagen oder die Hauptstadt Tirana, die – wie so viele andere Städte – unter einem Bauboom gleichsam leidet wie auch von ihm profitiert oder eine Mine, deren Arbeiter unter mehr als schlechten Bedingungen malochen mussten.

Der Staat versucht an manchen Stellen hart durchzugreifen, aber wenn beispielsweise an einer Drogenhochburg mittels einer groß angelegten Razzia ein Exempel statuiert wird, hat das auch gravierende soziale Folgen. Die Schwäche des Staats zeigt sich außerdem an der immer noch allzu präsenten Blutrache, der Tschinderle ebenfalls ein wichtiges Kapitel widmet. Dass die EU-Ambitionen dieses Staates deshalb auch immer wieder ausgebremst werden, ist leider folgerichtig – selbst wenn einige EU-Staaten wie Bulgarien, Frankreich oder Dänemark ohnehin als Bremser wahrgenommen werden.

Frauen im Fokus

Gleichzeitig ist das Land einer der neuen Hotspots für den europäischen Tourismus, für die USA und die NATO haben wir hier – unerwartet – einen getreuen Verbündeten. Korruption und illegale Geschäfte florieren in vielen Gegenden, geben aber vielfach ein verzerrtes Bild von dem Land und seinen laut Tschinderle so gastfreundlichen Bewohnerinnen und Bewohnern wieder. Und dennoch: Gerade unter seinem Despoten Enver Hoxha war das Land eine brutale, stalinistische Diktatur, die mit Menschen, die mit dem Regime nicht konform gingen, mit größter Härte umging.

Vielfach besteht diese Härte noch heute fort. Ob es der schwere Alltag der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Minen ist, das Elend, das viele Menschen zur Emigration zwingt oder die an vielen Orten noch immer vorherrschende Subsistenzwirtschaft, noch immer ist nicht jedes Leben in Albanien gut. Dazu mögen auch die in vielen Aspekten noch heute archaisch und patriarchal geprägten Strukturen ihren weniger rühmlichen Beitrag leisten. Umso besser, dass es in Tschinderles Reportagen häufig um Frauen geht, diese zu Wort kommen und gerade deren Probleme aufgeworfen werden.

Ein Gesamtbild

Die Bandbreite, die uns Franziska Tschinderle auf etwa 230 Seiten zeigt, ist also gewaltig. Natürlich gäbe es zig weitere Geschichten, die über dieses Land erzählt werden könnten, aber Tschinderle hat hier sechzehn Reportagen versammelt, die uns so unterschiedliche wie anregende Perspektiven liefern. Schön dabei ist, dass die Texte zwar einerseits unabhängig voneinander funktionieren – jeder kann für sich gelesen werden –, aber gleichzeitig an vielen Stellen gut ineinandergreifen und die Autorin diese Querverweise auf andere Kapitel angibt. Das ist leider nicht bei allen Länderportraits der Fall, hier aber ein wunderbarer Mehrwert.

Ihren Gesprächspartnerinnen und -partnern scheint sie dabei stets mit dem gebotenen Respekt zu begegnen. Weniger wohlhabende Leute stellt sie nicht etwa bloß, genauso wenig wie den nicht unumstrittenen Ministerpräsident Edi Rama. Und dennoch geht sie mit ihm oder manch anderen kritisch ins Gericht, stellt hintergründige Nachfragen und liefert damit offenkundig einen spannenden und eindrücklichen Rechercheband.

Schlusspunkt

Gleichzeitig entsteht bei der Lektüre aber ein wenig das Gefühl, dass noch irgendetwas fehle. Vermutlich gäbe es immer mehr und neue Details, die noch in ein Kapitel gepackt werden könnten und wenn eine halbe Seite vor Ende einer Reportage gefühlt noch ein neuer Aspekt aufgebracht wird, ist es schwierig, das noch zu einem guten Abschluss zu führen. Interessanterweise schafft Tschinderle jedoch genau das: Trotz des beschriebenen Gefühls, scheinen die kurzen Texte doch stets zu einem guten Ende zu kommen.

Das Einzige, was dem Buch tatsächlich fehlt, ist eine Karte. Klar, in Zeiten von Onlinediensten können sich die Leserinnen und Leser leicht durch eine Recherche selbst behelfen, aber dieser Service hätte dem Buch noch den letzten Schliff gegeben. Ansonsten aber ist Albanien von Franziska Tschinderle ein überaus spannendes Buch, das uns einen auf- und anregenden Einblick in eines der wohl unbekanntesten und gleichsam spannendsten Länder unseres Kontinents gibt.

HMS

Franziska Tschinderle: Albanien. Aus der Isolation in eine europäische Zukunft; Februar 2022; 240 Seiten; Softcover; ISBN 978-3-7076-0762-8; Czernin Verlag; 23,00 €

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