Frl. Schneider, Sally und das „Jetzt erst recht!“

Ins Theater? In diesen Zeiten? Sollte man wirklich jetzt noch Geld für Theaterkarten ausgeben? 

Ja! Ja! Und Jaaaaaa! 

Vor allem wenn man so eine grandiose Produktion wie Cabaret im Theater Dortmund sehen kann. Lassen wir mal all diese hochmoralischen und philosophisch anspruchsvollen Gründe wie: „Wovon sollen denn Künstler in Krisen leben, wenn wir sie uns nicht auch dann noch leisten?“ beiseite. Konzentrieren wir uns einfach direkt auf das Eingangsmotto des Stücks: „Vergesst Eure Sorgen.“ Gerade in Zeiten wie diesen ist es wichtig, den Kopf frei zu machen und einem bunten Bühnentreiben zu folgen. 

Stille Bühne // Foto: © Frank Hebenstreit

Und bunt ist das Treiben auf dieser technisch und optisch durchdachten Bühne (Kompliment an Heike Meixner) wirklich. 

Kurzer Abriss

Ein amerikanischer Autor kommt zum Jahreswechsel 1929/1930 nach Berlin, lernt Showgirl Sally kennen, die sich in ihn verliebt und kurzerhand ohne ihn zu fragen zu ihm in die Pension zieht. Es folgt ein Auf und Ab im Sehnen nach einer gutbürgerlichen Zukunft und dem Nachtleben gleichermaßen. Autor Clifford lässt sich mangels Inspiration und Geldes zu einer Schmuggeltour überreden, ohne zu ahnen, dass er damit den politischen Rechtsruck dieser Zeit befeuert. 

Pensions-Wirtin Frl. Schneider achtet zwar bei allen Bewohnern auf die Schicklichkeit, hat aber selbst was mit dem jüdischen Obst- und Gemüsehändler Schultz am Laufen. Als sie entdeckt werden, erklärt er unversehens sie zu heiraten, was beiden eine wunderbare Perspektive für das gemeinsame Alter eröffnet. 

Bis… ja bis ein gemeinsamer Bekannter aller auf der Verlobungsfeier seiner Hakenkreuzarmbinde und seiner politischen Gesinnung freien Lauf lässt. Clifford versteht als Erster: „Bist Du nicht dagegen, bist Du dafür!“ und durchschaut jetzt schon, zu welcher Größe die braune Gefahr das alles treiben will

So rüstet er sich zur Abreise, will Sally mitnehmen und versucht auch Frl. Schneider und Herrn Schultz zum Abreisen zu bewegen. Aber so sehr er sich müht, so tragisch endet alles, was dazu führt, dass er auf der Heimreise – endlich –  wieder etwas zu Schreiben hat. 

Cabaret mit angezogener Handbremse

Auch wenn nicht nur Bühne, ein Großteil der Kostüme und Requisiten der 2019er-Produktion an der Volksoper Wien zu entstammen scheinen, wirkt diese Inszenierung doch wie maßgeschneidert. Regisseur Gil Mehmert hatte in der Spielzeit 2021/2022 am Theater Dortmund mit Berlin Skandalös in Coronazeiten ja einem Komplettausfall vorgebeugt und als Prequel einfach mal das Berliner Nachtleben der „roaring twenties“ auf die Bühne gestellt. Rasant und aufregend hatte diese Produktion einen Vorgeschmack auf Cabaret gegeben, der einen wirklich gespannt zurückließ, wie das denn wohl zu toppen sein könnte. 

Spoiler 1: Gar nicht! 

Gerade aufgrund der Personengleichheit vieler Personen auf und hinter der Bühne hat die Vorproduktion eine Erwartungshaltung hinterlassen, der es galt gerecht zu werden. 

Rob Pelzer (Conférencier) // © Björn Hickmann, Stage Picture

Mit Rasanz und wirklich aufregenden Kostümen (Falk Bauer) eröffnet die Show. Es fällt direkt positiv auf: No Bodyshaming. Nahezu alle Körpertypen sind vertreten und lassen sich lecker ansehen. So geht es gleich gut los, die Show nimmt Fahrt auf. 

Sie stockt jedoch, als Sally Bowles ihre Eröffnungsnummer „Mama“ auf die Bühne stellt. Ja, leider … stellt. Die gesanglich und schauspielerisch wirklich großartig agierende Bettina Mönch wirkt teils gehemmt und erscheint über einen großen Teil des Abends wie mit angezogener Handbremse agierend. Das ist umso bedauerlicher, als man ihren Part in der Vorproduktion als fulminantes Feuerwerk bezeichnen konnte. Woran liegt es also? Von dieser Bremse lässt sich Mönch dann in einigen grandiosen Momenten eben nicht aufhalten und brilliert unter anderem mit „Maybe this time“. Ihre Sally bietet wirklich alles, was mensch erwartet, von liebevoll aufgeregt, Nähe und Vertrautheit suchend, bis zu schlussendlich aufgebend und sich dem Schicksal ergebend. 

Groß dargebotene Momente und Rollen

Jörn-Felix Alt gibt einen Clifford, dem selbst das kleinste Erkennen auf der Nasenspitze anzusehen ist. Vom ersten Wahrnehmen des Schmuggels bis zum Verarbeiten der abscheulichsten Wahrheit ist er doch stets derjenige, der alles verbindet. Menschlich und liebevoll nimmt er seinen Platz in diesem Reigen ein, der ihn unbestritten zum Spitzenreiter in der Publikumsgunst aufsteigen lässt, als er sich unter Einsatz des körperlichen Wohls gegen die aufkeimende Nazi-Macht (beeindruckend fies, widerlich und aalglatt: Samuel Türksoy) stellt. So bemitleidenswert machtlos er am Ende den Entwicklungen gegenübersteht, so bewegend und anrührend ist der letzte Funken Inspiration, mit dem er in eine ungewisse Zukunft fährt. 

Ich hatte die Ehre der B-Premiere beizuwohnen, in der Angelika Milster ihre Premiere in der Rolle der Frl. Schneider spielte. Mit Charme, Anmut und einem leicht erhobenen moralischen Zeigefinger, der sich, der Zeit entsprechend auch das eine oder andere Mal dem Geld beugt, überzeugt die Grande Dame des Musicals

Jörn-Felix Alt (Clifford Bradshaw), Bettina Mönch (Sally Bowles), Rob Pelzer (Conférencier) // © Björn Hickmann, Stage Picture

In wunderbarem Zusammenspiel mit Tom Zahner als Herrn Schultz geben die beiden ein bemerkenswertes Paar auf der Suche nach Glück im letzten Lebensdrittel, das man einfach nur einpacken und im eigenen Koffer aus den damaligen deutschen Landen schaffen möchte. „Wenn Ihr wüsstet, was wir heute wissen…“, geht mir durch den Kopf, während mir eine Träne über die Wange rinnt, als Fräulein Schneider bekennt, dass sie nicht den Mut zu dieser „riskanten“ Ehe hat. 

Spoiler 2: Frau Milster gibt mit Ihrer Rolle der Frl. Schneider das komplette Gegenstück zu ihrer Rolle in der Vorproduktion. 

Selten habe ich eine kleine Rolle so groß dargeboten bekommen. Die Entwicklung zwischen Frl. Schneider und Herrn Schultz findet an einigen Stellen in so intimen Kammerspielmomenten statt, dass man meint, eine Stecknadel im Zuschauerraum fallen hören zu können. 

Festgetackertes Glitzerballspiel

Einzig mit manchen Choreografien des Abends (Melissa King) hadere ich. Sie wirken an einigen Stellen holprig, scheinen sowohl Hauptdarsteller*innen (gerade Sally) als auch Ensemble zu hindern, zurückzuhalten. Hier wurden für mich Chancen vergeben, Sally noch größer und strahlender zu machen, oder den Bruch und die schlussendliche Aufgabe fassbarer und berührender zu gestalten. Gerade nach der wirklich groß angelegten Eröffnung schien der Abend auch choreografisch einiges zu bieten, gipfelte aber leider in einem Glitzerballspiel. Das Festtackern von Sally ausgerechnet im titelgebenden „Cabaret“ hinter einem Mikrofonständer hat mich dann choreografisch endgültig verloren. Hier hätte ich mir ein Eingreifen eines Regisseurs gewünscht, der die Größe seiner Vorproduktion im Auge gehabt hätte. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln wäre das mehr als möglich gewesen.

Schlussapplaus // Foto: © Frank Hebenstreit

Ungeachtet dessen bietet Cabaret in der Oper Dortmund einen brillanten Theaterabend. Bereits mit den ersten Gesten zieht der Conférencier (grandios: Rob Pelzer) das Publikum in seinen Bann. Darsteller Pelzer gibt immer wieder noch einen oben drauf. Scheinbar mühelos wechselt er im Laufe des Abends seine Rollen, in denen mensch immer merkt, dass der Conférencier sie spielt, aber er gibt ihnen immer wieder Facetten, die weder vorhersehbar, noch selbstverständlich sind. So schafft er es tatsächlich am Schluss des Abends auch noch ein Resümee seiner eigenen Aufgabe zu ziehen. 

„Habt Ihr Eure Sorgen vergessen?“ 

Spoiler 3: Haben wir. 

Auch wenn manche Ansätze dieses Stückes Warnungen vor der heutigen Politiklandschaft enthalten könnten, ist es gut, dass nicht auch noch dieser Ansatz verfolgt wurde. Dann wäre der erhobene Zeigefinger einfach zu viel gewesen. Es ist ausreichend, das Stück so zu präsentieren, wie es ist, denn es zeigt auch so, wie System und Mitläufertum Menschen und Schicksale zugrunderichten können. Wenn es dann auch noch so lasziv und sexy zugeht wie hier, dann schaut mensch sich das immer wieder gerne an. 

Autor Frank Hebenstreit und Ehemann Sascha // © Frank Hebenstreit

Also ich könnt schon wieder.

Frank Hebenstreit

Cabaret wird erneut am heutigen Samstag, 22. Oktober 2022, um 19:30 Uhr im Opernhaus am Theater Dortmund aufgeführt; ebenso wieder am 13. November um 18:00 und an mehreren Terminen um Dezember.

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