Nicht wie eine Waschmaschine küssen

Der Bildungsroman, so heißt es, solle mehrere Jahrzehnte umfassen, nur so könne die Darstellung und Entwicklung der im Mittelpunkt stehenden Figur nachvollziehbar gemacht werden. Bitteschön, sei’s drum. Dann ist Selma, Küsse, Kuddelmuddel eben nur ein bildender Jugendroman, statt eines Jugendbildungsromans. Denn zwar spielt die Geschichte im Lauf von nur einer Woche, doch passieren der 12-jährigen Selma und ihrer Clique so einige Dinge, manche innerlich, einige äußerlich.

„Wir wollen herausfinden, was hier passiert“

Ihre Clique, das sind ihre beste Freundin Ella, Anna und Aida, erweitert auch die etwas ältere Sarah, die inzwischen an einer anderen Schule ist, sowie ihr bester Freund Yunus. Der wiederum ist Teil einer Jungs-Clique, die zwar weniger schlimm ist als jene um den großen russischen Diktatoren Wladimir Putin, sich mit einer kommentierten Liste, die die Mädchen ihrer Klasse auf einer Skala von 0 – 10 bewertet, aber auch nicht direkt für den Friedensnobelpreis anbietet. 

In Selma, Küsse, Kuddelmuddel begegnen wir immer wieder solch von Hannah Rödel klasse illustrierten Infografiken (allerdings farbig im Stil des Covers gestaltet) // © Leykam Verlag

Dies nun auch ausgerechnet in jener Zeit, in der Selma Knubbel oder Hubbel an sich entdeckt, die dazu noch unangenehm sind. Mama ist auch nicht da; seit sie für eine Fluggesellschaft arbeitet, ist sie ständig irgendwo auf Dienstreise und Papa, der kleine Hypochonder, bemüht sich zwar, aber es ist eben Papa. Doch geht’s noch ein letztes Mal zum vertrauten Kinderarzt, mit „der Selma“ – „Nenn mich nicht DIE Selma. Das klingt wie eine Kuh!“ Wo sie recht hat…

Essen, Ermitteln und Rache

Selma, Küsse, Kuddelmuddel von Laura Melina Berling, erschienen im leykam: Verlag, beschäftigt sich auf gut 150 Seiten also recht eindrücklich, leichtfüßig und vor allem witzig und ohne geifernde Peinlichkeit mit dem Beginn der Pubertät, den körperlichen und mentalen Veränderungen und allem, was damit so innerhalb kürzester Zeit einhergeht. Denn es bleibt nicht bei Knubbeln, wenig später bekommt Selma noch ihre Periode. Dieses Mal ist immerhin die Mama zugegen, die sie zuvor gegen ihren Willen in eine Zirkussituation zwang, in der sich die arme Selma gequälte Tiere und scheiß penetrante Clowns antun musste. 

Ella, Aida und Selma beratschlagen auf dem Klo, was zu tun ist; eingeschlossen hat sich Anna; Illustration von Hannah Rödel // © Leykam Verlag

Verknüpft wird die sehr inklusive und frische Geschichte um einen kleinen Krimi. Nämlich jenen, welche Jungs für die Liste verantwortlich sind. Verdächtig sind hier neben Yunus noch Karim sowie Jan und Tobias, die Klassenterroristen. Vonseiten der Lehrer:innenschaft gibt es hier nicht viel Hilfe zu erwarten, die gute Frau Hübner ist eher entsetzt, dass die Mädchen ein Wort wie „Diskriminierung“ kennen (mit zwölf Jahren wohlgemerkt) und das alles allzu ernst nehmen würden. Läuft bei ihr. 

„Zunge und Speichel, nee danke“

Dabei war doch im letzten Jahr erst Mobbingwoche und nein, das ist keine Purge-Situation in der jede:r mal ordentlich mobben darf bis aller Frust raus ist, sondern eine Projektwoche mit Vorträgen und so. Frau Hübner muss da wohl krank gewesen sein. Jedenfalls nehmen Selma, Ella und Co. die Nachforschungen von ihrer Zentrale, keinem Wohnwagen sondern einem Schulklo, aus selbst in die Hand und ermitteln die Handschriften der Jungs.

Illustratorin Hannah Rödel und Autorin Laura Melina Berling // Foto: © Frederik Schuck

Das Leben geht aber währenddessen weiter und auf einmal sieht Selma sich mit einer etwas abwesenden Ella konfrontiert, die immerfort mit einem anderen Mädchen namens Lilith (ja, richtig, etymologisch ein weiblicher Dämon…) zusammenhängt, der Frage, ob es Zeit wäre, mal zu küssen und falls ja wen, was der richtige Umgang mit Regelschmerzen sein könnte und wieso zur Hölle sie überhaupt jeden Monat bluten muss und natürlich den Problemen ihrer Freundinnen. 

Agentinnen des Lebens

Denn auch wenn Selma die eindeutige Hauptfigur ist, haben doch die anderen Mädchen aus ihrer Schule ebenfalls genug Raum, um zu Personen zu werden. Da hat Autorin Laura Melina Berling auch in kleinen Nebensätzen ganze Arbeit geleistet, um die Charaktere leben und sie greifbar sein zu lassen. Das Hauptaugenmerk bei allen im Buch behandelten Themen- und Problemlagen liegt auf dem großen Wort Selbstwert. Hier den eigenen Punkt, sozusagen die innere Mitte zu finden, oder es jedenfalls zu versuchen und insbesondere äußere Einflüsse nicht die Kontrolle übernehmen zu lassen, das vermittelt Berling, die auch den Little Feminist Blog betreibt und als Sozialpädagogin in der Mädchen*arbeit zu den Themen Körper und Sexualität, Gender, Familie und Co. berät, ganz fantastisch.

Auch dem heiklen Thema Rasieren (das sehr Hardcore auch in einer Folge der fünften Staffel von Big Mouth stattfindet) widmet sich eine der Illustrationen von Hannah Rödel // © Leykam Verlag

Dabei schafft sie durch ihre sensible und wie erwähnt heitere und vor allem verständnisvolle und nicht belehrende Erzählweise keinen weiteren Anpassungsdruck, sondern agiert ganz im Sinne von wünschenswerter Selbstsicherheit. Unterstützt wird das nicht nur durch die das Buch noch weiter auflockernden Zeichnungen von Hannah Rödel, sondern auch die von ihr geschaffenen Infografiken, die Selma, Küsse, Kuddelmuddel wie kleine Showstopper durchziehen und nicht nur für Heranwachsende lehrreich sein dürften.

Love is Love. Also Liebe ist Liebe“

Beste Freundinnen: Ella und Selma sprechen sich aus; Illustration von Hannah Rödel // © Leykam Verlag

Rödel, die Kunst an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studierte, findet eine angenehm unaufgeregte und doch stark einprägsame Bildsprache unter anderem für Brüste und Brustwachstum, das Rasieren, die Periode oder auch ein so aufgeladenes Thema wie Konsens. Kurze Beschreibungen runden die verschiedene Körperbilder zeigenden Illustrationen ab. Am Ende findet sich schließlich noch ein kurzes Glossar mit einigen der wichtigsten Begriffe.

So ist es beinahe schon erstaunlich zu nennen, welche Menge Berling und Rödel in dieses wirklich fein aufgemachte Buch gepackt haben, ohne dass es überladen wirkt. Seien es die Grundlagen des Rechtsstaats, die einer eher desinteressierten Selma nährgebracht werden, oder eine queere Substory und damit einhergehend recht einfache Aufklärung gegen mögliche Ignoranz, aus der schnell Vorurteile erwachsen („Findest du mich dann auch gut? Wenn du Mädchen gut findest?“ – „Findest du alle Jungs gut, nur weil du Jungs magst?“ – „Nee, gar nicht.“ So einfach ist das nämlich), auch das findet Platz.

Damit sei dieses augenzwinkernde, die Figuren und deren Herausforderungen ernst- aber nicht bitternehmende, herrlich bunte, eingängig illustrierte und schlicht liebevolle Buch nicht nur pubertierenden Menschen, sondern auch solchen, die meinen, diese hinter sich gelassen zu haben, empfohlen. Vielleicht hilft’s ja, manchen Moment dieser „Aneinanderreihung von Peinlichkeiten“ doch noch zu verarbeiten.

AS

PS: Laura Melina Berling ist mit littlefeministblog auch auf Instagram vertreten, duh, es lohnt sich ihr zu folgen; ebenso Hannah Rödel

PPS: Apropos Instagram: Dass wir von mancher Instragram-Bubble, die sich in einem Kreislaufsystem gegenseitig die gleichen Bücher empfiehlt, irritiert sind, haben wir schon hier und da erläutert. Doch gibt’s auch immer wieder Hashtag-Perlen. Wie jene, die sich die geschätzte Kata_____lović und die Bloggerin Celina aka sprachlichessein überlegt haben. Am 26. März ist der vom Hamburger mairisch Verlag initiierte indiebookday; quasi als ganzjährigen Weg dorthin haben die beiden nun den Hashtag #everydayisindiebookday aus der Taufe gehoben. Schöne Sache, lohnt sich mitzumachen, mehr Aufmerksamkeit für unabhängige Verlage und so.

Einen Blick ins Buch gibt es hier.

Laura Melina Berling (Text) und Hannah Rödel (Illustrationen): Selma, Küsse und Kuddelmuddel; Februar 2022; 160 Seiten, mit diversen Farbillustrationen; Hardcover; ISBN 978-3-7011-8230-5; leykam: Buchverlag; 18,00 €; auch als eBook erhältlich

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