Kurz erzählt

Was ist Erfolg? Zumindest in Teilen dürfte Benedict Wells diese Frage beantworten können, denn seine Bücher verkaufen sich ziemlich gut. Um seine großen (und seinen größten) Bestseller soll es hier aber nicht vordergründig gehen, sondern um sein beim Diogenes Verlag erschienenes Buch Die Wahrheit über das Lügen – Zehn Geschichten aus zehn Jahren, das 2018 erstmalig erschien.

Zehn kurzweilige Kurzgeschichten

Der Inhalt ist recht schnell zusammengefasst: Zehn Geschichten auf knapp 250 Seiten, alle unabhängig voneinander, auch wenn sie teils ganz lose zusammenhängen. Zwei der Geschichten stammen aus dem Universum von Wells‘ Bestseller Vom Ende der Einsamkeit und zu beiden gibt es eine kurze Einordnung für diejenigen, die das Hauptwerk nicht gelesen haben. Die Geschichten stammen aus den Jahren 2008 (Ping Pong) bis 2018 (Die Wanderung) und sind unterschiedlich lang. Von einigen kurzen Erzählungen, die gerade einmal etwa zehn Seiten einnehmen bis zur längsten Geschichte, die dem Buch auch seinen Namen gibt: Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen (Hervorhebung im Original) mit mehr als 70 Seiten.

Die Bandbreite seiner Geschichten und Charaktere ist dabei sehr hoch. Von einem gestressten Manager auf Wanderung, einer verzweifelten Autorin, einem überheblichen Verleger in nicht allzu glücklicher Ehe oder einem Mann, der in „Gefangenschaft“ zum Tischtennisprofi wird, ist alles dabei. Auf manche Aspekte und Gedanken muss man sich dabei einlassen, zum Beispiel, dass jemand eine Muse sieht, plötzlich in einem abgeschlossenen Raum aufwacht oder auch eine Zeitreise 30 Jahre in die Vergangenheit durchmacht. Wenn man das aber kann und mag, dann ist die erzählerische Akribie von Wells sehr einnehmend und erinnert ein wenig an die erzählerische Freiheit von Daniel Kehlmanns Ruhm.

Übergreifende Motive

Auch wenn die Erzählungen selbst inhaltlich nur teils und ganz lose zusammenhängen, einige Motive und Themen ziehen sich doch hindurch. Ob es die Geschichte der Schriftstellerin Margo Brodie ist, die erst durch ihre bereits erwähnte Muse Inspiration findet, die Hommage an den Star Wars-Macher George Lucas, dem in der titelgebenden Geschichte seine Idee an seinem Meisterwerk weggenommen wurde, oder die Geschichte der sprechenden Bücher in der Bibliothek (natürlich samt vieler Hauptwerke der Literatur): Vieles spielt sich im erweiterten künstlerischen Bereich ab – Literatur, Film, Sport – und kann durchaus als leichte Kritik an manchen Strukturen in der Branche verstanden werden.

Benedict Wells fotografiert vom fabelhaften Roger Eberhard // © Roger Eberhard

Dazu gehört auch, dass Benedict Wells immer wieder die Frage aufwirft, zu welchem Preis der Erfolg kommt. Die erwähnte Schriftstellerin Margo Brodie beispielsweise schreibt auf Kosten ihrer Muse; Brodies Verleger vernachlässigt in einer anderen Geschichte seine Frau, die ihn lange unterstützt hatte. In der Netflix-Serie Halston hatten wir vor einiger Zeit gesehen, wie sich dieser Erfolg auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirken kann. Und auch der fiktive „Betrug“ an George Lucas hat vermutlich viel mit den Strukturen in Hollywood zu tun, die wir in einer anderen Netflix-Serie, Hollywood, eindrücklich illustriert bekamen. Auch der Disney-Film, Cruella, stellt die Frage nach dem Preis des Erfolgs und wie dieser die Erfolg habenden Menschen in die Einsamkeit treibt – bis hin zu so manchem Todesfall…

Apropos Tod: Ein weiteres Motiv, das bei Benedict Wells immer wieder auftaucht, ist der Tod. In sehr vielen der Geschichten stirbt jemand, geht jemand mit dem Tod eines anderen um oder wird ein baldiger Tod zumindest angedeutet. Das passiert aber nicht auf eine übermäßig romantisierende Art und Weise, sondern ist vielmehr Teil der Erzählung und wird in diese gut eingeflochten. Genau wie der Tod eben auch gut in unserem Leben präsent ist. Eine so beiläufige und doch nicht bedrückende Präsenz wie bei Wells‘ Geschichten ist jedoch sehr… erbaulich?

Der breitere Kontext ist immer wichtig

Viele der Geschichten sollten dabei auch in ihrem zeitlichen Kontext gelesen werden. Die älteste Geschichte beispielsweise, Ping Pong aus dem Jahr 2008, dürfte nichts anderes sein als eine Parabel auf die Verhältnisse in China. Beijing, das 2008 erstmals die Olympischen Sommerspiele ausrichtete, ist bekannt für seine Freiheitseinschränkungen – heute, 13 Jahre später treten sie noch viel deutlicher zutage als damals. Dass Wells ausgerechnet in jenem Jahr eine Geschichte schrieb, in der es um die Gefangenschaft und erzwungenes Training in der lange Zeit als Vorzeigesportart der Chinesen geltenden Disziplin Tischtennis geht, dürfte kein Zufall gewesen sein. Genau wie in diesem Beispiel lässt sich auch an manch anderer Stelle eine tiefere Botschaft erkennen.

Ein klein wenig ärgerlich ist, dass Die Wahrheit über das Lügen wie erwähnt auch zwei Geschichten aus dem Universum von Vom Ende der Einsamkeit enthält. Das ist zwar auch auf der Umschlagsseite des Buchs vermerkt, aber den Hinweis kann man leicht übersehen. Benedict Wells gibt im Vorfeld der beiden Kapitel zwar jeweils eine kleine Einordnung und eines der Kapitel lässt sich damit auch sehr gut lesen. Das zweite aber ist ein direktes Fragment aus dem Buch und gibt wohl einen Hintergrund, der Vom Ende der Einsamkeit in einem anderen Licht erschienen lässt. Da wir auch jenes Buch auf unserer Leseliste haben, haben wir uns entschlossen, dieses Kapitel zum jetzigen Zeitpunkt zu überspringen. Wir werden aber darauf zurückkommen.

Alles in allem handelt es sich bei Die Wahrheit über das Lügen aber um eine sehr ausgeglichene und ausgewogene Sammlung von Kurzgeschichten. Auch wenn sie gut leserlich geschrieben sind, entbehren sie allerdings nicht einer teils etwas hintergründigen Botschaft. Wer möchte, kann sich von ihnen aber einfach nur gut unterhalten lassen. Wer hingegen ein bisschen mehr will, den einen oder anderen Denkanstoß zum Beispiel, auch der oder die trifft mit Benedict Wells‘ Die Wahrheit über das Lügen eine sehr gute Wahl. Gerade als Lektüre für graue Herbsttage eignet sich das Buch somit sehr gut.

HMS

Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen; 1. Auflage, Juli 2020; Taschenbuch; 256 Seiten; ISBN: 978-3-257-24524-0; Diogenes Verlag; 13,00 €, auch als ebook erhältlich

Titelbild: Das Buchcover auf einer Fotografie wunderbaren kreativen Chaos‘ von Bernd Schwabedissen/Getty Images

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