Schmutz aufgewirbelt

Der Krieg in Tschetschenien gehört zu den wohl am längsten währenden in Europa. Und zu den am meisten vergessenen. Anfang der 1990er-Jahre in den Wirren des Zerfalls der Sowjetunion aufgeflammt und mit Antritt des noch jungen Wladimir Putin 1999 noch einmal weiter befeuert, handelt es sich um einen der brutalsten und gefährlichsten Konflikte unserer Zeit.

Anna Politkowskaja, eine der mutigsten Journalistinnen hat Lager in Tschetschenien besucht – und wäre fast nicht mehr herausgekommen // © Igort/Reprodukt

Von dort und generell über diesen Krieg zu berichten ist ein großes Wagnis, das nicht wenige mit dem Leben bezahlen. Die wohl berühmteste Person, die dem zum Opfer fiel, ist die russische Journalistin Anna Politkowskaja, die 2007 in Moskau ermordet wurde. Sie, ihre Berichterstattung und generell die vielfach menschenverachtende Situation in Tschetschenien stehen im Mittelpunkt der Graphic Novel Berichte aus Russland – Der vergessene Krieg im Kaukasus des italienischrussischen Künstlers Igort, die bereits 2012 im Reprodukt Verlag erschienen, aber alles andere als überholt ist und 2022 neu aufgelegt wurde.

Eine Frau als Ankerpunkt

Anna Politkowskaja ist wie erwähnt die wohl berühmteste Person, die Zeugnis über das abgelegt hat, was in Tschetschenien vor sich ging – und mit größter Wahrscheinlichkeit immer noch geht. Sie berichtete von Folter und Unterdrückung von Menschenrechtsverbrechen und einem knallharten Regime des Potentaten Ramsan Kadyrow – von Putins Gnaden. Es ist daher folgerichtig, dass Igort sich in seiner Graphic Novel an dem Wirken und den Berichten dieser Frau orientiert.

Ackerman – Freundin und Übersetzerin von Anna Politkowskaja – begegnen wir mehrfach. Sie ordnet die Situation in Tschetschenien für uns ein // © Igort/Reprodukt

Er – und wir mit ihm – besucht das frühere Wohnhaus der Reporterin in Moskau und zeichnet wesentliche Stationen ihres Lebens und ihres Wirkens in Zusammenhang mit dem Krieg in Tschetschenien nach. Darunter fallen die Geiselnahmen im Dubrowka-Theater 2002 und in einer Schule in Beslan 2004, aber auch Politkowskajas Besuche tschetschenischer Lager oder ein Giftanschlag auf sie. Auch ihre Übersetzerin und Freundin Galina Ackerman in Paris sucht Igort in seiner Geschichte wiederholt auf.

Dem Grauen nicht entronnen

Damit sein Buch nicht einer Art Hagiographie für Politkowskaja gleicht, streut er die Perspektiven weiterer Menschen dazwischen, die Berichte aus dem Kaukasus liefern. Ein junger Soldat beispielsweise, der sich für den Dienst in der Armee meldete – unwissend, worauf er sich eingelassen hat. Oder aber auch die Berichte von Opfern von Misshandlung und barbarischer Gewalt. Wir sehen auf jeweils wenigen Seiten die Geschichten zumeist junger Menschen, die dem Grauen vielleicht entronnen sind, ihn aber in ihrem Alltag immer noch in schmerzlicher Erinnerung haben – und mit den Konsequenzen wie Traumata oder Verstümmelungen noch heute leben müssen.

Ein junger Russe beschreibt die Gräuel, die er und seine Kollegen in Tschetschenien verübten. Das Kapitel ist überschrieben mit „Mein Heldenleben“ // © Igort/Reprodukt

Auch die Geschichte des Konflikts, der bereits mehrere Jahrhunderte zurückreicht, bleibt nicht außen vor. Ob es die Eroberungszüge unter Katharina der Großen waren oder die stalinistischen Deportationen, vieles wird von Igort angesprochen, allerdings bleibt einiges hier auch im Vagen. Damit die Leserinnen und Leser dieser Graphic Novel einen Eindruck von diesen Aspekten bekommen, benötigen sie am besten etwas mehr Wissen um Russlands Geschichte. Die Deportationen unter Stalin beispielsweise werden eher kurz angedeutet, aber um verstehen zu können, welchen Einfluss sie auf das kollektive Bewusstsein der Tschetscheninnen und Tschetschenen bis heute haben, ist das hier vermittelte Wissen wohl nicht tiefgehend genug.

Die wohl grausamsten Orte der Welt

Das heißt allerdings nicht, dass die Eindrücke aus Igorts etwa 15 kurzen Geschichten nicht dennoch lehrreich und eindrücklich sind, ganz im Gegenteil. In Bezug auf Politkowskaja schildert er genau ihre Handlungsmotive und die von ihr und über sie überlieferten Begebenheiten. Gerade die Literatur Dostojewskis, der in diesem Band auch nicht fehlt, hat sie wohl in ihren Motiven geprägt. Die Geschichten über Folterungen und Missbrauch, die an Menschen in Tschetschenien verübt werden, sind grausam und glaubhaft – und vielfach sehen wir diese Methoden in der Ukraine heute wieder.

„Musa“ wurde 2000 in das Filtrationslager Tschernokosowo gebracht. Dort haben sie ihm nicht nur die Wirbelsäule gebrochen // © Igort/Reprodukt

Das dürfte nicht überraschen, denn die Wagner-Söldner oder Kadyrows Schergen sind dort bekanntermaßen ebenfalls aktiv. Filtrationslager wie das in Tschernokosowo im Norden Tschetscheniens sind vermutlich einer der grausamsten Orte, die jemand unfreiwillig besuchen muss. Und in der Ukraine wurden sie wieder eingerichtet – mit dramatischen Folgen für viele Menschen.

Traurig-anschaulich und dennoch wirkmächtig

Die Geschichten lassen sich leicht voneinander abgrenzen, hat doch jede ein eigenes darstellerisches Muster oder Merkmal. Die Übersetzerin in Paris beispielsweise hat großen Wiedererkennungswert, grausame Szenen sind in relativ kräftige und dennoch von einem stetigen Grauschleier begleiteten Rot- oder Schwarztöne getaucht. Eingerahmt werden die Episoden jeweils durch ein einleitendes Deckblatt in der Optik eines Notizzettels. Und obwohl die kurzen Geschichten jeweils für sich selbst stehen, hängen doch viele miteinander zusammen.

Igort gewährt uns immer auch einen kleinen Einblick in die russische Geschichte // © Igort/Reprodukt

So ist Berichte aus Russland ein traurig-anschauliches, aber dennoch sehr wirkmächtiges Dokument, eine Zusammenstellung von Grausamkeiten der russischen Armee und der tschetschenischen Schergen von Putin und Kadyrow. Und es ist gleichermaßen eine Würdigung von Anna Politkowskaja, eine der wohl mutigsten und wirkmächtigsten Frauen, die Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion gesehen haben dürfte. Igorts Zusammenstellung von Geschichten in ansprechenden und dennoch aufrüttelnden Zeichnungen ist auch mehr als zehn Jahre nach deren erstem Erscheinen immer noch ein wichtiges Zeugnis über eine Region und einen Krieg, aus dem aus Gefahr für Leib und Leben viel zu wenig berichtet wird.

HMS

PS: Natürlich darf in diesem Zusammenhang nicht die überaus bedrückende und dennoch wichtige Dokumentation Welcome to Chechnya vergessen werden, die über das Leben und die Flucht queerer Personen aus der russischen Teilrepublik berichtet. Einmal wird dieses Thema in Igorts Buch dezent angerissen, aber eingehend behandelt wird es leider nicht. Gleichzeitig sehen wir genug anderes Leid dargestellt, sodass wir über diese kleine Schwäche hinwegsehen können.

Igort: Berichte aus Russland – Der vergessene Krieg im Kaukasus; September 2012, Neuauflage Mai 2022; Aus dem Italienischen von Federica Matteoni, Handlettering von Céline Merrien; 176 Seiten, durchgehend illustriert; Klappenbroschur; Format: 17 x 24 cm; ISBN 978-3-943143-37-9; REPRODUKT; 26,00 €

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