Als alles begann

Rainer Herrn schrieb mit „Der Liebe und dem Leid“ die beeindruckende Geschichte vom Aufstieg und Fall des Instituts für Sexualwissenschaft und setzt seinem Gründer Magnus Hirschfeld ein Denkmal.

Von Nora Eckert

Würde es das Institutsgebäude heute noch geben, stünde es direkt neben dem Bundeskanzleramt. Das war schon damals eine prominente Wohnadresse und hatte die postalische Bezeichnung „In den Zelten“. Wie uns Rainer Herrn erklärt, war der Standort des Hauses für sich schon Programm. Denn der in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Tiergarten war in der Kaiserzeit zu einem „erotischen Erlebnisraum“ aufgestiegen, zu einem nächtlichen Biotop für homosexuelle Lust – und ist es bis heute geblieben. Das Institut für Sexualwissenschaft siedelte also nah an der „Kundschaft“ und signalisierte darüber hinaus durch seine Lage so etwas wie Reputation. Auch darin vermutet Herrn eine bewusste Demonstration. Denn einerseits lieferte Magnus Hirschfeld als Käufer der Immobilie einen Beleg für seinen Wohlstand, andererseits sollte dadurch wohl „das Ansehen seiner bis dahin akademisch (noch) nicht etablierten Disziplin, der Sexualwissenschaft“, gefördert werden.

Magnus Hirschfeld vor der Bibliothek // Bild: Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin

Doch die Rechnung ging am Ende nicht auf – weder was den Einzug in den akademischen Wissenschaftskanon noch was den von Hirschfeld wesentlich mitgeprägten Kampf um die Abschaffung des berühmt-berüchtigten § 175 anlangt. Alle Hoffnungen und Bemühungen endeten abrupt 1933, als die Nazis die politische Macht übernahmen. Der organisierte Kampf um Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, der in der Weimarer Zeit durch die Arbeit des Instituts und des dort beheimateten Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) an Fahrt aufnahm, war vom einen auf den andern Tag verloren und zunichte gemacht. Die Nazis lieferten schon in den ersten Wochen ihrer Macht ein Beispiel dafür, was „Cancel Culture“ wirklich bedeutet, wenn die politisch Reaktionären das Sagen haben. Wie uns das 21. Jahrhundert lehrt, hat sich an der Gefahr durch Rechtsradikalität nichts geändert, wo es um Freiheitsrechte und Demokratie geht – und das mitten in Europa. Deshalb ist deren Homo– und Trans*feindlichkeit im Grunde nur ein Symptom für eine tiefsitzende Demokratiefeindlichkeit. Das sollten wir nicht aus dem Blick verlieren und vor allem sieht so praktizierte Cancel Culture als Teil der Politik aus.

Was der Medizinhistoriker Rainer Herrn auf fast 700 Seiten vorlegt, ist zum einen ein Lebenswerk, an dem er mit Unterbrechungen über Jahrzehnte arbeitete, und es ist zum anderen nichts weniger als ein Standardwerk geworden, denn vollständiger wird man die vierzehn Jahre, die das Institut zu einem internationalen Zentrum der Sexuologie werden ließen, nicht darstellen können. Erfreulich zudem, wie lesbar das Ganze gelungen ist und wie spannend dem Autor die Vermischung von wissenschaftlicher Arbeit, queerem Lebensalltag (wie wir heute sagen würden), internem Konkurrenzkampf samt Intrigenspiel und politischen Entwicklungen gelingt. Denn was sich in der Geschichte des Instituts abbildet, ist ja zugleich eine mentalitätsgeschichtliche Tour d’horizon durch die Jahre der Weimarer Republik, deren Liberalität 1933 schließlich ebenso scheitert wie das Institut und seine Akteure, die auf Liberalität bauten.

Zentralgestalt in diesem Monumentalwerk ist und bleibt Magnus Hirschfeld. Sein wissenschaftliches Lieblingskind heißt Zwischenstufentheorie. Sie geht davon aus, dass Menschen in sexueller und geschlechtlicher Hinsicht stets Normvarianten darstellen. Wobei die Frage erlaubt sei, warum es dann überhaupt einer Norm als Bezugsrahmen bedarf, wenn es nur Varianten gibt. Hirschfeld profitierte wiederum von Karl Heinrich Ulrichs Theorie, der im 19. Jahrhundert Homosexualität nicht als Krankheit, sondern als ein „Naturspiel“ bezeichnete, das angeboren sei und „eine zwitterähnliche besondere geschlechtliche Menschenklasse“ bilde, wofür Ulrich die Formel „wir sind geistig Weib“ und den Begriff „drittes Geschlecht“ fand. Doch habe, wie Herrn feststellt, die Zwischenstufentheorie bereits Anfang der zwanziger Jahre „als sexualpolitisches Instrument an Überzeugungskraft verloren“. 

Kostümfest im Institut // Bild: Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin

Wir erkennen daran zugleich, dass sich Wissenschaftsgeschichte immer auch als eine Geschichte der Irrtümer und Mutmaßungen erzählen lässt, ganz abgesehen von einer niemals wertneutralen Abhängigkeit von Erkenntnis und Interesse. Gerade die gegenwärtig aufschäumende Debatte um das biologische Geschlecht zeigt, welche Erkenntnisse ein bestimmtes Interesse hervorbringt. Offenbar gab es schon immer eine Angst vor Minderheiten und damit das Bedürfnis der Eindämmung und Ausgrenzung durch Pathologisierung und Kriminalisierung.

Das Institut entwickelte sich rasch zu einer Attraktion, „dessen Besuch bei Politikern unterschiedlicher Couleur, bei Organisationen und Berufsverbänden, bei in- und ausländischen Gästen zum Pflichtprogramm gehörte“. Ein besonderer Magnet waren die umfangreichen Schausammlungen, für die eigens Führungen angeboten wurden. Gerade die Konstitutionsforschung, die eine Zeitlang en vogue war am Institut, drängte förmlich zur Visualisierung. Man glaubte, im Körperbau Hinweise zu finden auf die sexuelle Orientierung. Und so entstand eine Galerie, die diese Theorie fotografisch belegen sollte. Herrn nennt es „gesammelte Leidenschaften“. Nicht unproblematisch ist dabei der tendenzielle Voyeurismus. Und natürlich war die Schau nicht von einem pathologisierenden Kontext zu trennen. Der russische Filmregisseur Sergej Eisenstein besuchte 1932 das Institut und empfand die Schausammlung als „unangenehme Einrichtung“, als eine Mischung aus Marktplatz gefährlicher Leidenschaften und einer Art psychologischem „anatomischen Theater“. Dass es auch diskriminierungsfreie Bildarchive geben kann, zeigte übrigens jüngst eine Fotoausstellung im Martin-Gropius-Bau mit dem Fotoprojekt „Faces and Phases“ der Südafrikaner*in Zanele Muholi.

Die Räume des Wissenschaftlich-humanitären Komitees // Bild: Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin

Auch die Medikalisierung von Sexualität nahm damals ihren Anfang, wobei das geschäftliche Interesse rasch in den Vordergrund rückte. So wurde die Zusammenarbeit zwischen dem Institut und der Pharmaindustrie immer wichtiger – etwa auch im Bereich der Empfängnisverhütung und der Behandlung von Geschlechtskrankheiten. Wie ja überhaupt ein Großteil der Beratungstätigkeit heterosexuellen Menschen gewidmet war und sexuelle Aufklärung ebenso betraf wie die Eheberatung. Bei der Medikamentenentwicklung sei es auch darum gegangen, so Rainer Herrn, ein Krankheitskonzept zu entwerfen, „das die Wirkung der Medikamente schlüssig erklärte“. Und auch dies gehört zu den Feststellungen des Autors: „Trotz noch ungesicherten Wissens und kontroverser Debatten über den Einfluss der Geschlechtshormone auf die Sexualität hatte sich das endokrinologische Paradigma in der Sexualwissenschaft der zwanziger Jahre endgültig etabliert.“

Mit Blick auf das Thema trans* (damals sprach man grundsätzlich von Transvestiten) sollte die Medikalisierung noch mehr Gewicht bekommen und vor allem in Verbindung mit der Chirurgie. Begonnen hatte die „Sexualtherapie mit dem Skalpell“ mit der bizarren Vorstellung, man könne Homosexualität „wegoperieren“, indem die Hoden entfernt und durch solche von heterosexuell-virilen Männern ersetzt wurden. Daraus entstand eine Zeitlang ein regelrechter „Hoden-Handel“. Schon bald wurde jedoch klar, dass kein Homosexueller auf diese Weise jemals zu einem Heterosexuellen wurde. Dass man das trans*Sein ebenfalls wegoperieren könne, verfestigte sich später in den 1960er Jahren zur medizinischen Annahme. Das Geschäftsmodell der geschlechtsangleichenden Operation gilt bis heute als unangefochten.

Das trans*Thema rückt erst spät in den Fokus. Hirschfeld plädierte bei der Geschlechtsbestimmung für das „psychische Verhalten“ als ausschlaggebend: „Über die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen entscheidet nicht sein Leib, sondern seine Seele, nicht die Meinung eines Sachverständigen, sondern das eigene Empfinden ist maßgebend […]. Wir haben kein Recht, einem Menschen, der Weib sein will, zu sagen: ‚Du bist ein Mann‘ oder jemandem, der ein Mann sein möchte, zu befehlen: ‚Bleibe Weib!‘ […].“

Hirschfeld war es auch, der in Zusammenarbeit mit der Berliner Polizei eine Alltagserleichterung für Transmenschen erreichte, die damals, wie schon erwähnt, generell Transvestiten genannt wurden. Die Erleichterung hieß „Transvestitenschein“, der beispielsweise vor Verhaftung wegen sogenannter „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ schützte. Der Wunsch nach körperlichen Veränderungen spielte erst in dem Augenblick eine Rolle, als dafür ein entsprechendes Angebot bestand. Vorher, so Hirschfelds Beobachtung, gab es keine Operationswünsche. Überhaupt sah er in der Tendenz zur chirurgischen Körperveränderung einen eher bedenklichen Irrweg, wie überhaupt die ausführende Medizin das Resultat aus Kastration und Penisamputation als „Geschlechtslosigkeit“ definierte.

Ende 1930 bricht Hirschfeld zu einer Weltreise auf und erreicht zunächst New York. Das ihm entgegenbrachte Interesse ist überall groß. Er wird zu Vorträgen eingeladen und erfährt allergrößte Aufmerksamkeit. Daheim in Berlin ist die Aufmerksamkeit von ganz anderer Natur, denn dort steigt der politische Druck durch das Erstarken der rechten Kräfte an. Hirschfeld wurde zum Feindbild für die Nazis. Anlässlich seines 60. Geburtstages schrieb Joseph Goebbels im „Angriff“: Hirschfelds Lebenswerk sei „rassischer Unzucht gewidmet“ und er sei einer „der homosexuellen Schutzheiligen“. Sein Institut werde nach der siegreichen „deutschen Revolution“ zugeklappt, „und zwar mit hörbarem Ruck“. Genau so kam es. Im Mai 1933 kam es zu wiederholten Plünderungen und Zerstörungen. Es kam zu den bekannten Bücherverbrennungen. Ein Großteil der wertvollen Bibliothek wurde jedoch versteigert. Jüdische Mitarbeiter des Instituts wurden später deportiert oder nahmen sich vorher das Leben, anderen gelang die Emigration. Hirschfeld kehrte nicht wieder nach Berlin zurück, sondern lebte vorübergehend in Paris und zuletzt in Nizza, wo er am 14. Mai 1935 verstarb.

Rainer Herrn gelingt etwas Paradoxes, er baut Magnus Hirschfeld ein Denkmal, und indem er ihn als Helden einer schwulen Emanzipationsgeschichte inthronisiert, entzaubert er ihn zugleich. Das Entscheidende, dass er dieser so umtriebigen, leidenschaftlichen, genialen wie widersprüchlichen Figur Hirschfeld tatsächlich gerecht wird. Und das Rezept dafür ist denkbar einfach – er gibt ihm menschlich recht in seiner Widersprüchlichkeit.

Nora Eckert ist Publizistin und Ausführender Vorstand bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933; Juni 2022; Hardcover mit Schutzumschlag; 681 Seiten; ISBN: 978-3-518-43054-5; Suhrkamp Verlag; 36,00 €; auch als eBook erhältlich

Hinweis: Der 1957 geborene Medizinhistoriker (Schwerpunkte: Geschichte der Psychiatrie sowie geschlechtlicher und sexueller Minderheiten) Rainer Herrn arbeitet seit 1991 an der Forschungsstelle zur Geschichte der Sexualwissenschaft der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und seit 2008 am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité. Gegründet wurde die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft 1982, um das wissenschaftliche und kulturelle Erbe des Sexualforschers Magnus Hirschfeld (1868–1935) und seines Instituts für Sexualwissenschaft zu erforschen und zu bewahren. Die Bibliotheks- und Arbeitsräume befinden sich in der Kluckstraße 38 in Berlin-Tiergarten.

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