Wurzeltriebe in Nova Scotia

Erst kürzlich schrieben wir erneut, was für ein herausforderndes und aufreibendes, seltsames Jahr 2022 doch gewesen ist. Nun, wo sich dieses Jahr voller Veränderungen dem Ende entgegen neigt und ein Jahr 2023 nicht zu rosig am Horizont glimmt, wäre es eigentlich doch mal an der Zeit, sich gut zu fühlen. Da dafür nach Sichtung der ersten zwei Folgen der zweiten RTL+Sisi-Staffel diese laaaangatmige Serie nicht in Frage kommt, muss eine Alternative her. 

Eine Lüge und ihr Ende

Doch wie es mit willkommenen Feel-Good-Alternativen gern manches Mal der Fall ist, sind diese äußerst exklusiv. So auch der Film Wildhood, produziert, geschrieben und inszeniert von Bretten Hannam, einer nicht-binären, Two Spirit Mi’kmaq Person, geboren und aufgewachsen in Nova Scotia, Kanada, dem ehemaligen Stammesgebiet der Mi’kmaq. Hier ist auch der wunderbare Coming-of-Age-Film angesiedelt, den der deutsche Verleih Salzgeber im Dezember im Rahmen der Queerfilmnacht als Sondervorstellungen in einige wenige Kinos bringt.

Link (Phillip Lewitski), sein Halbbruder Travis (keck: Avery Winters-Anthony) und Mi’kmaq-Two Spirit Pasmay (Joshua Odjick) // © Salzgeber

In dem auf einem Kurzfilm Hannams basierenden Spielfilm folgen wir dem 16-jährigen Lincoln, „Link“, (eine Entdeckung: Phillip Lewitski) und seinem jüngeren, einäugigen Halbbruder Travis (keck: Avery Winters-Anthony) auf der Suche nach Links leiblicher, indigener Mutter. Der gewalttätige, weiße Vater (solide widerlich: Joel Thomas Hynes) hatte seinem Sohn glauben gemacht, dass seine Mutter Sarah (Savonna Spracklin) tot sei. Kurz nachdem Link herausfindet, dass dem nicht so ist, macht er sich mit Travis samt feuriger Geste auf den Weg sie zu finden…

…dabei begegnen sie dem Mi’kmaq-Two Spirit Pasmay (toll: Joshua Odjick), der die beiden erst aus einer brenzligen Situation rettet und sie anschließend auf ihrem Such-Trip begleitet — oder gar führt. Denn nicht nur ist er Reisekompagnon, sondern hilft Lincoln auch dabei, seine indigenen Wurzeln und die Liebe zu entdecken. 

Junge Liebe und kaum Klischees

Bretten Hannam schafft es, uns einhundert Minuten lang gespannt, amüsiert, mitfühlend und -fiebernd die Reise der drei Jungs begleiten zu lassen und dabei nicht einmal einen Ton- oder Stimmungswechsel zu verhauen. Wildhood, der in fabelhaften Bildern von Guy Godfree (u. a. Giant Little Ones) gefilmt ist, wirkt vollkommen organisch, was natürlich auch den authentisch besetzten  Darsteller*innen und der stimmungsvollen, anziehenden Musik von Neil Haverty zu verdanken ist. 

Bretten Hannam (links) mit Phillip Lewitski (rechts) und Joshua Odjick (mitte) // © Salzgeber

Der Film ist weniger ein Produkt als viel mehr ein lehrreiches, kurzweiliges Erlebnis, das manche Finte schlägt und dabei gekonnt beinahe jedem Klischee ausweicht, während es nicht nur die Suche nach der Mutter und somit dem Teil eines Selbst, sondern auch das Aufkeimen einer jungen, queeren Liebe zeigt. Dabei können die drei bissigen Jungs mal fröhlich miteinander schäkern, anschließend einander ergründen und schließlich erbittert streiten. 

Ein unmittelbarer Klassiker

Wenn sie unterwegs auf Smokey (Michael Greyeyes) treffen, der sie in den Club von Mother Mary (fein: John R. Sylliboy) bringt, in dem Sarah gearbeitet haben soll und in dem Link erst einmal Nägel mit Blasen machen muss, werden kleine Brüche durch menschliche Gesten gekittet und nebenher gibt es noch den herrlichsten Austausch des Films: „Who was there?“ — „Some Dyke in a plaid shirt…“ — „That’s my nephew!“ Hat das Zeug zum Klassiker.

Auch mal Sachen waschen: Link (Phillip Lewitski) und Pasmay (Joshua Odjick) // © Salzgeber

Diesen gibt es dann auch nur auf Englisch (natürlich mit Untertiteln), manche Teile von Wildhood laufen allerdings in Mi’gmaq ab, was die Glaubwürdigkeit des Films und seines Anliegens einmal mehr unterstreicht. Zurecht ist der Film auf mehreren Filmfestivals gefeiert und mit diversen Preisen ausgezeichnet worden.

Nicht nur das genannte Zitat hat meiner Meinung nach das Zeug zum Klassiker, sondern auch Wildhood als Film, der uns mit ernsthafter Leichtigkeit den schwierigen und doch nicht unerquicklichen Pfad eines oder gar mehrerer junger Männer zeigt und uns dabei nie vergessen lässt, wie weit Wurzeln reichen und dass sie immer neue Triebe ausbilden können. 

AS

Wildhood wird im Dezember Rahmen der Queerfilmnacht vereinzelt als Sondervorstellung gezeigt— Termine und Orte findet ihr bei Salzgeber

Wildhood; Portugal, Kanada 2021; Drehbuch und Regie: Bretten Hannam; Kamera: Guy Godfree; Musik: Neil Haverty; Darsteller*innen: Phillip Lewitski, Joshua Odjick, Avery Winters-Anthony, Michael Greyeyes, Joel Thomas Hynes, Savonna Spracklin, Samuel Davison, Steve Lund, John R. Sylliboy; Laufzeit ca. 100 Minuten; FSK: 12; Originalfassung in Englisch und Mi’gmaq mit deutschen Untertiteln; eine Produktion von Younger Daughter Films und Rebel Road Films mit Flimshow und Mazewalker Film im Verleih von Salzgeber; im Dezember in ausgewählten Kinos

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