„Leichenhafte Leichen“

Deutsche Kolonialgeschichte – verdrängte Vergangenheit und ein Kapitel, mit dem wir uns kaum auseinanderzusetzen wagen. Und wenn doch, so geht es zumeist „nur“ um das heutige Namibia, in dem deutsche Truppen zwischen 1904 und 1908 einen blutigen Völkermord an den Herero und Nama verübten. Der deutsche Filmemacher Lars Kraume erzählt in seinem im März in die Kinos gekommenen Film Der vermessene Mensch von diesem blutigen Kapitel.

Koloniales Erbe

Deutsche Kolonialgeschichte hat aber deutlich mehr Facetten. Papua-Neuguinea und Togo waren weitere deutsche „Schutzgebiete“, Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck war im heutigen Tansania stationiert und mit der Autorin Tania Blixen bestens bekannt. Und dann gibt es noch das heutige Kamerun, in das Lettow-Vorbeck ab 1913 entsandt wurde, denn auch dieser heutige Staat war einst von Deutschland besetzt, fiel jedoch nach dem Versailler Vertrag 1919 in den Besitz des Völkerbundes und unter die Verwaltung Frankreichs und Großbritanniens.

Erst seit 1960 ist Kamerun ein souveräner Staat und dem ging ein teils harter Unabhängigkeitskampf voran. Aus dieser Zeit stammt der Großteil der Erinnerungen, die der 1986 geborene Max Lobe in seinem Roman Vertraulichkeiten verarbeitet. Das Buch wurde in der Übersetzung von Katharina Triebner-Cabald im Akono Verlag veröffentlicht und ist für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert.

Reise in die Vergangenheit

Lobe, der heute in der Schweiz lebt, aber kamerunische Wurzeln hat, führt seinen Hauptcharakter – sich selbst – zurück in seine Heimat, den Wald der Bassa in der Nähe der Stadt Douala. Dort trifft er die zum Zeitpunkt des Gesprächs etwa achtzigjährige Mâ Malinga, eine der Ältesten des Dorfes, die noch die Kämpfe um die Unabhängigkeit um den 1958 getöteten Anführer Ruben Um Nyobè miterlebt hat.

Mit Mâ Malinga führt Buch-Lobe ein längeres Gespräch, im Zuge dessen sie ihn an einige Stellen der Geschichte um den Unabhängigkeitskämpf führt. Um Nyobès Grab beispielsweise oder ein Lager, in dem viele der Bewohnerinnen und Bewohner eine Weile interniert waren. Bei „Gespräch“ ist allerdings einzuräumen, dass es sich eher um lange, lange Erzählungen und Monologe handelt, in denen Mâ Malinga die Geschehnisse sowie ihre Eindrücke und Empfindungen von damals schildert. Auch wenn es sich eindeutig um ein Gespräch handelt, ist es über große Strecken nur Mâ Malinga, die aktiv zu Wort kommt.

Wenn der Palmwein spricht…

Alle zwei bis drei Kapitel wird dieser Schwall an Eindrücken und Erzählungen jedoch unterbrochen und der Erzähler selbst, also Lobe, tritt auf einer zweiten Ebene auf die Bühne. Er erzählt von Eindrücken aus dem Land, dem Besuch einer Bar, unterwegs mit Verwandten, die vielfach trostlose Realität im Alltag vieler Menschen in Kamerun. Viele haben keine Perspektive, flüchten sich in den Alkohol und illegale Machenschaften. Lobe hingegen scheint offenkundig nicht „von dort“ zu sein und er beschreibt, wie ihn sein Habitus direkt von etwa Gleichaltrigen in Kamerun unterscheidet.

Diese Einschübe des Autoren und Erzählers sind eine willkommene Abwechslung in der bewusstseinsstromartigen Erzählung von Mâ Malinga. Es ist nicht ganz sicher zu sagen, aber es könnte der viele Palmwein sein, der ihre Zunge so redselig werden lässt. Über die ganzen 260 Seiten hinweg erzählt Mâ Malinga viel, sehr viel. Manches wiederholt sich, oft scheint sie ihren Gedanken freien Lauf zu lassen und vom Thema abzuschweifen, um am Ende aber doch zumeist noch einmal zurück auf den eigentlichen Punkt zu kommen.

Anstrengend, aber aufschlussreich

Wie das gerne so ist mit älteren Menschen (und haben nicht viele von uns den Opa, die Oma oder den Nachbarn, die stundenlang „vom Krieg“ erzählen oder wieso früher alles besser gewesen sein soll?), in ihnen schlummert ein reicher Schatz an Erfahrungen und Eindrücken und viele, wenn sie einmal begonnen haben, hören nicht mehr auf zu erzählen. So ging es mir bei der Lektüre von Vertraulichkeiten. Es war anstrengend, den ausschweifenden Erzählungen von Mâ Malinga zu folgen, gleichsam aber interessant und aufschlussreich.

Allerdings – und das mag für mich in der Fülle an Gedanken, die Max Lobe hier in der Figur von Mâ Malinga verpackt – über den Unabhängigkeitskrieg selbst oder den genannten Anführer Ruben Um Nyobè habe ich am Ende relativ wenig gelernt. Das mag auch daran liegen, dass es viele andere Schauplätze der Geschichte gibt, dass Mâ Malinga das Leben im Lager schauerlich und eindrücklich beschreibt oder an manches vielleicht auch keine Erinnerung mehr hat, aber dennoch konnte ich von Um Nyobès „Präsenz, die sich von Anfang bis Ende durch dein Buch zieht“, wie es in einem dem Text hintangestellten Brief an Max Lobe von Alain Mabanckou (über den wir leider nicht mehr erfahren) heißt, nicht so viel spüren. Auch wenn das Buch keine klassische Biografie eines Freiheitskämpfers ist, die Personalisierung auf Um Nyobè, die im Klappentext suggeriert wird, findet eher am Rande statt – oder so sehr zwischen den Zeilen, dass ich sie nicht hinreichend wahrnehmen konnte.

Keine leichte Kost

Für das Verständnis und die bessere Zuordnung der Figuren hilft es, dass die für Westeuropäerinnen und Westeuropäer ungewohnt klingenden Stammesnamen einzelner Personen meist mit den von den Kolonialisten vergebenen (ein selbstverständlich dennoch nicht zu akzeptierendes Muster) europäischen Namen zusammengestellt werden. Was diesem Buch allerdings noch gutgetan hätte, wäre eine Art Glossar mit bestimmten Begriffen – selbst wenn es nur verschiedene für die Region oder die Bassa typische Ausrufe und Emotionsbekundungen sind.

Nichtsdestoweniger ist die Übersetzung von Katharina Triebner-Cabald überaus eingängig und einfühlsam und bereitet uns auf jeden Fall mehr Lust auf Geschichten von Max Lobe. Vertraulichkeiten ist ein Buch, das von einer düsteren Vergangenheit berichtet, die Erinnerung an die Gräuel des Kolonialismus erinnert, die noch weit nach dem Zweiten Weltkrieg viele Menschen erdulden mussten und oft noch heute darunter leiden. Die Begegnung mit Mâ Malinga ist nicht unbedingt die leichteste Kost und Leserinnen und Leser müssen sehr auf die Lektüre fokussiert sein. Aber gleichsam lässt sich viel daraus für unsere Gegenwart und die Aufarbeitung der Vergangenheit lernen.

HMS

Hinweis: Am morgigen Donnerstag, den 20. April 2023, werden um 19:30 Uhr die in der Kategorie Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse Nominierten im Literarischen Colloquium vorgestellt. Neben Katharina Triebner-Cabald für ihre Übersetzung von Vertraulichkeiten sind das: Nicole Nau übersetzte Zigmunds Skujiņš Das Bett mit dem Goldenen Bein. Legende einer Familie (mare, 2022) aus dem Lettischen; Brigitte Oleschinski und Osman Yousufi übertrugen Lina Atfahs Gedichtband Grabtuch aus Schmetterlingen (Pendragon, 2022) aus dem Arabischen; Antje Rávik Strubel brachte Monika Fagerholms Wer hat Bambi getötet (Residenz, 2022) aus dem Schwedischen ins Deutsche; Johanna Schwering verdanken wir eine deutsche Fassung von Aurora Venturinis Die Cousinen (aus dem argentinischen Spanisch, dtv, 2022)

Der Deutschlandfunk Kultur sendet die Aufzeichnung am 23. April 2023 um 22:03 Uhr.

Max Lobe: Vertraulichkeiten; August 2022; Aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald; 268 Seiten; Softcover; ISBN 978-3-949554-07-0; Akono Verlag; 20,00 €

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