„Warum sollten wir stabiler sein als unsere Währung?“

„Dieses Jahr stellt die Herzen, die Köpfe und die Seelen auf die Probe.“ Dieser Satz stammt nicht etwa aus einer verpassten Rede Angela Merkels während der Corona-Krisenhochzeit, noch aus einer Versöhnungstheater-Geschichte Johannes Raus oder Willy Brandts. Auch kommt er nicht von Wolodymyr Selenskyj. Nein, er steht im Monat Juli des Buches 1923 — Endstation. Alles einsteigen! von Peter Süß, das im vergangenen Jahr im Berenberg Verlag erschienen ist. Süß kommentiert damit einen Beitrag eines „der wichtigsten deutschen Schriftsteller der 1920er Jahre“, nämlich Stefan Zweig.

Die Inflation ist da — wie heute, nur in richtig hart — das Land fährt irgendwie vor die Hunde. Alle ahnen es, kaum ein Mensch will es wahrhaben, das Leben dreht sich weiter und wenn es stockt, wird am Rad gedreht. Anhand der Ereignisse am Abend des 8. sowie Morgen und Vormittag des 9. Novembers 1923 zeichnet Süß die Skizze eines Sittenbildes, einer Menschenstudie … einen Abriss von allem, was war und sein wird. Vielleicht sogar dessen, was hätte stattdessen sein können. Es war ein Jahr vieler verpasster Chancen. 

„In den Zirkus, um Hitler zu sehen“

Es soll sich hier nun gar nicht in einer großen Analyse des Buches ergangen werden. Der Versuch würde dazu verleiten, den Ton Süß’ zu treffen — eine Bemühung, die nur vortrefflich zum Scheitern verdammt wäre. Um an dieser Stelle aber einmal einen Anglizismus oder eher ein englisches Wort zu bemühen: Doomed schien auch das Jahr 1923. Und was und wer nicht schon verloren war, die oder der sollte folgen, so scheint es, wenn wir uns das illustre Beieinander von Namen in diesem 1923 anschauen. 

Wohin es mit Carl Schmitt und Ernst Jünger gehen wird, das wissen viele interessierte Leser*innen. Wie die Mann-Männer nicht nur in diesem Jahr (ver)zweifeln wohl ebenso; einen auf seine Art aufrichtigen Brecht (der für die Nazis den Begriff „Mahagony“ erfand) beim aufbäumenden Beginn des Verbrechens zu beobachten, ist spannend; Kurt Tucholsky wusste, im Gegensatz zum ewig mit den sich abzeichnenden Veränderungen zaudernden Erich Kästner, von früh an, welche Düsternis hier durch einen Adolf Hitler und allen Dazugehörigen heranzieht.

„Über den Ku’damm promenieren geschminkte Jungs“

Marlene Dietrich und Rudolf Sieber gehen eine offene und bisexuell gelebte Ehe ein, die NSDAP findet ihren ersten Märtyrer und Adolf Hitler bekommt von Helene Bechstein seine Hundepeitsche  (ja ihr Lieben, nicht jede*r „-stein“ ist jüdisch); Lotte Lena und Kurt Weill führen eine aufrichtige Ehe, was zwar „sehr, sehr schwer. Aber nicht das schlechteste Rezept“ für ebendiese ist. Ernst Kirchner ist garstig, Käthe Kollwitz ist sich ihrer Eifersucht bewusst und produktiv: „Nie wieder Krieg!“ (Ein Slogan, der aktuell gerade leider von Anti-Ukraine-Apologet*innen vereinnahmt wird.) Kokain und Morphium sind hip, Alkohol sowieso — auch wenn in den USA Mabel Walker Willebrandt mehr oder minder widerwillig, aber doch entschlossen bemüht ist, die Prohibition zu perfektionieren. Aber wer nicht eskaliert, ist nicht kreativ. Jedenfalls wenn es nach Hans Fallada und seinem Pistolenschwung geht. Und Bayern ist, ganz heutig, weit vorn dabei, wenn es gilt, die Ersten der Reaktionären zu sein. 

„München bemüht sich indessen hartnäckig, das große Problem der deutschen Republik zu bleiben. Ihre bunte, zauberhafte Kulisse hat dazu verführt, die Stadt an der Isar für etwas Besonderes zu halten. Das internationale Flair bis 1914 hat ihr ein luftig-leichtes Antlitz beschert, ein nicht übertriebener Klerikalismus sogar manch heitere Note. Doch nichts ist von Dauer und München maßlos überschätzt: eine Provinzstadt ohne geistigen Kern, eine gereizte Bürgerlichkeit ohne Bonhomie, ein braunes Rowdytum ohne Pardon“

Peter Süß, 1923; S. 90; manches ändert sich nie und überträgt sich auf den ganzen Freistaat; ob nun Herzogpark bei RTL+ oder Hans Pleschinskis Am Götterbaum — die Provinz bleibt. 

Natürlich wird auch die Ruhrbesetzung nicht vergessen, die Raymond Poincaré, 1923 Ministerpräsident und Außenminister Frankreichs und der international weniger wohl gelittene Cousin des bedeutenden Mathematikers Henri Poincaré (das steht nicht im Buch, diese Information gibt es gratis von uns dazu), als eine Art produktive Pfändung deklarierte. Im Gegensatz zu Mark Jones’ 1923. Ein deutsches Trauma findet diese hier allerdings eher als ein im Hintergrund summender Chor statt. 

„Milliardäre hungern“

Lasst uns aber festhalten, dass das Wissen um diese und welchen Einfluss sie auf die Entwicklungen Deutschlands, nicht nur in diesem Jahr 1923, sondern auch darüber hinaus hat, immer eine Rolle im Band von Peter Süß spielt. So auch der unweigerliche Putschversuch Adolf Hitlers am 8. und 9. November 1923 im Münchener Bürgerbräukeller. Hier erweist es sich als sehr clever vom Soap-erfahrenen Autoren, dass er einen Großteil der Ereignisse bereits in der „Aufblende“ abarbeitet. Dies recht minutiös, und so zum einen den Weg zu einem sehr genau beschriebenen Ereignis bewörtern kann und zum anderen im Novemberkapitel keinen tonalen Bruch riskiert, um über zehn Seiten hinweg die Ereignisse zu beschreiben.

Wenn Süß etwa im Oktober vom Konflikt zwischen Thomas Mann und Gerhart Hauptmann, nachdem Mann diesen als Vorbild für seinen Zauberberg-Peeperkorn nahm, zu berichten weiß, füllt das schnell mehrere Seiten. Und so unterhaltsam wie exemplarisch diese Peeperkorn-Affäre (heute würden wir es wohl PeeperMann-Gate nennen) auch sein mag, so sehr denken wir auch, dass sie im Vergleich zu anderen Momenten gefühlt Platz über Gebühr einnimmt.

„Ein Debakel bahnt sich an“

Dennoch wollen wir nicht so gnadenlos wie Kafka sein, der „von unerbittlicher Strenge“ war und das Buch von Peter Süß erst recht nicht so fallen lassen, wie Henny Porten Asta Nielsen beim Dreh von I. N. R. I. oder gar ins Setting springen und jemanden totbeißen. Nein, nein. Es findet sich zu viel zu Gutes in 1923, als dass wir zwischen all den anekdotischen Highlights sonderliche Schwächen auszumachen vermögen (obwohl… aber das folgt weiter unten). 

Wenn es nach dem Kunsthistoriker Alfred Dreyfus heißt, dass alles „was von Picasso an Äußerungen bekannt sei, würde die Zensur mit ‚ungenügend‘ benoten.“ Zu Gustav Ritter von Kahr, dass er „noch im Sitzen“ stolziere oder über die talentierte Schau-Diebin Dora Röber, über die gesagt wurde, dass sie eine „mannstolle, hysterische Königin der Diebe“ sei, und Süß dies mit einem Kommentar Émile Zolas über die die Frauen verführenden Warenhäuser kombiniert. Zu Leni Riefenstahl schreibt, dass ihr Rezept, allein an dekorativer Wirkung interessiert zu sein, noch sehr viel Erfolg mit sich bringen wird. Wenn der Autor erneut Brecht zitiert: „nachdem die nächstliegenden dummheiten erschöpft waren wurde zu den fernliegenden gegriffen sie sind nahezu aus und was dann??? mahagony weist alle baiern aus das essen / der film / hitler …“

So könnten wir in einem fort. Werden wir nicht. Lasst uns aber sagen, dass ein pointierter Ton, die richtige Nähe zu den Geschichten, eingewobenen und fein recherchierten Begebenheiten und Zitaten sowie ein manchmal gebührender Abstand zu den Personen 1923 zu einem kleinen Lesefest werden lassen. Natürlich erinnert es durch die Struktur an Bücher von Florian Illies und nicht zuletzt an das jüngst erschienene Buch Schattenzeit von Oliver Hilmes (was, fairerweise, erst nach 1923 erschien). Es ist jedoch ungleich eleganter geschrieben.

„Es wird ungemütlich in Deutschland“

Beinahe jede die Gedanken der behandelten Person aufgreifenden, manches Mal bestätigenden, hin und wieder ergänzenden und nicht selten konterkarikierenden Äußerungen und gern spitzen Garstigkeiten tragen den wärmenden Mantel einer sprachlich dichten Kurzanalyse von Mensch und Handlung. Das bringt Freude und Kurzweil. Allerdings wiegt es da umso schwerer, wenn Peter Süß auf Seite 71 schreibt,„[Otto] Lossow steht auf dem Standpunkt, der NS-Führer werde in Zukunft eine bedeutende Rolle auf der politischen Bühne spielen.“ Igittigitt. Hoffen wir, dass Herr Süß nicht den Standpunkt einnimmt, diese Formulierung sei fein.

Ebenso fällt es gerade in einem solchen Buch und insbesondere bei einem so hochrangig für Wortkunst und Sorgfalt agierenden Verlag wie Berenberg auf, wenn das Lektorat manches Wort vergessen hat. Seien es Füllworte wie „ist“; statt eines „Und“ ein „Um“ oder Wortteile, wenn es heißt „nichts ist einwenden gegen“, dass Brecht wie ein Staubsauger agiere — im Grunde Kleinigkeiten, die wir in vielen Stephen-King-Büchern ob eines flüchtigeren Lesens wegen übersehen oder wenigstens übergehen würden. Bei Buchgenuss jedoch stechen diese kleinen Wort-Malaisen ins Auge. 

„Viele Männer des Jahres 1923 sind ziemlich unausstehlich“

Dessen unbenommen ist 1923 in jedem Fall in der schonungslosen Gegenbenheitsanalyse der gern aus der Angst vor Konfrontation herrührenden Briefeslust der Männer ein Genuss. Ein Brief an eine(n) Geliebte(n) ist nämlich nicht gleich Romantik — oft ist es Faulheit, Angst oder Unbedarftheit. Gern all dies und mehr in kruder Kombination. In meinem Bekanntenkreis habe ich eine schreibende Person (auf die die Süß’sche Beschreibung von, erneut, Bert Brecht passen würden: „eine Mischung aus Strolch und Jesuitenzögling“), die ebenfalls konfliktscheu im persönlichen Umgang ist. Hier spielt sich viel via neuer Briefform, also Chatnachrichten, ab — und wenn es gefühlig wird, gibt es gern abfotografierte handgeschriebene Notizen. Die Bitte, dies und das doch im persönlichen Zwiegespräch zu behandeln, verfängt seit bald einer Dekade kaum.

„Er lobt die Künstlerinnen, die in der Ausstellung vertreten sind, ganze zwei haben es geschafft, Käthe Kollwitz und Renée Sintenis. >>Weil sie >weiblich — natürlich< einfach den Dingen gegenübertreten, während die Schar der Männer >weibisch — manieriert< mit viel zu vielen Erinnerungen an die Maler von der Eiszeit bis zu Matisse mit unerhörtem Wissen die Flächen zu meistern hofft.<< Und Dix vergesse über >>seiner >Sozialen Note< ein wenig das Zeichnen<<.“

George G. Kobbe über die Schwarzweißausstellung in der Akademie der Künste — Ignoranz aus Ermattung ist keine neue Erfindung. 

Verfangen jedoch haben damals die Demütigung und der Verlust neu geglaubter, vermeintlicher Sicherheit. Wenn Peter Süß dafür auch — und dies insbesondere in den letzten Kapiteln — ein wenig vorgreifen und auf die folgenden Jahre und die Analyse derselben, etwa durch den 1923 noch achtzehnjährigen Elias Canetti, schauen muss. Hier mögen geneigte Leser*innen sich fragen, ob es ähnlich der beginnenden „Aufblende“ gespiegelt zum Abbinden nicht auch eines Kapitels „Abblende“ bedurft hätte. Sei’s drum — es kommt rüber, was rüberkommen soll: Lernt aus der Geschichte. Auch ihr, ihr schriftaffinen und belesenen Idiot*innen. 

Ende — „…und das Leben geht weiter“

Nichts ist so gewiss wie die Unsicherheit. Eine Sahra Wagenknecht, die kurz vor Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine noch im Brustton der Überzeugung meinte, Wladimir Putin würde einen solchen nicht beginnen, mag sich mittlerweile noch unmöglicher gemacht haben. Dass sie damals an ihre Worte glaubte, das glaube ich. Die Inflation und die mangelnde Sicherheit mit dieser umzugehen, verführt derzeit nicht nur zu irrationalen Streikmomenten, sondern auch dazu, einer aus Angst entstandenen Wut Raum zu geben, die in ihren Äußerungsformen ans Innerste geht. 

Wir sehen also, dass sich manche Problemstellung auch einhundert Jahre später kaum verändert hat. Bleibt nur zu hoffen, dass sich dies nicht auch über die politischen Folgen sagen lassen wird. Wir nicht so lange am Abgrund tanzen, bis wir mitbekommen, dass es kein Geländer gibt, nur unsere eigene Balance. Diese zu verlieren wäre dramatisch. Dies allerdings würde nicht an meinem „Brieffreund“ liegen.

AS

PS: Ich möchte mich mehr mit George Antheil befassen. In der Tat ist es aber so, dass es zu diesem kaum etwas gibt; Tonaufnahmen schon einmal sowieso kaum. 

PPS: Nach wie vor nicht eingehender befassen möchte ich mich mit Rainer Maria Rilke, dessen Texte, die ich eher plump finde, noch nie zu mir sprachen. Dass er unter vielen, vielen wenig sympathisch agierenden Künstlerseelen sich noch als besonders weinerlich und widerlich abhebt, stützt meine Abneigung da nur. 

PPPS: „Selbst ein Arzt kann sich nicht helfen“, wenn das mal keine wunderbare Zusammenfassung mach so genannten Schicksalsjahres ist.

Eine Leseprobe findet ihr hier

Peter Süß: 1923 — Endstation. Alles einsteigen!; August 2022; Hardcover, fadengeheftet, Halbleinen; 368 Seiten mit zahlr. s/w-Abbildungen; ISBN 978-3-949203-37-4; Berenberg Verlag; 28,00 €

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