Schlechte Bilanz, viele Tote, falsche Substanz

Als Kommissar Paul Brix (Wolfram Koch) am Ende des heutigen FrankfurterTatorts Leben Tod Ekstase zum Psycholyse betreibenden Psychoanalytiker Dr. Adrian Goser (Martin Wuttke) sagt: „Ihnen ist schon klar, dass Sie eine ziemlich miese Bilanz haben als Psychiater? Alle Ihre Patienten waren auf einem ‚guten Weg‘. Jetzt sind alle tot.“ – da war der Leichen- und Blutanteil in der Tat recht hoch. Immerhin steigen wir in diesem 16. Fall schon mit sechs toten Frauen und Männern ein, allesamt während einer LSD-geprägten Sitzung mit dem umstrittenen Arzt und Autoren ums Leben gekommen. Hoppala.

„N’ rauchendes Baby mit Sprachfehler?“

Alles ist ganz schön schleierhaft – für uns auch optisch: Nebel und dezent verschwommene Farbfilter fordern sicher manche Sehgewohnheit heraus – und so holen Brix und seine Kollegin Anna Janneke (Margarita Broich) den mittlerweile als Hauptverdächtigen in der Haft sitzenden Goser aus eben dieser, um mit ihm und seiner ihm äußerst zugewandten Anwältin Isabelle von Kanis (Uisenma Borchu) eine Kaffeefahrt Tatortbegehung zu unternehmen. Diese wird weder durch die, zuweilen durchaus unterhaltsame, zynische Verschlossenheit des Verdächtigen noch durch die stringent logikfreien dafür aber ideologiebehafteten Fragemethoden der Ermittelnden einfacher.

Dr. Adrian Goser (Martin Wuttke), Paul Brix (Wolfram Koch), Anna Janneke (Margarita Broich) und Azad (Doguhan Kabadayi) // © HR/Bettina Müller

So frustrierte (uns) dieser von Nikias Chryssos (ebenfalls Regie) und Michael Comtesse geschriebene Tatort in der ersten Hälfte so sehr, das wir ihn nach einer halben Stunde abbrachen. Aber, wenn man nicht gerade Inhaftierter im (Kölner) Tatort war, so haben ja doch alle eine zweite Chance verdient. So wird die hölzerne Behäbigkeit über die auch, teils überzogenen, Rückblenden und ein optisch spannendes Szenenbild von Károly Pákozdy des Handlungsortes, der ehemaligen Schneider-Villa, nicht hinwegzuhelfen vermögen, von einem lauten BANG! ziemlich exakt ab der Hälfte der Laufzeit aufgebrochen.

„Auch Psychoanalytiker haben ein Privatleben“

In den Rückblenden zuvor lernten wir insbesondere zwei ehemalige Patient*innen von Goser kennen: Syd (spielt mit unterforderter Langeweile: Frederik von Lüttichau), der mit Hilfe des Arztes seinen Kampfeinsatz verarbeiten wollte, und Ellen Jensen (solide: Aenne Schwarz), die über eine Entführung hinwegkommen wollte, stattdessen aber erneut verschwand. Hoppala 2.0. Außerdem springt in der irgendwann im Laufe von Leben Tod Ekstase von einem mysteriösen Einzelgänger verriegelten Villa noch Syd rum; da darf Pit Bukowski mal wieder eine Figur spielen, die nicht ganz auf der Höhe ist und bevor er sich in zwei Wochen im nächsten Brasch-Polizeiruf mit Hexenverbrennungen befassen wird, geht es hier um ganz andere Dämonen.

Mann mit Sturmgewehr // © HR/Bettina Müller

Das klingt alles nach ziemlich viel und nach einem enormen Figuren- und Spannungspotenzial. Beides wird niemals wirklich eingelöst, die Kammerspiel-Atmosphäre nie konsequent ausgespielt und die angedeutete Debatte über die Zwiespältigkeit von alternativen Behandlungsmethoden wird mit Vorschlaghammer-Dialogen beinahe karikiert. Dass es wieder reichlich Janneke-Brix-Kopfklatsch-Momente gibt, muss sicherlich nicht extra betont werden. 

„Wenn Sie abseits der Botanik keine Fragen mehr haben…“

Nun gehören die Fälle der beiden unserer Meinung nach mit zu den durchwachsensten im Tatort-Universum (durchaus solide schwankende Marktanteile scheinen dies zu unterstreichen). Das kann zum Teil einer durchaus begrüßenswerten Experimentierfreudigkeit zugeschrieben werden: Da gelingt eben nicht immer alles. Es liegt aber auch daran, dass diese Experimentierfreude sich so gut wie nicht auf die holzschnittartigen Figuren überträgt. Janneke und Brix sind ohnehin Abziehbilder, dazu noch selten sympathisch; doch auch jene Fall-Charaktere bekommen zu oft einfach simple 1-2-3-Eigenschaften (erinnern wir uns mal an den desaströs schlechten Tatort: Funkstile). Wenn sich das Experimentieren in jeweils zwei bis drei feinen Sätzen der immer gern gesehenen Fanny (Zazie de Paris) und schnellen Schnitten, funkelnden Sternen und brachialer Musik erschöpft, ist das am Ende jedoch nur ein mittelmäßiges Style-over-Substance-Konzept.

Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) // © HR

So wird im Tatort: Leben Tod Ekstase also viel geblutet, in Zeitlupe gebrüllt (ey, Janneke – geh in die Sozialberatung, Kommissarin ist nicht dein Beruf…), hier und da ein Oneliner rausgehauen und die Auflösung ist am Ende so vorhersehbar wie trivial. Also sieht die Bilanz ähnlich wie jene Dr. Gosers aus: Frankfurt scheinbar fortwährend auf einem guten Weg, doch durch falsche Substanz(en) gibt es zu viele Tote und kein befriedigendes Arbeitsergebnis. Dennoch erwartet uns am Ende eine krasse Wendung: „Du.“

AS

PS: Margarita Broich und ihr früherer in Leipzig agierender Kollege Martin Wuttke haben sich übrigens 2018 nach längerer Beziehung einvernehmlich getrennt. Sie wirken auch hier beim Gespräch über ein Kinderbuch sehr entspannt miteinander.

Dr. Adrian Goser (Martin Wuttke) und Anna Janneke (Margarita Broich) // © HR/Bettina Müller

Tatort: Leben Tod Ekstase läuft am 16. Oktober 2022 um 20:15 Uhr im Ersten, um 21:45 Uhr auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Leben Tod Ekstase; Deutschland 2022; Buch: Nikias Chryssos, Michael Comtesse; Regie: Nikias Chryssos; Kamera: Jonas Schneider; Musik: John Gürtler, Jan Miserre; Darstell*innen: Margarita Broich, Wolfram Koch, Martin Wuttke, Pit Bukowski, Frederik von Lüttichau, Aenne Schwarz, Uisenma Borchu, Doğuhan Kabadayi, Simon Schwan, Isaac Dentler, Zazie de Paris; Laufzeit: ca. 88 Minuten

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