„Tatort“: Von Streifenhörnchen und Müttern

Im Gegensatz zum vergangenen Jahr ist der diesjährige WeihnachtsTatort ganz unweihnachtlich – gleich ob der christlich oder heidnisch vollzogen wird, den Unterschied kennt eh kein tannenverliebter Mensch mehr. Jedenfalls sind hier eher so frühsommerliche Vibes spürbar und Kommissarin Anna Janneke (Margarita Broich) hat eben erst in einem Kleid online an der Konfirmation ihres Enkels teilgenommen. Was den Kollegen Paul Brix (Wolfram Koch) zu beinahe verzweifelt wirkenden, anrüchigen Sprüchen verleitet. Auf die sie, nun, mit der feinsinnigen Schlagfertigkeit einer verbrannten Scheibe Toastbrot reagiert.

Das aufgeblasene „Ich“ und „Du“

So wie in diesem Frankfurter Tatort: Kontrollverlust geht es allerdings schon seit einiger Zeit: Unsympathisches Team ermittelt in einem atmosphärisch durchaus gut angelegten Fall, der sich dann zerfasert und nach vorhersehbaren 70 Minuten (zwanzig gehen für‘s Wegnicken drauf) der Lösung zuwendet. Janneke und Brix sind eines der wenigen Teams, das mangelnde Empathie gekonnt mit kaum vorhandener Menschenkenntnis, einer gehörigen Portion Arroganz und Selbstbezogenheit sowie Faulheit zu verbinden weiß.

Paul Brix (Wolfram Koch), Jonas Hauck (Isaak Dentler), Anna Janneke (Margarita Broich) // © HR/Bettina Müller

Ähnliches ließe sich auch über Thiel und Boerne in Münster sagen. Da jedoch fällt es weniger ins Gewicht, da sich der Münsteraner Tatort nicht so arg ernst nimmt wie der aus Frankfurt am Main. Ist ja auch eine ernsthafte Stadt. Selbst das kürzlich eingeführte „Du“ zwischen Janneke und Brix wird im Buch von Sven S. Poser und Regissuerin Elke Hauck derart aufgeblasen, dass es den eigentlichen Fall beinahe überlagert.

Vermeintliche Incels und der Osten

Ach ja, der Fall. Die kunstschaffende Mutter Annette Baer (Jeanette Hain, gewohnt unterkühlt, aber stark; derzeit auch in der durchwachsenen Serie Davos 1917 zu sehen) trifft ihren mit blutigem Shirt bekleideten Sohn Lucas (Béla Gábor Lenz) im Bad, wo er sich die ebenfalls blutverschmierten Hände abseift und schwört, nichts getan zu haben. Also die Stream-Influencerin „Chipmunk“ aka Cara Mauersberger (Viktoria Schreiber) nicht getötet zu haben. Diese kommt eigentlich aus Döbeln, wohnte erst seit kurzem in Frankfurt am Main. Irgendwie hatte sie Kontakt zum so kreativen wie unkontrollierten Lucas.

Paul Brix, Leon Hamann (Franz Pätzold) // © HR

Hat er sie also in einem Anfall von Eifersucht, Wut oder ähnlichem erstochen? Was weiß Leon Hamann (Franz Pätzold), ein Angestellter der Hausverwaltung, der die Tote entdeckt hat? Was hat das alles mit einem Ost-West-Konflikt und einer Online-Persona namens „Cancel Chipmunk“ zu tun? Laufen da schon Incels rum oder nur Machos? Lässt Brix sich vom hölzern-flammenden Lehrbuch-Feminismus seiner Kollegin anstecken? Wie lang hält das Erstaunen darüber an, dass Menschen ihre Computer mit Passwörtern absichern?

Alles gewollte Planlosigkeit?

Fragen über Fragen, die mehr oder weniger interessant erscheinen, sich aber im beliebigen Allerlei eines vor sich hin plätschernden Tatorts verlieren. Womöglich ist das aber auch das Konzept der Frankfurter: Immer alles rein, um am Ende nichts mehr erkennen zu können – die Episodendarsteller*innen werden‘s schon rausreißen (siehe Godegard Giese im unsäglich plakativ-plumpen Erbarmen. Zu spät. – der an sich eine spannende Ausgangslage hatte). So funktioniert das Leben ja auch manches Mal (inklusive Gästen). Oder es ist einfach Planlosigkeit. Was insofern passen könnte, da Sohn Lucas soziopathische Züge aufweist. Und das sind Soziopathen ja nun mal: eher planlos. (FunFact #476: In Wild Republic spielte Béla Gábor Lenz sehr fantastisch einen hervorragenden Psychopathen.)

Anette Baer (Jeanette Hain) // © HR/Bettina Müller

Planlos hin oder her – sicher ist, dass dieser Tatort: Kontrollverlust der vorletzte Film des Frankfurter Teams sein wird. 2024 wir der letzte Fall Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh‘n gezeigt. Ein zu verkraftender Verlust, auch wenn wir Zazie de Paris‘ Fanny vermissen werden. Eventuell wendet sich der Hessische Rundfunk künftig (neben Murot) ja einem Team zu, das in einer hessischen Kleinstadt oder der Provinz ermittelt. Wäre doch auch mal was. Provinzieller als Janneke und Brix würden die eh kaum werden können.

AS

PS: Die Skulpturen – „leere Gipsmenschen“ – die die fiktive Künstlerin Annette Baer schafft, stammen von der realen Künstlerin Birgit Brinkmann, die Regisseurin Elke Hauck während der Drehvorbereitung kennenlernte. Gut in Szene gesetzt von Szenenbildner Manfred Döring gehören sie zum Highlight dieses Tatorts.

PPS: Im Münchener Weihnachts-Tatort des vergangenen Jahres, Mord unter Misteln, war Sunnyi Melles in einer Episodenrolle zu sehen. Die wiederum spielt genau wie Jeanette Hain in oben erwähnter KriegsSpionageDramaSerie Davos 1917 mit.

Paul Brix (Wolfram Koch), Anna Janneke (Margarita Broich) // © HR

Tatort: Kontrollverlust ist am Dienstag, 26. Dezember 2023, um 20:15 Uhr im Ersten zu sehen und anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Kontrollverlust; Deutschland 2023; Buch: Sven S. Poser, Elke Hauck; Regie: Elke Hauck; Bildgestaltung: Jan Velten, Patrick Orth; Musik: Bertram Denzel, Max Knoth; Darsteller*innen: Margarita Broich, Wolfram Koch, Jeanette Hain, Béla Gábor Lenz, Franz Pätzold, Mina-Giselle Rüffer, Viktoria Schreiber, Isaak Dentler, Zazie de Paris, Anita Iselin, Thomas Sarbacher; Laufzeit ca. 88 Minuten

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