Viele Farben des Dunkels

Neulich lag ich ein wenig desolat im Bett und sah mir zwei, drei der älteren in der ARD-Mediathek verfügbaren Tatort-Folgen aus Dresden an (ich bin erst mit der Max-Riemelt-Geschichte Die Zeit ist gekommen eingestiegen) und dachte bei mir so: In Dresden, da willst du nicht wohnen. Nirgendwo wird so düster gemordet wie dort. Dann fiel mir wieder ein, dass ich kurz zuvor die (Mini-)Serie Zwei Seiten des Abgrunds gesehen hatte und mir bei dieser dachte: In Wuppertal, da willst du nicht wohnen. Nirgendwo wird so düster gemordet und die Psyche gegen die gestapelten Hauswände geworfen wie dort. 

„Bis Du mich abknallst…“

Davon können sich seit dem heutigen Montag auch die geneigten Zuschauer*innen überzeugen. Denn die sechsteilige, unter der Federführung von Kristin Derfler entstandene sowie fertiggestellte und von Anno Saul als Regisseur umgesetzte Serie ist nun auf RTL+ verfügbar (im linearen TV wird die roughe Nummer mit jeweils drei Folgen am 17. und 24. Mai ab 20:15 Uhr bei VOX zu sehen sein — das ist der Sender, auf dem ihr Shopping Queen schaut).

Luise (Anne Ratte-Polle, r.) und Nadisa (Senita Huski?) im Einsatz bei einem Fall häuslicher Gewalt // Foto: RTL/Warner TV Serie/Bernd Spauke

Die Story klingt zunächst einmal simpel: Die Polizeibeamtin Luise Berg (huihuihui: Anne Ratte-Polle) sieht bei einem Einsatz in einem Baumarkt Dennis Opitz (starke Neuentdeckung: Anton Dreger). Sicherlich, mensch sieht in Baumärkten andere Menschen. Dieser allerdings sollte noch immer für den Mord an ihrer damals 17-jährigen Tochter Merle (Josephine Thiesen) im Knast sitzen. Wurde allerdings wegen voll guter Führung vorzeitig entlassen. 

„…wie ein tollwütiges Frettchen,…“

Dabei musste Luise zwei Mal hinschauen. Denn aus dem vormals stark übergewichtigen, in sich gekehrten Außenseiter scheint ein so selbstbewusster wie attraktiver Mann geworden zu sein. Berg zieht los um herauszufinden, was da schief gelaufen sein könnte. Nichts wie es scheint — er habe die Vergangenheit aufgearbeitet, sei therapiert worden, habe gearbeitet und gelte als resozialisiert. Berg zweifelt — manisch und laut. Was diese Zweifel ironischerweise verhallen lässt.

Dennis (Anton Dreger) und Josi (Lea van Acken) treffen sich zum ersten Mal im Pollux // Foto: RTL/Warner TV Serie/Wolfgang Ennenbach

Plötzlich ereignen sich seltsame Morde und in Streifenpolizistin Luise Berg wächst die Gewissheit, dass der vermeintlich geläuterte Dennis Opitz, der eine Einliegerwohnung bei der Berg ebenfalls bekannten Dr. Aschhausen (Ann-Kathrin Kramer) bewohnt, auf einem Rachefeldzug ist. Da ahnt sie noch nicht einmal, dass dieser sich schon längst an ihre jüngste, entfremdete Tochter Josi (Lea van Acken) ranmacht, die ein nicht unwesentlicher Teil seines perfiden Plans ist… 

„was Deinen Basilikum frisst —…“

also eine 08/15-Rache-Story um einen psychopathischen Killer, der lange ausschalten kann wen und wie er will, weil niemand der psychotischen Ermittlerin glauben mag? Nein, eher weniger. Dies liegt an mehreren Dingen, die Zwei Seiten des Abgrunds in der Tat auf, wie mensch so sagt, internationales Niveau hebt (was immer komisch ist, weil es so viele internationale Serien gibt, die einfach Müll sind). Dass es dabei auch Schwächen gibt, geschenkt. Perfekte Serien gibt es sehr, sehr wenige. Ebensowenig aber auch sehr, sehr wenige wirklich gute Serien. In diese Kategorie fällt Zwei Seiten des Abgrunds allemal.

Rückblende: Die Schwestern Merle (Josephine Thiesen, l.) und Josi (Aennie Lade, r.) erleben gemeinsam einen entspannten Nachmittag // Foto: RTL/Warner TV Serie

Einiges meistert die mit Halb-Cliffhanger endende Geschichte mit Bravour. Beispielsweise legt Derfler, die mit Totes Herz auch einen der jüngeren Dresdner Tatorte schrieb, ihre Charaktere vielschichtig an und schafft es dabei zumeist kongenial uns nach und nach alle (oder einige…) dieser Schichten entdecken zu lassen. Dies ohne dass sie auf billige Stilmittel des Verheimlichens zurückgreifen muss, wie es so oft geschieht. Bedeutet, vieles ergibt sich — zum Teil aus eher zurückhaltend eingesetzten Rückblenden — organisch und muss nicht erst als Geheimnis konstruiert werden. 

„…bis dahin haben wir…“

Überhaupt ist die ThrillerDrama-Serie größtenteils unglaublich gut geschrieben. Es ist sehr zutreffend, wenn Derfler in der Pressemappe sagt, dass sich unter dem Thriller ein feinstoffliches Drama verberge. Dazu noch eines, das kein simples Gut/Böse-Schema kennen mag. Jedenfalls nicht wenn es um die drei Hauptfiguren Luise Berg, Dennis Opitz und Josi Berg geht. Dazu passt es ebenfalls, wenn die Creatorin und Autorin weiter sagt: „Bis heute ist meine Herangehensweise an die Stoffentwicklung von der Überzeugung geprägt, dass ohne ambivalente Figuren auch keine dramatischen Wahrheiten entstehen können. Es geht also (eher) darum, von innen nach außen zu arbeiten, character-driven und mich auf das Unbekannte einzulassen.“

Holger Tesche (Dirk Martens) investigiert auf dem Recyclinghof, auf dem Dennis arbeitet // Foto: RTL/Warner TV Serie/Wolfgang Ennenbach

Auch das ist Zwei Seiten des Abgrunds: Eine von den Charakteren und nicht den Handlungen bestimmte Serie. Was nicht bedeutet, dass es nicht diverse Handlungsfäden gäbe. Wenn über dem Schreibtisch der Autorin, die auch Dein Leben gehört mir mit Josefine Preuß und Vladimir Burlakov in den Hauptrollen schrieb, die folgende berühmte Gedichtzeile der berühmten Else Lasker-Schüler stand: „Am schwärzesten Fluss der Welt, der Wupper, lernt man erkennen, welche Menschen leuchten“, erklärt das einiges. Dies führte nicht zuletzt auch dazu, dass Regisseur Anno Saul (u. a. Charité), die Stadt als weitere Figur behandelte, was Kameramann Martin L. Ludwig einwandfrei einzufangen versteht. Ganz ähnlich äußerte sich Dr. Katrin Vernau, die neue rbb-Intendantin, bei der Premiere des jüngsten Doppel-Tatort: Nichts als die Wahrheit, als sie betonte, dass die Stadt Berlin immer eine Hauptrolle in den Fällen spiele.

„…noch einiges zu tun.“

Etwas, das passt, wenn man bedenkt welche Höhen und (Un)Tiefen die Figuren haben. Wuppertal ist eine durchaus sehr eigen angelegte Stadt, mit großer Vergangenheit, mitteltiefem Fall und nun wieder so etwas wie aufstrebend. Das funktioniert mit Blick auf Luise Berg, Josi Berg und Dennis Opitz sehr gut. Eine Stadt, die Figuren spiegelt, ist zwar nicht ganz neu; wie hier aber die Schwebebahn eingesetzt wird, um eine Konfrontation zwischen Luise und Dennis abzubilden — das hätte in der Berliner oder Frankfurter S-Bahn nicht einmal halb so gut funktioniert. Vermutlich gar nicht. Jedenfalls nicht in dieser Intensität.

Dennis (Anton Dreger) // Foto: RTL/Warner TV Serie/Wolfgang Ennenbach

„Das Wort ‚Mörder‘ hat verständlicherweise eine moralisch sehr schlechte Konnotation in unserer Gesellschaft. Für mich war es wichtig, Dennis‘ Gedankenwelt möglichst unvoreingenommen zu begegnen. Wenn man sofort beginnt, die Taten einer solchen Figur zu bewerten, kann man sie nicht mehr spielen. Mir ging es darum, seine persönliche Logik und seinen Blick auf die Geschichte genau zu begreifen und mir dann seinen Schmerz und sein Bedürfnis nach Rache zu eigen zu machen“

Anton Dreger darüber, wie er sich die Figur des Dennis Opitz erschloss

Diese Intensität ist natürlich auch dem Spiel von Anne Ratte-Polle, die als Luise Berg nahezu alle Register ihres Könnens ziehen dürfte, und Anton Dreger, der sonst eher auf den Theaterbühnen zu Hause ist, zu verdanken. Und jenen, die diese beiden für diese Rollen ausgewählt haben. Das Gegeneinander-Zusammenspiel ist perfekt, fesselnd, beklemmend, von böser Ironie durchzogen (wie vieles in Zwei Seiten des Abgrunds, auch das Düstere kann humorvoll sein) und niemals ein Zuviel. Groß!

PENG!

Auch Lea van Acken als Tochter Josi und vermeintliches Love-Interest von Dennis — auch hier viel Ambivalenz — weiß zu überzeugen. Sie ist Teenager und musste doch früh „groß“ werden. Ist rebellisch und will doch nur Ruhe. Sucht Halt und findet, nun, einen Serienmörder. (Hannibal gab Will jedoch auch Halt, auf seine Art. Perfekte Serie übrigens.) Ann Kathrin-Kramer ist ebenfalls eine Freude, wenn ihre Figur und die Motive auch blass bleiben. Etwas, das womöglich auch Kristin Derfler entdeckte und deshalb nach hinten raus ein wenig übererklärt, was sie angetrieben haben könnte. Dafür gibt’s von Frau Dr. Aschhausen einen der größten Lacher der Serie.

Hat’s auch nicht leicht: Dr. Aschhausen (Ann-Kathrin Kramer) // Foto: RTL/Warner TV Serie/Wolfgang Ennenbach

Lange Rede, mittellanger Sinn — Zwei Seiten des Abgrunds ist eine formal hervorragende, inhaltlich mitreißende Serie, die ein fein austarierter Slow-Burn ist und dank einer gewieften Autorin an den richtigen Stellen, dabei aber reduziert, Wendungen einzubauen weiß. Dazu ein Ensemble, das überzeugt und Drehorte, die uns in die Handlung ziehen. „Wir sind so lange in die Tiefe gegangen, bis Schmerz, Wut, Wahrhaftigkeit, Verletzlichkeit und Schönheit sichtbar, spürbar und ‚auf Film‘ waren“, sagt Regisseur Anno Saul. Dem ist nichts hinzuzufügen. 

AS

PS: Zwei Seiten des Abgrunds markiert übrigens die erste Zusammenarbeit von RTL Deutschland und Warner Bros. Discovery. Was dieser auch eine Ausstreuung im internationalen Pay-TV bspw. via Warner TV Serie und HBO Max sichert. Es bewegt sich also was im aus Deutschland kommenden Serienbereich. 

Das Keyart zur Serie Zwei Seiten des Abgrund // Foto: RTL/Benno Kraehahn

Zwei Seiten des Abgrunds ist ab dem 8. Mai 2023 auf RTL+ verfügbar und wird am 17. sowie 24. Mai mit jeweils drei Folgen ab 20:15 Uhr auf VOX ausgestrahlt.

Zwei Seiten des Abgrunds; Deutschland 2022/2023; Idee und Buch: Kristin Derfler; Regie: Anno Saul; Kamera: Martin L. Ludwig; Musik: Annette Focks; Darsteller*innen: Anne Ratte-Polle, Anton Dreger, Lea van Acken, Senita Huski, Dirk Martens, Renato Schuh, Ann-Kathrin Kramer, Claudia Eisinger, Maximilan Brauer, Josephine Thiesen, Moritz Führmann; sechs Folgen à ca. 45 Minuten

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