Der Hass, der uns trägt

„Die Bedrohung ist keine nahe Zukunft mehr, sie wird Wirklichkeit, ist greifbar.“

Stell dir vor, du säßest im Gefängnis. Verurteilt wegen grob fahrlässiger Tötung. Zu verbüßende Zeit: 15 Jahre. Doch es gibt die Chance auf eine stark vorzeitige Entlassung. Es müssen lediglich drei Millionen Menschen via einer App dafür abstimmen, dass du raus kommst. Neben dir kann noch für weitere Häftlinge gestimmt werden. Doch – du setzt dich durch. Drei Millionen für dich!

Oder gegen dich? Die App heißt „GUILTY“ und ein Großteil der Menschen, die hier für deine vorzeitige „Freilassung“ gestimmt haben, möchten dir keine Du-Kommst-Aus-Dem-Gefängnis-Frei-Karte geben, sondern dich töten. Lynchen. Sich vielleicht an dir rächen…

Keine Gnade, nirgends…?!

…du, das ist in diesem Fall der 22-jährige Diego Abrio, die Hauptfigur in dem dramatischen Jugendthriller des französischen Autoren Jean-Christophe Tixier. Grundlage für diese vorzeitige Haftenlassung bildet ein fiktives Gesetz bestehend aus drei Artikeln, die im Wesentlichen dies beinhalten: Nach drei Jahren – die Diego nun verbüßt hat – kann jede schuldige Person „für die sogenannte Volksjustiz freigegeben werden“.

„Jede*r Haftentlassene […] bleibt in den Augen der Justiz und des Volkes schuldig und somit nach der Entlassung auf sich gestellt.“ Anspruch auf Schutz oder Hilfe – nada. Und der entscheidende Punkt der Grausamkeit, der diese Haftentlassung im Grunde zu einem Todesurteil macht: „Einzelpersonen oder Personengruppen bleiben bei einer Straftat gegen das Leben der nach Artikel 1 Haftentlassenen straffrei.“ Immerhin stehen Freiheitsberaubung, Folter sowie „jede sinnlose Anwendung von Gewalt“ unter Strafe.

Sollten sich demnach die Macher*innen des Gesetzes nicht selber anklagen? Hmm… Wer das schon für eine verzwickte moralische Frage halten mag, dürfte von Tixiers GUILTY – Du wirst nicht entkommen ein ums andere Mal aus der Bahn geworfen werden.

Spannung in Handlung und Debatte

Der im Sommer erschienene Roman ist endlich mal einer, den mensch zurecht als Pageturner bezeichnen kann, ohne dass er dabei auf Figurenzeichnung, Nuancen oder oft eindringliche und dabei trotz des harten Themas schöne Sprache (stark übersetzt von Bernadette Ott) verzichten müsste. Denn was ein purer und gegebenenfalls plumper Jäger-Gejagter- oder Rachethriller hätte werden können, ist eine spannende, durchaus als Schullektüre zu empfehlende (Tixier selbst war 20 Jahre lang Lehrer), Abhandlung über Recht und Strafe, Manipulation, Hatespeech und Gruppendynamiken sowie Moral und Vergebung geworden.

Ohne zu viel von der Handlung, die einige Haken schlägt (so wie Diego, dessen genauer Standort, eine Einschätzung der Gefährlichkeit, Puls und Emotionaler Stabilitätsindex jeden Tag um 19:00 Uhr in der App geteilt werden) und im zweiten Teil eine starke empathisch-emotionale Komponente enthält, verraten zu wollen: Diego sitzt im Gefängnis da er sich nächtens mit seiner damaligen Freundin Mona, deren Bruder Alex und dessen Partner ins Auto gesetzt und einen Unfall gebaut hat. Dummerweise war Diego betrunken, hatte gekifft und hat manch eine Erinnerungslücke. Seine geliebte Freundin starb, der Partner des Bruders lag im Koma, brauchte lange Zeit um sich halbwegs zu erholen und stieß Alex von sich.

Wer trägt welche Verantwortung?

Autor Jean-Christophe Tixier // Foto: © privat

Der sinnt nun auf Rache; Diego hingegen möchte unbedingt zur Familie gelangen, um sich zu entschuldigen. Hier entstehen Momente, die hätten melodramatisch in die Hose gehen können. Tun sie nicht – die Seiten im Haus und Vorgarten der Familie gehören sowohl zum Emotionalsten als auch Spannendsten, das ich seit langem gelesen habe.

Ebenso sehen wir an der Unfallsituation eine weitere interessante Frage: Wenn sich ein angetrunkener Fahrer (0,95 Promille) hinters Lenkrad setzt und keiner der drei ebenfalls angeheiterten Mitfahrenden, ihn abhält – ist oder sollte dann nur er für alles was geschieht verantwortlich sein? Juristisch wie moralisch?

Neben solchen Fragen zeigt Tixier fein auf, wie sich Menschen in sozialen Netzwerken gegenseitig hochschaukeln können, in GUILTY anhand der Kommentare innerhalb der App. Wenn dann mal eine Person schreibt, dass Lynchjustiz nicht okay sei, heißt es sinngemäß, sie gehöre mal ordentlich gefickt. Diego wird in den Kommentaren neben Mord (was es ja nicht war) noch Entführung vorgeworfen und daraufhin schreibt jemand „Vergewaltigung“, was als Fakt in die (digitale) Welt ziehen soll.

Eindringliche Medien- und Systemkritik

Mit Radio Plus, der die Jagd vermeintlich objektiv aber eigentlich im besten BILD-Style begleitet, gibt es auch noch ein wenig Medienkritik. Mit den Partisanen für mehr Gerechtigkeit, kurz PFR, eine Gruppe, die sich gegen das System stellt. Vor allem zu Beginn von GUILTY zeichnet Jean-Christophe Tixier ein eindrückliches Bild der Zustände und „Gewaltenteilung“ in Gefängnissen, wie überhaupt der ganze Roman als deutliche Kritik nicht nur am französischen Justizsystem gelesen werden kann. Auch die völlige Ignoranz gegenüber Diegos eigener Biografie seitens aller Verfahrensbeteiligter wird zumindest angedeutet, wie auch soziale Unwuchten eine Rolle spielen.

Zudem ist die Aufmachung des bei cbt bzw. cbj Kinder- und Jugendbuchverlag erschienen Buches ansprechend: Verhörprotokolle, Radiogespräche, Kommentare in der App und Karten heben sich vom Rest des Textes ab. Die Geschichte ist zackig erzählt, unfassbar packend, sie regt zum Nachdenken an, ja fordert geradezu dazu auf. Sie versteckt sich nicht hinter Floskeln und einfachen Antworten (viele wird es nicht geben, Leser*innen sind auf sich und ihre eigene Differenzierung gestellt) und öffnet am Ende bereits die Tür zum im November erscheinenden zweiten GUILTY-Teil, der uns mit neuen Figuren einen anderen Blickwinkel öffnen wird…

AS

GuiltyDu wirst nicht entkommen von Jean-Christophe Tixier

Jean-Christophe Tixier: Guilty – Du wirst nicht entkommen; Aus dem Französischen von Bernadette Ott; Juni 2023; Klappenbroschur; 256 Seiten; ISBN 978-3-570-31565-1; cbj Kinder- und Jugendbuchverlag; 13,00 €; empfohlen ab 14 Jahren

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