Sommerlicher ZickZack-Kurs

Könnte eine Berliner Geschichte besser anfangen, als mit einem dezent abgefeierten Protagonisten, der nach seinem verlorenen Portmonee fragend durch einen Club läuft (und später noch seines Fahrrades verlustig wird), um kurz darauf auf der Tanzfläche mit einem Feierkollegen rumzuknutschen? Wohl kaum. Streng genommen aber startet Boy Meets Boy, das Langfilm-Debüt des spanischen Regisseurs Daniel Sánchez López, nicht damit, sondern mit einem Solotanz im Tanzstudio. 

Annoying but sweet

Hier lernen wir Johannes (Alexandros Koutsoulis) wortlos kennen; genau wie wenige Momente später Harry (Matthew James Morrison), der ein Asspic macht und sein Date eine Einstellung später wortlos von dannen ziehen lässt. Schnitt – Clubsituation. Hier begegnen sich die beiden jungen Männer, die anschließend um die fünfzehn Stunden miteinander verbringen werden, bevor Harry seinen Flieger zurück nach London bekommen muss, das erste Mal. Wir werden ihnen dabei durch Berlin – an der Spree entlang, durch Kiezstraßen, in Internetcafés, über Hinterhöfe zu Hotel-Buffets und auf Hausdächer – folgen. Dabei sollten geneigte Berliner:innen übrigens nicht allzu genau überlegen, welche Wege sie gehen oder in welche Richtung diese oder jene Bahn eigentlich fahren müsste, btw. Hübsch anzusehen ist das alles nämlich so oder so.

Harry (Matthew James Morrison) und Johannes (Alexandros Koutsoulis) // © Salzgeber

Ähnlich hübsch ist auch die unbestreitbare Chemie zwischen Johannes und Harry, deren Annäherungsspiel nach Druffi-Knutschen in der kleinsten Disko der Welt direkt auf Johannes’ Fahrrad und schließlich in einem Internetcafé zunächst sehr körperlich weitergeht (wenn auch nicht so körperlich wie in Weekend, mit dem Boy Meets Boy hier und da verglichen wird), um im weiteren Verlauf auch eine persönlichere Ebene zu bekommen. Die Gespräche, die die beiden führen, drehen sich um Neoliberalismus und Kapitalismus, Religionen, Familienbilder, Arbeit, Ausbrechen-Wollen, Zukunftsgedanken, Glückszustände und nicht zuletzt um Männlichkeit, deren Bilder und ihre Auswirkungen auf queere, hier vornehmlich schwule Menschen. An mancher Stelle wird es hier ein wenig enervierend, annoying but sweet steht in meinen Notizen, damit passt’s dann auch wieder sehr gut zu dieser Stadt.

Schwule Männer müssen performen

Gerade das Thema „Männlichkeit“ schimmert immer wieder durch, bis dies an zwei Stellen im letzten Drittel des Films sehr konkret thematisiert wird. Einmal sehr passend, während Johannes und Harry durch das Sowjetische Ehrenmahl im Treptower Park spazieren. Leistungsdruck in der Welt mann-männlicher Beziehungen wird mal süffisanter, mal sehr ins Mark gehend besprochen, an jenen Stellen hilft wieder die Chemie zwischen den beiden Darstellern – wir fühlen uns nicht in einen Vorlesungssaal versetzt, sondern in der Tat so, als würden wir mit ihnen durch die Gegend streifen und bei Sekt und Co. eben all dies durchkauen.

© Salzgeber

Auch, dass Matthew James Morrison und Alexandros Koutsoulis wohl einige Freiheiten zur Improvisation hatten, lässt so manch kleine Debatte über unterschiedliche und/oder ungenaue Vorstellungen von Zukunft eher locker als verkrampft rüberkommen. In nicht wenigen Momenten meinen wir zu sehen, wo improvisiert wird, natürlich können wir uns täuschen. Ebenso gefällt es, dass Johannes, der sich mit Harry auf Englisch austauscht, dies nicht perfekt spricht, sondern kleine Fehler, die in der Eile und aus Unsicherheit eben geschehen, stattfinden dürfen. Anders als dies unserer neuen Außenministerin gestattet wird.

Bleibt uns die Erinnerung?

Dass die ganze Geschichte auf einen sonnendurchfluteten Konflikt hinausläuft, zeigt bereits der Trailer. Welcher dies sein könnte, wird uns Zuschauer:innen bereits zur Eröffnung des Films klar, als es neben dem Tanz noch eine weitere Szene mit Johannes und einem anderen Mann gibt. Der Verlauf desselben jedoch ist, wenn auch etwas vordergründig, ziemlich nett gemacht und verdeutlicht einmal mehr, wie festgefahren mensch in vorgelebten Mustern sein kann. Auf jeden Fall dürften die beiden einander in Erinnerung bleiben.

Schulmeisterlich wird es dennoch (meist) nicht (Christian Lütjens hat hier ein wenig die Entstehungsgeschichte des Films nachvollzogen, lesenswert), bei allen auch ernsteren Tönen strahlt der Film etwas Positives aus:

„I know what I have to do tomorrow and I’m trying to enjoy it as much as possible.“

„Ich weiß, was ich morgen zu tun habe und genieße es dann, so gut es geht.“

Johannes in Boy Meets Boy

So lässt sich auch Daniel Sánchez López’ Boy Meets Boy über weite Strecken genießen. Ob er erinnerungswürdig ist? Das fragt uns doch einfach im Sommer, wenn wir alle wieder selber durch die Straßen und um die Flüsse und Kanäle streifen. 

JW

PS: Ich liebe alles an der Szene mit den Mormonen-Missionaren.

PPS: Für 48 Stunden in dem Club sind Harrys Socken erstaunlich sauber. Auch Johannes’ Hose ist nach dem Aufenthalt im Brunch-Hotel/Café erstaunlicherweise unbefleckt geblieben.

Boy Meets Boy ist im Januar 2022 in der Queerfilmnacht zu sehen und läuft seit dem 13. Januar im Kino, bei einigen Vorstellungen ist der Regisseur anwesend.

Boy Meets Boy; Deutschland 2020; Regie: Daniel Sánchez López; Buch: Daniel Sánchez López, Hannah Renton; Kamera: Hanna Biørnstad; Darsteller: Matthew James Morrison, Alexis Koutsoulis; Laufzeit: ca. 75 Minuten; eine Produktion von The Cosmic Productions und Open Reel in Koproduktion mit GagaOOLala im Verleih von Salzgeber; englisch-deutsche Originalfassung, teilweise mit deutschen Untertiteln; im Januar in der Queerfilmnacht und seit 13.1.2022 im Kino

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