Sterben und sterben lassen und sterben lassen müssen – und weiterleben

Der Tod ist Teil des Lebens und es ist schwer nach dem Tod einer Freundin oder eines Freundes weiterleben zu müssen. Das gilt umso mehr, wenn sich die Frage stellt, welche Verantwortung man vielleicht selbst hieran trägt. Oder glaubt zu tragen. Um diese alles andere als einfache Thematik geht es im dritten Buch von Jasmin Schreiber, Der Mauersegler, der heute im Eichborn-Verlag erscheint.

Prometheus sprengt seine Ketten

Dr. Marvin Grabow, genannt bei seinem Zweitnamen Prometheus, muss raus aus seinem Leben und landet auf einem Pferdehof in Dänemark. Zu Hause im nicht näher definierten Norden Deutschlands hatte er eine Studie zu einer Immuntherapie bei Krebserkrankungen geleitet und verantwortet. Sein bester Freund Jakob hatte Blasenkrebs, war Teil der Studie und hat diese nicht überlebt.

Prometheus ist nun gleichzeitig mit dem Verlust seines besten und treuesten Freunds wie auch mit der Frage nach der medizinischen und ethischen Verantwortung – vielleicht sogar Schuld – konfrontiert. Auf dem Hof der beiden an Lebenserfahrung reichen Pferdewirtinnen Aslaug und Helle versucht Prometheus, diese beiden Facetten zusammenzuführen und sein Leben nun neu zu sortieren.

Schwere Themen einfühlsam und fachkundig erzählt

Jasmin Schreiber nimmt sich auf ihren knapp 240 Seiten also mehrere schwere Themen vor: persönlicher Verlust und Trauer, Schuld und (Mit-)Verantwortung, medizinische Ethik und die Verantwortung eines Einzelnen gegenüber einer Gruppe. All das nagt an Prometheus und er kann sich dem erst einmal nur durch Flucht entziehen – glaubt er zumindest, denn natürlich verfolgen ihn diese Fragen auch beim Pferdefüttern, Wasserholen oder Holzfällen – anders als beispielsweise bei Thea Dorn, deren Hauptcharakter sich im Roman Trost mit ihrem philosophischen Lehrer über den coronabedingten Tod ihrer Mutter per Brief/Mail/Postkarte austauscht.

Man mag glauben, dass diese Fülle an getragenen Themen leicht schief gehen kann, vermutlich zurecht. Bei der überaus einnehmenden und nachvollziehbaren Erzählweise Schreibers ist aber genau das Gegenteil der Fall. Sie bringt die Gedanken, Motive und Handlungen von Prometheus und in einer Reihe von Rückblenden auch von Jakob und dem Umfeld der beiden mit einer so anschaulichen Eleganz zu Papier, dass die Figuren und die Geschichte einen sofort überzeugen.

An den humorvollen Stellen entfährt einem gerne mal ein kleiner Lacher, in traurigen Situationen verdrückt man mal eine Träne und in den nachdenklichen Momenten kann man sich als Leserin oder Leser auch gerne selbst dazu aufgefordert sehen, sich ein wenig zu reflektieren. Dass sich Schreiber schon seit längerem mit diesen Themen auseinandersetzt, als Sterbe- und Trauerbegleiterin tätig war (und für ihre diesbezüglichen Aufzeichnungen bereits ausgezeichnet wurde), trägt zu dieser hohen Einfühlsamkeit ganz bestimmt einen wesentlichen Teil bei.

Personifizierte Natur im Spannungsfeld mit der Wissenschaft als Objekt

Die ganze Geschichte ist dabei eingebettet in ein herrliches Erzählkonstrukt. Der titelgebende Mauersegler taucht immer wieder in verschiedenen Aspekten auf, ebenso andere Bilder und Elemente aus der Natur. Bäume, Pilze, Moose oder Eichhörnchen werden personifiziert, beobachten und be-/verurteilen Prometheus in seinem Handeln. Die von den Sowjets ins All geschossene Hündin Laika blickt auf Prometheus herunter und verkörpert den menschlichen Fortschritt, die Wissenschaft. Bilder und Elemente wie diese symbolisieren ebenfalls das Konfliktfeld zwischen der Natur und dem menschlichen Handeln, in dem sich der Forscher Prometheus wiederfindet. Hier zeigt sich die gesamte Erzählkunst Schreibers, die Prometheus‘ inneren Konflikt auf eine weitere Ebene hebt.

Und betrachtet man die nur wenige Seiten umfassende Sequenz, wie Prometheus zu diesem Forschungsprojekt kam, ist es nur folgerichtig, dass die Therapie am Ende bei Jakob nicht anschlägt. Jakob ist schlussendlich das Opfer, das Prometheus‘ Entscheidungen erfordern, ob er es will oder nicht. Hier zeigt sich nämlich eine weitere Stärke Schreibers: Sie gibt zu den wesentlichen Personen den nötigen Hintergrund, aber auch nicht mehr als eben nötig. Besonders die burschikose und als eher ruppig dargestellte Aslaug bekommt an einer späteren Stelle eine sehr einfühlsame und eindrückliche Hintergrundgeschichte zugeschrieben.

Bei Jakob und Prometheus gibt es natürlich eine Reihe von Erinnerungen und Rückblenden – Der Mauersegler ließe sich bestimmt gut verfilmen –, um uns die Innigkeit der Beziehung deutlich zu machen. Nur eine fehlt vielleicht: das erste Kennenlernen. Möglicherweise kennen sich beide schon seit dem Sandkasten und dann wäre es tatsächlich schwierig, eine solche Situation ausfindig zu machen. Aber hier hätte noch ein winziger zusätzlicher Schliff der Charakterbildung getan werden können.

Das ist aber tatsächlich ein marginaler Kritikpunkt zu einem Roman auf ansonsten höchstem Niveau. Jasmin Schreiber behandelt in Der Mauersegler eine Reihe von wichtigen und schweren Themen rund um den Tod, das Sterben und die Verantwortung des behandelnden Arztes. Die Figuren sind in sich sehr stimmig und die Hintergründe, Gedanken und Interaktionen machen sie sehr greifbar. Die oft bildliche Gegenüberstellung von Natur und Wissenschaft ist gerade in der heutigen Zeit – Corona, Klimawandel, Impfdebatte und Co. lassen grüßen – mehr als aktuell. Der Mauersegler wäre durchaus buchpreisverdächtig, auch weil sich Autorin und Verlag eine etwas außergewöhnliche und überaus ansehnliche Aufmachung überlegt haben – schade, dass es nicht den Sprung auf die Longlist geschafft hat.

HMS

Jasmin Schreiber: Der Mauersegler; 1. Auflage, August 2021; 240 Seiten; toll gestaltetes Hardcover mit wunderbarem Schutzumschlag; ISBN: 978-3-8479-0079-5; Eichborn; 22,00 €; auch als eBook erhältlich

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