Berge oder Meer? Diese Frage treibt viele um, wenn sie ihren Urlaub planen und nicht selten führt das zu größeren oder kleineren Dramen. Ob Chiemgau, Elbsandsteingebirge oder weiter entfernt, die Auswahl an Bergdestinationen ist breit. Die an Stränden jedoch auch und an den Ufern dieses Kontinents hat sich schon so manches Drama abgespielt.
An acht ausgewählte Strände Europas nimmt uns die Journalistin und Autorin Bettina Baltschev mit. In ihrem Buch Am Rande der Glückseligkeit – Über den Strand philosophiert sie über diese schmalen Streifen Ufer, die die Nahtstelle vom Trockenen zum Nassen bilden und zeigt uns eine ganz besondere Kulturgeschichte von den Rändern Europas. Das bei Berenberg erschienene Buch war im Frühjahr 2022 für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.
Europa in acht Stränden
Von Scheveningen in den Niederlanden über das britische Kurbad Brighton und Ostende in Belgien reisen wir mit Baltschev nach Utah Beach in Frankreich, wo die Alliierten im Juni 1944 landeten und das Ende von Nazi-Deutschland einläuteten. Es geht weiter an die Ostsee, nach Hiddensee und damit an den einzigen Strand im früheren Ostblock. Von dort weiter ans Mittelmeer, erst nach Ischia, dann in die spanische Touristenhölle Benidorm und abschließend nach Lesbos, das zwar ebenfalls ein Sehnsuchtsort ist, aber in den letzten Jahren auch eher zur Hölle für so manchen Flüchtling mutierte.
An all diesen Orten schlendert Baltschev den Strand entlang, lässt den Blick auf das weite Wasser schweifen und illustriert so manches Drama oder menschliches Schicksal, das sich an diesem Strand oder den mit ihnen verbundenen Orten abgespielt hat. Es sind beispielsweise Geschichten über Literatinnen und Literaten im Exil, über anlandende Boote – Armee oder Flüchtlinge – über den Strand als Touristenattraktion und Grillanlage. Es sind Geschichten von Flucht und Sehnsucht, von Zwischenstopp und Ankunft.
Was ist der Strand?
Sie verknüpft so eine kleine Geschichte des neuzeitlichen Europas mit den Orten, die viele von uns so lieben. Wer denkt beispielsweise bei einem idyllischen französischen Atlantikstrand zuerst an die Landung alliierter Truppen, die Befreiung Europas vom deutschen Nationalsozialismus und einen einsamen Kriegsfotografen, der dies mutig für die Nachwelt festhielt? Oder bei der Ostsee an die deutsche Teilung, die so viele Familien auseinanderriss und zahlreiche Tote an der Mauer zu beklagen hatte?
Wer ist sich im Alltag dessen bewusst, dass Ischia in Zeiten der (noch höheren) sexuellen Intoleranz ein Geheimtipp für Homosexuelle aus ganz Europa und Amerika war? Oder mittlerweile anders: Wer denkt bei Lesbos heute noch an einen schönen Strand und Erholung und nicht an Flüchtlinge und Schlauchboote und das Elend, das viele Menschen aus ihrer Heimat nach Europa treibt?
Der Strand ist eine kleine, feine magische Grenze, die für jede und jeden etwas anderes bedeutet. Ist es der Quell der Inspiration, wie ihn so mancher niederländische Maler erlebte? Sind es Wochenendausflügler wie im britischen Brighton oder fast schon Teutonengrills wie im spanischen Benidorm, die wir im und am Strand sehen?
Mein Strand
Bettina Baltschev bietet uns all diese Perspektiven auf den Strand. Manche bringen uns in freudige Erregung, andere lassen uns schaudern. Sie verknüpft dies jedoch immer mit einem kurzen Essay. Wer war schon hier? Was hat sie oder er gemacht? Wozu wurde er oder sie hier inspiriert? Was haben sie gesucht und was gefunden? Hinter dieser vielleicht erst einmal banal erscheinenden Idee – „Ich schreibe über den Strand“ – steckt ein enormer Rechercheaufwand, die Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Geschichte und Baltschev schreckt nicht davor zurück, ihren Leserinnen und Lesern zuzumuten, sich auch durch manch einen Vers von oder über den jeweiligen Ort zu arbeiten.
Es gibt somit auch nicht viel zu kritisieren an Am Rande der Glückseligkeit. Baltschev zeigt uns, welche Inspiration wir im Strand finden können, setzt sich aber auch an manchen Stellen kritisch mit unserem Umgang mit dem Strand auseinander. Manches Ereignis sollte besser erinnert werden und dass Strände nicht einfach „da“ sind, sondern auch vom Klimawandel und menschlichen Eingriffen bedroht sind, erwähnt sie auch – leider fast zu sehr nebenher.
Mehr Mut am Strand
Ein möglicher Kritikpunkt könnte – wie eingangs angedeutet – die Auswahl der Reiseziele sein. Warum war Baltschev nicht am Schwarzen Meer? Odessa, die Krim, dies sind die heutigen Hotspots europäischer Aufmerksamkeit, die bei Erscheinen des Buchs im Mai 2021 höchstens absehbar waren, nicht jedoch vorherbestimmt. Oder die russische, baltische und skandinavische Ostseeküste. Die Ostsee wird durch Hiddensee abgedeckt, aber fokussiert sich doch sehr stark auf die deutsche Teilung.
Und natürlich sehr gewagt wäre beispielsweise ein Besuch in Kirkenes im Norden Norwegens gewesen. Die Stadt ist der erste (oder letzte) Stopp nach (oder vor) Russland auf Chinas polarer Seidenstraße, nur wenige Kilometer vor der russischen Grenze. Hier wäre rein geopolitisch vermutlich eine der spannendsten Destinationen gewesen, die Baltschev hätte besuchen können.
Das aber ist Klagen auf höchstem Niveau. Die Reise, auf die uns Bettina Baltschev in Am Rande der Glückseligkeit mitnimmt, ist so inspirierend wie eindrucksvoll und zeugt von intensiver Recherche und Auseinandersetzung mit ihren Reisezielen. Wir, die Leserinnen und Leser, werden gleichsam informiert, unterhalten und mitgenommen in einen kleinen Strom an Gedanken, der uns zeigt, welches Glück wir an Europas Stränden finden können, wie nah aber auch manches Leid liegen kann.
HMS
Bettina Baltschev: Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand; Mai 2021; 280 Seiten, mit Abbildungen; Halbleinen, fadengeheftet; ISBN: 978-3-946334-85-9; Berenberg Verlag; 25,00 €
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