Urkunde rein, Haare raus

Wie bereits im vergangenen Jahr waren wir natürlich auch 2022 gespannt, wer den Deutschen Buchpreis gewinnen würde. Wenn – zugegeben und wie bereits erwähnt – auch irgendwie etwas weniger, als noch 2021. Was nicht unbedingt der Auswahl der Long- und Shortlist-Bücher geschuldet gewesen sein dürfte, sondern so der allgemeinen Weltlage. Ihr wisst schon: Q-Force abgesetzt; der letzte Halloween-Film enttäuschend und der unterhaltsamste und aufmerksamkeitsstärkste Botschafter der Welt aus Deutschland abgezogen.

Kribbelig

Dafür haben wir in diesem Jahr geschafft, was uns im vergangenen Jahr die Zeit- und Corona-Situation verwehrte: Die Preisverleihung im Frankfurter Römer zu besuchen, was auch „unsere“ Eröffnung zur Frankfurter Buchmesse bedeutete, die in diesem Jahr vom 19. bis zum 23. Oktober stattfindet und – wunderbarerweise – für alle Menschen, die dies möchten, sogar live und in persona (natürlich teilen wir euch dort im Laufe der Woche den einen oder anderen Eindruck mit; kurze Momente auch via der sozialen Netzwerke).

Auch ein Hotel muss wohnlich sein… // Foto: © the little queer review

Nun also gestern: Nach einer erstaunlich entspannten Anreise (mit der effing Deutschen Bahn!) und einem angenehmen Check-In im Hotel (dort haben wir erstmal alles Warmwasser verbraucht, in Berlin hingegen alle Sicherungen rausgenommen) und einigem Aufhübschen – wenn auch bei eher unangenehmen Licht im Bad – für den kribbeligen Anlass (auch wenn’s im Vorfeld der Sachbuchpreis-Verleihung im Humboldt-Forum Berlin etwas mehr kribbelte), stellten wir fest, dass wir in der Tat eine passende Unterkunft gewählt hatten, ging es doch zielstrebig zum total innerstädtischen Römer.

Veränderlich

Der Abend begann entspannt, ja beinahe entspannend, in durchaus unterhaltsamer und unterhaltungsfreudiger Gesellschaft. Allein manch einen Flurfunk zu überhören – oder eben nicht zu überhören – macht ja bekanntlich den Besuch der einen oder anderen Veranstaltung lohnenswert. Aber darum soll es ja nun nicht gehen. Durchaus aber um Bücher.

Diese – wer mag es glauben – standen am Abend der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2022 natürlich im Mittelpunkt. Die Freude, dies nun wirklich endlich wahrhaftig wieder mit größerem Publikum tun zu dürfen war, wie oben erwähnt und erwartet, groß. Neben Freude stand vor allem das Brückenbauen im Fokus, wie es auch Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, in ihrem Grußwort betonte – ist das Motto der diesjährigen Buchmesse doch „Translate. Transfer. Transform“

In diesem Kontext erwähnte auch die Jurysprecherin Miriam Zeh – vielen sicherlich aus dem Deutschlandfunk Kultur bekannt -, dass eine sich verändernde und neu gestaltende Kultur von Kritik genau zu dem gehöre, was eben gerade angezeigt sei. Hier warb sie im weitesten und etwas verklausulierten Sinne um Verständnis verschiedener Formen und Literaturbetrachtung. Also im Grunde so, dass jede*r verstehen konnte, die oder der wollte, es aber niemand musste. 

Vollzählig

Sehr verständlich und auch zugänglich fielen hingegen die sechs Filmchen der Deutschen Welle zu den nominierten Titeln aus, in denen in alphabetischer Reihenfolge Fatma Aydemirs Dschinns (unter großem Applaus), Kristine Bilkaus Nebenan, Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter, Jan Faktors Trottel, Kim de l’Horizons Blutbuch (ebenfalls unter großem Applaus und Jubel) und Eckhart Nickels Spitzweg vorgestellt wurden. Wäre es ein Publikumspreis gewesen, so wäre es definitiv ein harter Kampf zwischen Dschinns und Blutbuch geworden (etwas, das auch in den sozialen Medien klar war, wo beispielsweise – leider – Nebenan so gut wie gar nicht stattfindet).

Womöglich war es aber auch in der Jury, zu der neben Zeh noch Selma Wels, Uli Ormanns, Erich Klein, Frank Menden, Isabelle Vonlanthen, Jan Wiele gehörten, so. Immerhin war am Abend auch von Romanen über zwar ungewöhnlich gewöhnliche Helden*innen oder eher Protagonist*innen die Rede, die ihre Spannung und ihren Reiz primär in der Form und weniger im berstenden Inhalt fänden; doch das muss am Ende ja nichts heißen.

So sagten wir noch zueinander: Blutbuch (erschienen im DuMont Verlag) – wär’ schön, aber ob sie sich das trauen? Nun, sie trauten sich und so verkündete Karin Schmidt-Friderichs unter nahezu tosendem Applaus und lauten Freudenschreien, dass Kim de l’Horizon für den durchaus experimentellen Roman einer Selbstfindung, dessen Entstehung zehn Jahre dauerte, mit dem Deutschen Buchpreis geadelt würde.

Feierlich

Auch unter den anderen Nominierten war die Freude darüber augenscheinlich groß und eine gelöste Stimmung im Anschluss an die Preisvergabe lässt darauf schließen, dass diese gar echt gewesen sein dürfte. Mensch muss ja keinen Neid unterstellen, wo womöglich keiner ist. Zunächst einmal gab es im Kaisersaal aber beinahe ein Oscar-Feeling, so viele Personen mussten geherzt, umarmt und geküsst werden, bevor de l’Horizon auf die Bühne trat, um die Urkunde entgegenzunehmen. 

„Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht?

Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Großmutter, die „Großmeer“ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt.

Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ.“

Begründung der Jury

Nach eigenem Bekunden ohne Vorbereitung sprach Kim de l’Horizon über die Liebe zur Mutter, der Familie und den Freuden; sang ein paar dramatische Töne – was wunderbar zum Buch passte – und widmete den Preis schließlich auch den Frauen im Iran und allen Menschen, die für ihren Körper und ihr Sein verfolgt werden. Dass de l’Horizon nicht Einhundertprozent unvorbereitet auf die Bühne kam, verriet der Trimmer, der fix zur Hand war und mit dem sich fast noch fixer die Haare als Zeichen der Solidarität abgeschoren wurden.

Haare abgeschoren als Zeichen der Solidarität: Kim de l’Horizon // Foto: © the little queer review

Hier reagierte das Publikum zuerst verunsichert, dann gab es aber auch für diese Performance nach der Gesangsperformance Applaus, nach und nach in Form von Standing Ovations. Wir müssen gestehen, dass wir hier etwas gespalten sind. Natürlich ist dieses Zeichen der Solidarität ein wunderbares. Andererseits schien es etwas seltsam, den Roman, der zu einer ganz anderen Zeit entstand, in diesen Kontext zu setzen. Wir verstehen das Zeichen, das damit gesetzt werden sollte. Ob es aber ein optimaler Zusammenhang war, mag fraglich bleiben. Auch ob alle Ovatorinnen und Ovatoren im Alltag so sehr für Frauenrechte, die Menschen im Iran oder überhaupt die Würde der Menschen in allen Teilen der Welt aktiv einstehen oder hier der oder die eine oder andere vielleicht auf einen Zug der Menge aufgesprungen sind, darf in Frage gestellt werden.

Zukünftig

Dessen unbenommen, ist es natürlich dennoch stark und dass solch eine Bühne – die Preisverleihung wird breit übertragen, über die jeweiligen Preisträger*innen berichten die Medien prompt und gerade solch eine Aktion bringt Schlagzeilen und sowohl Preis als auch Preisträger*in wohl europa-, wenn nicht gar weltweit auf die Karte – genutzt werden sollte, dem dürfte kaum ein Mensch widersprechen wollen. 

Ebenso ist es natürlich fantastisch, dass nach Antje Rávik Strubel nun zum zweiten Mal in Folge eine Person mit dem Buchpreis ausgezeichnet wurde, die sich als nonbinär definiert und dies auch in ihrer öffentlichen Darstellung so offenherzig lebt. Oder, wie es nalocada aka Nadin passend in einer Instagram-Story formulierte: „Jetzt queert Blutbuch endgültig alle Provinzbuchhandlungen und bildungsbürgerlichen Haushalte 💅🏼“ So ist dem.

In diesem Sinne sind wir gespannt, ob sich der Geist der Veränderung, der zumindest für einen kurzen Moment an diesem Abend im Saal war, auf die Tage der Messe überträgt, ob er manifest sein oder doch eher nebelig durch die Hallen wabern wird und welche Eindrücke wir in den kommenden Tagen gewinnen. Wir werden es euch wissen lassen. 

Eure queer-reviewer

PS: „So, Visitenkarten und Sticker hab ich.“ – „Willst Du auch Kondome einstecken?“

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert