Nach dem Preis ist vor dem Preis ist rasende Zeit

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Die Zeit rast und so fiel uns eben erst auf, dass es doch schon wieder gut zwei Monate her ist, dass der Deutsche Sachbuchpreis 2022 im Humboldt Forum Berlin verliehen worden ist. Ausgezeichnet wurde das ausgezeichnete Buch Die Hohenzollern und die Nazis von Stephan Malinowski (erschienen im Propyläen Verlag; unsere Besprechung folgt); wobei auch die anderen sieben Titel nicht nur die Nominierung verdient hatten.

Wer hätte damit gerechnet?!

„Der Witz im Vorgespräch gestern in der Runde mit den anderen Autorinnen und Autoren war, man darf als Nominierter nicht auf so ne Veranstaltung gehen und dann als ersten Satz sagen: ‚Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet.‘ Deswegen ist jetzt mein erster Satz: Damit hätte ich überhaupt nicht gerechnet.“

Stephan Malinowski in seiner schmissigen Rede zum Sachbuchpreis 2022, die es hier in Gänze zu sehen gibt.

Darunter das zeitgemäß-aufrüttelnde Buch Die Frauen von Belarus von Alice Bota, das wir bereits kurz nach Erschienen im Berlin Verlag besprochen hatten oder die wirkungsstarke Kulturgeschichte Am Rande der Glückseligkeit. Über den Strand der Berlinerin Bettina Baltschev, die weit mehr als nur eine Naturbetrachtung ist, wie es unser Herausgeber Hans kürzlich in seiner Besprechung beschrieb

Die Nominierten für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 zum Gruppenfoto vor der Preisverleihung am 29. Mai 2022 im Humboldt Forum Berlin; v. l. n. r.: Steffen Mau, Stephan Malinowski, Samira El Ouassil, Friedemann Karig, Ludwig Huber, Alice Bota, Bettina Baltschev, Natan Sznaider, Stefan Creuzberger // Foto: © the little queer review/AS

Kunst und Kultur für die Demokratie

Nominiert waren auch zwei Bücher der Stunde (wobei alle Titel ins Heute wirken und im Heute relevant sind, etwas, das auch während der Preisverleihung betont wurde): Das deutsch-russische Jahrhundert von Stefan Creuzberger, erschienen bei Rowohlt, und von uns in der Besprechung mit einem Foto am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park ausgestattet.

„[…] und ich glaube, dass sowohl die Corona-Krise als auch der Krieg in der Ukraine, der, wie mir ukrainische Künstler sagen, ja auch ein Krieg gegen die Kultur ist, deutlich machen, welche Bedeutung Kunst und Kultur hat. Welche Bedeutung Kunst und Kultur hat für unsere Demokratie. Die Stimme der Demokratie […], wenn es keine Bücher mehr geben würde, keine Autorinnen und Autoren, die sich’s überhaupt leisten können, künstlerisch tätig zu sein, dann hat unsere Demokratie ganz, ganz viel verloren. Und ich hoffe, dass das eine der Folgen sein wird […], dass wir uns bewusst werden, welch Reichtum Kunst und Kultur ist und welche Verantwortung wir gegenüber Kunst und Kultur haben. Dass wir Räume brauchen, dass wir sie schützen müssen, die Infrastruktur erhalten müssen und dass wir sie tunlichst nicht unter Freizeitvergnügen und Fitnessstudios einordnen sollten, sondern dass es eine besondere Bedeutung hat in unserer Demokratie. Weil es die Stimme der Demokratie ist, in einer Welt, in der Demokratien nicht immun sind, sondern systematisch angegriffen werden.“

Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) in einem flammenden Appell zur Bedeutung von Kunst und Kultur (natürlich hätten wir es gemocht, hätte sie gesagt „Krieg gegen die Ukraine in der Ukraine“ oder so… naja…)

Ebenso Natan Sznaiders beeindruckendes und aufarbeitendes Debattenbuch Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, das, so die Jury, „präzise die ideologischen Kurzschlüsse frei[legt], die sich um scheinbar moralisch einwandfreie politische Begehren gruppieren.“ Zum bei Hanser Sachbuch erschienenen Buch folgt unsere Besprechung in den kommenden Tagen.

Was folgt?

Bereits lesen könnt ihr die Besprechung zu Steffen Maus Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, das als einer der ersten Titel in der neuen C.H. Beck-Reihe Edition Mercator erschien und die Funktion von Grenzen als Orte der Selektion kritisch unter die Lupe nimmt. 

Warten wiederum müsst ihr noch ein wenig auf unsere Texte zu den Erzählenden Affen von Samira El Ouassil und Friedemann Karig (das laut Ullstein Verlag Ende des Jahres als Taschenbuch erscheinen wird) und Ludwig Hubers fabelhafte, wissenschaftlich-bissige, bei Suhrkamp erschienene Darlegung Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche.

Wir warten gespannt auf die Nominierungen für den Deutschen Sachbuchpreis 2023. Und wer weiß, womöglich begegnen wir im kommenden Jahr ja so aufregenden Titeln wie Rainer Herrns Der Liebe und dem Leid, das ebenso sehr Sittengemälde und eindrückliches Zeitporträt wie Mahnung zur Aufmerksamkeit ist und das unsere Gastautorin, die Publizistin und Aktivistin Nora Eckert, hier besprochen hat. Ebenso haben wir gesehen, dass der Berlin 1936-Autor Oliver Hilmes im Januar ein neues Buch – Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe – im Siedler Verlag veröffentlichen wird. Oder womöglich erscheint ein Buch, das eindrücklich zu behandeln versteht, wie die Zeit doch rast…

Zum Beispiel der Deutsche Buchpreis 2022

…wie das so ist, sehen wir auch daran, dass es bald ein Jahr her ist, dass wir die Nominierten-Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021 kommentierten. Bereits dort ergingen wir uns in einiger Kaffeesatzleserei im Vorfeld der Longlist-Bekanntgabe – dies nicht nur wegen #buchpreisbloggen, sondern auch, weil wir hier alle gern tippen, raten und spekulieren oder: wohlbegründet vermuten. Das geht so weit, dass wir in Sendungen wie Princess Charming im Lauf einer Folge pausieren und mögliche Reaktionen antizipieren. Jaja, so ist das.

So wollen wir jedenfalls auch im Chaos-Jahr 2022 ein wenig überlegen, wenn wir in diesem Jahr auch weniger deutschsprachige Belletristik zur Hand genommen haben als im vergangenen (dafür gab es wieder mehr Sachbücher, manch Internationales, reichlich Filme und natürlich Gedanken zum unsäglichen und unverzeihlichen Angriffskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine und zu manch unsäglichem Ton bezogen auf queere und vor allem trans* Personen). Dessen unbenommen haben wir unsere Tasse Kaffee leer und wollen einmal im Satz lesen und ein paar derselben dazu schreiben.

Neulinge, Gewohnheitstiere und Nischen

Zunächst einmal zum Wallstein Verlag, die in diesem Jahr ein wunderbares belletristisches Programm auch im deutschsprachigen Bereich haben. Wir besprachen bereits Ellis, das Debüt von Selene Mariani, da vermuten wir zwar keine Nominierung, doch wollen wir euch den Titel, der Anwärter für die Hotlist 2022 ist, ans Herz legen. Kürzlich veröffentlichte der Verlag den neuen Roman von Steffen Mensching, Hausers Ausflug, sowie das Romandebüt MTTR von Julia Friese. Beide Titel besprechen wir in Kürze und beide könnten in der Tat Longlist-Material sein.

Ebenso ein interessanter Neuling: Der gesellschaftlich relevante und eingängige, erst Ende Juli bei Zsolnay erschienene zweite Roman Dominik Bartas, Tür an Tür. Das ist zwar keine exaltierte Sprachkunst, dafür aber ein Titel, der sowohl sprachlich wie auch inhaltlich verbinden kann und den Preis einmal mehr davor bewahren könnte, das Klischee der Entrücktheit ein ums andere Mal zumindest nicht mit über 80 Prozent zu erfüllen. Und natürlich aus der Hanser-Verlagsgruppe immer unter den Anwärterinnen: Monika Helfer, dieses Mal mit Löwenherz, in dem es in erster Linie um ihren toten Bruder Richard geht. Und noch ein letztes, das nicht nur in sozialen Medien vielgepriesene Dschinns von Fatma Aydemir, das im Februar bei Hanser Berlin erschien.

Christian Baron hat soeben seinen neuen Roman Schön ist die Nacht bei Claassen veröffentlicht; ebenfalls recht frisch und ein Buch der Stunde, das gerade abgefeiert wird ist Stefan Uhlys Die Summe des Ganzen aus dem Secession Verlag. Nicht mehr so neu aber ein krass-geiler und wilder Ritt ist übrigens auch Nektar Meer (erschienen bei der Edition Überland) von Roman Israel. In diesem Ritt-Zusammenhang sei auch Nadire Biskins bei dtv erschienenes Roman-Debüt Ein Spiegel für mein Gegenüber erwähnt (apropos dtv: Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher ist auch talk of the town, also wer weiß…). Oder auch Stefan Kutzenbergers Abschluss der Kutzenberger-Trilogie Kilometer Null, erschienen im Berlin Verlag. Oder gar Silke Stamms Hohe Berge, das mit vielen Vorschusslorbeeren (u. a. dem Hamburger Literaturpreis für einen Auszug) in die Veröffentlichung am 1. September geht?!

Verlagsrundum

Nun ein Blick zu Suhrkamp und dem zugehörigen Insel Verlag: Heike Geißler war mit ihrem herrlich redundanten Werk Die Woche bereits für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und wir wünschen es ihr und dem Buch, zumindest einen der 20 Plätze der Longlist zu besetzen. Ebenso für den Preis der LBM war Emine Sevgi Özdamar mit Ein von Schatten begrenzter Raum nominiert und soeben erhielt sie den Büchner-Preis 2022. Natürlich ein heißer Anwärter; definitiv nicht unser Titel und nach einer Begegnung im Literarischen Colloquium Berlin auch definitiv nicht unsere Autorin.

Foto: © the little queer review

Der in Tel Aviv geborene und in Wien lebende Doron Rabinovici hat mit Die Einstellung einen aktuellen Hammer-Roman geschrieben, der’s auf jeden Fall verdient hätte. An der Grasnarbe von Mirjam Wittig klingt ebenso nach Longlist-Material wie Eine andere Zeit von Helga Bürster, das kurz vor dem Mauerfall 1989 in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern einsetzt.

Stasi-Kuh

Und wo wir schon einmal in Ostdeutschland sind, bleiben wir doch noch kurz dort (übrigens haben wir kürzlich zwei sehr eindrückliche Ausstellungen in Frankfurt an der Oder besucht, mehr dazu in der kommende Woche) und kommen auf die in Zürich geborene, in Hamburg aufgewachsene und nun in Berlin lebende Roswitha Quadflieg deren prosaische Stasi-Abrechnung während eines Leichenschmauses Ihr wart doch meine Feinde im Februar bei Faber & Faber erschien.

Ebenfalls im Februar ist im Quintus Verlag der Roman Mitterndorf der in Dachau geborenen Berlinerin Michaela Maria Müller erschienen, in dem es um eine Uckermärker-Kuh, Landwirtschaft und Tschernobyl geht. Landwirtschaft spielt auch im albtraumhaften Existenz-Panorama Wilderer von Reinhard Kaiser-Mühlecker eine gewichtige Rolle; erschienen im März bei S. Fischer.

Oh Schreck, oh Graus, die Kunst kommt raus

Kurz zuvor erschienen im selben Verlag Zukunftsmusik von Katerina Poladjan (was ebenfalls für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war) und Die Gäste von Katharina Hacker, das schon allein des Covers wegen nominiert gehört! Gleiches gilt für das Ende April bei Eichborn erschienene Keine von Ihnen der Pankowerin Franziska Hauser, das einen so scharfen wie spannenden und wohlformulierten Blick in manch eine Untiefe der Kunstszene und einiges darüber hinaus wirft. 

Tiefe und garstige Blicke in Kunst und Politik bietet auch das am 7. September im Antje Kunstmann Verlag erscheinende Debüt des 1989 geborenen Titanic-Chefredakteurs Moritz Hürtgen Boulevard des Schreckens, auf dessen Besprechung um den Erscheinungstermin herum ihr euch schon einmal freuen dürft. Genau wie auf jene des bereits im Februar im Penguin Verlag erschienen Titels Unser Glück von Natalie Buchholz, das so überraschend wie relevant ist.

Foto: © the little queer review

Bei Eichborn erscheint zeitnah übrigens Chamäleon von Annabel Wahba, der Textchefin vom ZEITmagazin, das bereits im Vorfeld heiß gehandelt wird und von ihrer eigenen deutsch-ägyptischen Familiengeschichte handelt, den Tod des Bruders aufgreift und ins München der Zeit der Nazi-Diktatur und ins New York der 50er-Jahre führt (hier gibt’s ein nettes, kleines Video). 

Zu guter Letzt: Lesen, lesen, lesen

Das war es mit unserer verknappten und also absolut unvollständigen Kreuzung aus Vermutungs-Und-Wunschliste (nee, zwei haben wir noch: Die Schuhe meines Vaters von Andreas Schäfer, soeben bei Dumont erschienen und Triskele von Miku Sophie Kühmel, frisch bei S. Fischer auf’m Tisch.), die euch geneigten Leser*innen bestenfalls noch auf das eine oder andere Buch aufmerksam gemacht und manch eine Inspiration gebracht hat. Ebenso sind wir gespannt und hoffen eine gut durchmischte, so lebendige wie gesellschaftspolitisch scharfe und doch überraschende Longlist, die wir selbstredend kommentieren werden.

Schließen wollen wir mit dem Anfang und Stephan Malinowski, der sich zum Ende seiner Rede auf den Preisträger des vergangenen Jahres bezieht: „Jürgen Kaube hat im letzten Jahr, als er den Preis bekommen hat, an dieser Stelle gesagt: ‚Bitte lesen Sie auch die anderen Bücher.‘ Das möchte ich wiederholen: Lesen Sie auch die anderen Bücher und vor allem vielen Dank.“

Eure queer-reviewer

Infos: Die Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022 wird am Dienstag, 23. August 2022 um 10:00 Uhr bekanntgegeben; ebenfalls an einem Dienstag um 10:00 Uhr wird am 20. September 2022 die Shortlist verkündet. Die Preisverleihung findet zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse (Gastland 2022 ist Spanien) am 17. Oktober 2022 – hui! Ein Montag! – ab 18:00 Uhr im Kaisersaal des Frankfurter Römer statt.

PS: Natürlich wissen wir nicht, welche Verlage welche Titel eingereicht haben; ebensowenig hatten oder haben wir Einblick in die Gespräche und/oder Köpfe der Jury (in diesem Jahr: der Wiener Publizist Erich Klein, stories!-Buchhändler Frank Menden – mit wunderbarem Instagram -, der Inhaber der Agnes-Buchhandlung Uli Ormanns, die Programmgestalterin am Literaturhaus Zürich Isabelle Vonlanthen, die Verlegerin und Kulturvermittlerin Selma Wels, der FAZ-Feuilletonist Jan Wiele und die Deutschlandfunk Kulturredakteurin Miriam Zeh) des Deutschen Buchpreises. 

PPS: Ach ja: Von Heinz Strunk liegt mit Ein Sommer in Niendorf bei Rowohlt ebenso ein neuer Titel vor. Wir werden sehr froh sein, wenn wir ihn nicht wie im vergangenen Jahr lesen werden müssen (wobei er weit interessanter klingt, als Es war immer so schön mit dir, dessen Platzierung auf der Longlist sich uns immer noch nicht erschließt).

Foto: © the little queer review

PPPS: Zum Thema Sommer möchten wir euch unbedingt das oben bereits eingebundene Tage in Sorrent aus dem mare Verlag von Andrea und Dirk Liesemer empfehlen, das unseren Rezensenten über die Maßen begeistert hat. Da würde uns ein Auftauchen auf der Longlist zwar überraschen, doch das bedeutet ja nicht, dass es kein fantastisches Buch sein kann. 

PPPPS: In eigener Sache freuen wir uns, euch Leser*innen mitteilen zu dürfen, dass wir mit unserem Online-Magazin the little queer review in diesem Jahr den Berliner Verlagspreis begleiten dürfen. Mehr dazu in Kürze. 

*Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

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