Als die Welt versagte

Gedenktage sind etwas Gutes. Am 27. Januar gedenken wir der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, der 3. Oktober markiert den Tag der Deutschen Einheit und der 9. November ist gleichermaßen der Jahrestag von Mauerfall und Pogromen gegen Jüdinnen und Juden. Es gibt Ereignisse, derer wir anlässlich ihrer Jahrestage gedenken.

Das birgt allerdings auch die Gefahr, dass wir diese Geschehnisse an anderen Tagen eher ausblenden. Manche davon – und dazu zählen auch die genannten – sind es aber wert, dass wir jeden Tag an sie denken. Zu diesen schrecklich „zeitlosen“ Ereignissen gehört auch der Völkermord von Srebrenica, dessen trauriger „Jahrestag“ eigentlich im Juli ist.

Mit dem eigenen Schicksal täglich konfrontiert

Ein wichtiges und aktuelles Zeugnis des hierzulande oft wenig beachteten Genozids an Tausenden bosniakischen Männern in Srebrenica ist das von Hasan Hasanović. Dieser musste an dem berüchtigten Todesmarsch im Juli 1995 teilnehmen und konnte bei dieser Gelegenheit in die Freiheit fliehen. Seine Erlebnisse und Erinnerungen hieran hat er in dem kompakten Buch Srebrenica überleben festgehalten, das in der Übersetzung von Filip Radunović sowie einem Vorwort von Keno Versec 2022 im Wallstein Verlag erschienen ist.

Hasanović ist heute Kurator der Völkermord-Gedenkstätte Potocari und damit jeden Tag aufs Neue mit seinem eigenen Schicksal wie auch dem von Tausenden seiner Landsleute konfrontiert. In 14 kurzen Kapiteln auf gerade einmal etwas mehr als 100 Seiten schildert er uns seinen Blick und seine Erfahrung aus der damaligen Zeit. Wie er und seine Familie in seiner Jugend eine relativ unbeschwerte Zeit verbrachten und sich mit dem von Serbien angeleiteten Krieg die Lage für muslimische Bosniaken langsam, aber sicher zuspitzte.

Er erzählt, wie er mit seiner Familie nach Srebrenica kam, wie sie mehrere Jahre dort überlebten und welch erbärmliche Situation dies an vielen Stellen für sie war. Und dennoch gab es viel Menschlichkeit und gegenseitige Hilfe unter denen, die in der Schutzzone Srebrenica Unterschlupf gefunden hatten.

Flucht und Ankunft (?)

Es geht weiter mit Hasanovićs schrecklichen Erfahrungen – vor allem der gefährlichen Flucht aus Srebrenica in die sichere Stadt Tuzla, die er mit seinem Bruder und seinem Vater antreten musste. Er beschreibt nüchtern und präzise, welche Hindernisse er und alle mit ihm Flüchtenden zu überwinden hatten. Dabei schafft er es gut, herauszustellen wie prekär und gefährlich die Situation für ihn war, ohne dabei allerdings zu detailliert auf die vermutlich schrecklichen Bilder, die er gesehen haben muss, einzugehen.

In Tuzla angekommen, findet er einen Teil seiner Familie wieder, Vater und Zwillingsbruder haben die Flucht jedoch nicht überlebt. Wie ihn die Erlebnisse weiterhin begleiteten – nein, bis heute begleiten – schildert Hasanović auf den letzten Seiten von Srebrenica überleben überaus eindrücklich.

Das Grauen in der Enklave

Dieser kurze Erfahrungsbericht illustriert auf sehr bewegende Art und Weise, welche grauenvollen Erfahrungen Hasan Hasanović und so viele bosniakische Männer im Zuge des Völkermords von Srebrenica machen mussten. Der Absturz von einem glücklichen Familienleben und einer mehr oder weniger behüteten Jugend in beengte, unhygienische und fast aussichtslose Verhältnisse, zusammengepfercht mit vielen Tausenden anderen in der Enklave Srebrenica muss hart gewesen sein. Hasanović beschreibt dies jedoch ohne Bitterkeit und mit größtmöglicher Nüchternheit, aber eben auch ungeschönt.

Millionen Menschen werden verfolgt, einfach weil sie offenbar nicht „dazugehören“ oder andere Mächte am Werk sind. In der Ukraine passiert dies seit nunmehr zwei Jahren vor unserer Haustür, in Syrien oder Afghanistan müssen wir dem Treiben schon seit teils mehr als einem Jahrzehnt zusehen. Soweit wir wissen, ist es dort bisher nicht zu Genoziden gekommen (auch wenn beispielsweise Butscha oder Irpin in eine ähnliche Kategorie fallen könnten), aber was die Menschen dort erdulden und erleben müssen, ist noch immer grausam.

Ein schreckliches Zeugnis

Hasan Hasanovićs kurzes Buch Srebrenica überleben bringt eine der wohl schrecklichsten Erfahrungen, die Menschen und ganze Volksgruppen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erleben mussten, zu Papier. Das ist nicht schön und definitiv keine leichte Lektüre. Aber dennoch schafft er es mit seiner einfachen und zugänglichen Sprache, uns, ohne schreckliche Bilder zu bemühen, zu beschreiben, wie schrecklich die Bilder sind, von denen er spricht.

Srebrenica überleben ist somit das traurige, aber dennoch wichtige Zeugnis eines Genozids, der direkt vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah. Wir oder unsere Vorfahren haben hier weggesehen und Tausende Bosniaken haben dies mit ihrem Leben bezahlt. Ihrer nicht nur an einem bestimmten Tag zu gedenken – und sei es mit der Lektüre dieses kurzen Buches – ist mehr als angemessen.

HMS

Hasan Hasanović: Srebrenica überleben, mit einem Vorwort von Keno Versec; aus dem Englischen von Filip Radunović; August 2022; Hardcover, gebunden; 104 SeitenISBN 978-3-8353-5260-5 Wallstein Verlag; 18,00 €

Unser Schaffen für the little queer review macht neben viel Freude auch viel Arbeit. Und es kostet uns wortwörtlich Geld, denn weder Hosting noch ein Großteil der Bildnutzung oder dieses neuländische Internet sind für umme. Von unserer Arbeitszeit ganz zu schweigen. Wenn ihr uns also neben Ideen und Feedback gern noch anderweitig unterstützen möchtet, dann könnt ihr das hier via Paypal, via hier via Ko-Fi oder durch ein Steady-Abo tun – oder ihr schaut in unseren Shop. Vielen Dank!

About the author

Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert