„Verpassen Sie das Boot nicht“

Angenommen wir würden in einer Umfrage danach fragen, wo sich das erste deutsche Konzentrationslager befand, vermutlich wüssten nur die wenigsten Deutschen die richtige Antwort. Manche mögen vielleicht noch darauf kommen, dass es nicht Auschwitz gewesen sein kann, lag dieses doch bis 1939 nicht in (Nazi-)Deutschland. Aber wo dieses erste „Lager“ tatsächlich stand, dürfte vielen dennoch nicht bekannt sein.

Es gehört zur traurigen deutschen Geschichte, dass Konzentrationslager keine Erfindung der Nazis waren, sondern bereits zuvor bestanden und schon immer strenger Bürokratie unterlagen. Das erste befand sich in dem damaligen „Schutzgebiet“ – aka Kolonie – Deutsch-Südwestafrika des Deutschen Kaiserreichs. Wie seine unrühmlichen Nachfolger war auch das Lager auf der Haifischinsel in Lüderitz essenzieller Bestandteil in einem Völkermord, nämlich dem an den Herero und Nama, zwei heute fast ausgelöschte Völker in „Deutsch-Südwest“ – heute besser bekannt als Namibia.

„Die Wilden“

In einer der letzten Szenen von Lars Kraumes Film Der vermessene Mensch, der auf der diesjährigen Berlinale erstaufgeführt wurde und ab 23. März in den deutschen Kinos läuft, befinden wir uns in diesem Konzentrationslager. Kraume erzählt in seinem historischen Spielfilm die Geschichte des ehrgeizigen, jungen Berliner Ethnologen Alexander Hoffmann (Leonard ScheicherDas schweigende Klassenzimmer, Das Boot, Hannes, Tatort – Ein paar Worte nach Mitternacht), der in den 1900er-Jahren Forschungen an den Völkern des deutschen „Schutzgebiets“ anstellen soll.

Verladung von Schädeln für das Völkerkundemuseum Berlin // © Studiocanal GmbH / Willem Vrey

Wir beginnen allerdings bereits im Jahr 1896 bei der Berliner Kolonialausstellung. Auf Anweisung seines Chefs Professor von Waldstätten (Peter von Simonischek) soll Hoffmann gemeinsam mit Kollegen eine Gruppe von „Wilden“ vermessen, die für die Ausstellung in Berlin sind und sich eine Audienz beim Kaiser erhoffen. Dabei lernt Hoffmann unter anderem Friedrich Maharero (Anton Paulus), den Sohn des Hererokönigs, sowie die Übersetzerin Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) kennen. Und bereits an dieser Stelle wird eindrücklich klar, wie entwürdigend diese Prozedur und überhaupt der Umgang des Kaiserreichs mit „den Wilden“ ist.

Kopflos in der Wüste

Acht Jahre später reist Hoffmann, dessen Abenteuerlust, aber auch seine Skrupel in Bezug auf den rassistischen Umgang mit den kolonisierten und unterdrückten Völkern von Beginn an deutlich wird – worunter auch seine Karriere leidet –, nach Deutsch-Südwestafrika, um im Windschatten des bevorstehenden Genozids (überzeugend grausam: Alexander Radszun als General Lothar von Trotha) die ethnologische Forschung über die Herero und Nama auszubauen.

Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) blickt in die Ferne der Wüsten von Deutsch-Südwestafrika // © Studiocanal GmbH / Willem Vrey

Gemeinsam mit einer deutschen Kompanie um Oberleutnant Wolf von Krensky (Sven Schelker) begibt er sich an die Frontlinie, um Utensilien zu sammeln und vor allem die Herero weiter zu erforschen. Und in Teilen wohl auch, um Kezia wieder zu sehen, der gegenüber er eine gewisse Zuneigung entwickelt hat. Dass er dabei nach und nach an seine persönlichen, körperlichen und moralischen Grenzen stoßen wird, dürfte Hoffmann zu Beginn seiner Expedition höchstens erahnt haben – wenn überhaupt.

Dünnes Eis im Umgang mit dem Wüstenland

Mit seinem Film – dem ersten Spielfilm zu der Thematik – begibt sich Regisseur und Drehbuchautor Kraume auf relativ dünnes Eis. Dass er es allerdings versteht sich komplexer Themen anzunehmen, hat er nicht nur mit seinen Filmen Der Staat gegen Fritz Bauer oder Das schweigende Klassenzimmer unter Beweis gestellt. Auch Produzent Thomas Kufus (u. a. Ökozid) unterstreicht die Komplexität im Presseheft zu Der vermessene Mensch.

Die Soldaten der „Deutschen Schutztruppe“ nehmen Ovaherero gefangen // © Studiocanal GmbH / Willem Vrey

Es sollte mittlerweile allen Deutschen bewusst sein – ist es natürlich nicht, aber genau hieran arbeitet der Film –, dass das, was sich in dem vorwiegend aus Wüste und Steppe bestehenden Land abspielte, ein lupenreiner Völkermord war und die Deutschen waren die Täter. Was wir daher nun von einem deutschen Filmemacher sehen, ist die Perspektive der Täter auf die Erfahrungen der Opfer. Umgekehrt wäre die Einnahme der Opferperspektive klassische kulturelle Aneignung, wie es auch in der Diskussion im Anschluss an die Premiere des Films am 14. März in Berlin klar wurde.

Dessen war sich der Regisseur offenbar sehr bewusst, hat daher das sich lose an Uwe Timms orientierenden Roman Morenga erstellte Drehbuch in acht Schleifen mit der überzeugenden Co-Hauptdarstellerin Girley Charlene Jazama abgestimmt und so die Perspektive einer Frau aus einem der betroffenen Völker eingeholt. So schwierig also diese Gratwanderung in der Erzählperspektive war, so sensibel haben Kraume und sein Team dieses heikle Thema in ihrem Film am Ende umgesetzt.

Von Moral und Würde

Gleichermaßen zeigen viele Teile von Der vermessene Mensch die ganze Brutalität und Grausamkeit des deutschen Unterdrückerregimes. Angefangen von der bereits erwähnten Szene auf der Berliner Ausstellung über offenkundig asymmetrische Kampfesszenen, die Erbarmungslosigkeit gegenüber Frauen und Kindern oder so manches, wozu der Hauptcharakter Alexander Hoffmann sich durchringen muss, um seinen Chef, dessen manifesten Rassismus (der auch nur symptomatisch für so viele Deutsche und Kolonialmächte gewesen sein dürfte), zufriedenzustellen, gibt es kaum eine Szene, die uns in diesem Film nicht bewegt.

Gerade in Hoffmann, den Leonard Scheicher überaus glaubwürdig verkörpert, zeigt sich die Zerrissenheit, die dieser Film in uns auslöst. Der weitverbreitete Rassismus seiner Landsleute wie beispielsweise bei seinem Kollegen Bernd Wendenburg (Leo Meier) widert ihn regelrecht an, aber wenn es darauf ankommt, dann scheint er mehr und mehr seine moralischen Grenzen zu verschieben, um selbst auf der Karriereleiter emporzusteigen. Seine letzten Momente – im Konzentrationslager auf der Haifischinsel sowie im Berliner Hörsaal – könnten dies nicht besser illustrieren.

Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) verkörpert die Erniedrigungen, die die unterworfenen Völker durch die Deutschen zu erdulden haben und verliert dennoch nie ihre Anmut // © Studiocanal GmbH / Willem Vrey

Dem entgegen stehen die Ruhe und, ja fast schon Anmut von Kezia Kambazembi, die von ihrem ersten bis zu ihrem letzten Moment die Entwürdigungen der Deutschen hinnimmt, selbst wenn es kaum eine Begegnung – auch nicht mit Hoffmann – gibt, in der sie wirklich würdevoll behandelt wird. Obwohl die Handlung sich um einen Vertreter der deutschen Täter dreht, ist sie die eigentlich spannende und die Erzählung dominierende Figur dieser Geschichte, die ihr einen Roten Faden gibt.

Die Erinnerung wecken

Somit bleibt festzuhalten, dass Der vermessene Mensch wohl neben Sergei Loznitas Luftkrieg einer der grausamsten, aber dennoch bewegendsten Filme ist, die zuletzt über die deutsche Geschichte veröffentlicht wurden. Es dauerte bis 2015, bis der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert diesen als solchen bezeichnete und bis heute scheint vielfach das Bewusstsein in der deutschen Bevölkerung dafür nicht vorhanden zu sein. Dass noch immer tausende Schädel von Herero und Nama in den Archiven deutscher Museen wie dem Humboldt-Forum lagern, ist umso bedrückender.

Eine Gruppe Ovaherero-Frauen wird von der „Deutschen Schutztruppe“ in die Wüste getrieben // © Studiocanal GmbH / Willem Vrey

Umso wichtiger ist es, dass Lars Kraumes Film, der ein überaus komplexes Thema aus einer fast unerträglichen Perspektive behandelt, aber dank seiner doch recht umfänglichen Abstimmung mit Vertreterinnen und Vertretern der betroffenen Volksgruppen sowie durch überaus glaubwürdige und einfühlsame Darstellerinnen und Darsteller diesen Film produziert hat. Nicht nur in der allgemeinen Bevölkerung, sondern vor allem im Schulunterricht sollte Der vermessene Mensch breit gesehen werden und könnte so als ein erster Schritt zur Aussöhnung, zumindest jedoch als Teil der deutschen Erinnerungskultur an einem ansonsten recht blinden Fleck dienen.

HMS

PS: Apropos Erinnerungskultur: Auf der Haifischinsel (eigentlich eine Halbinsel) steht heute kein Denkmal, sondern zumindest in Teilen ein Campingplatz. Wir stellen uns vor, wie groß der (berechtigte) Aufschrei wäre, wenn so etwas auf dem Grund eines „europäischen Konzentrationslagers“ geschehen wäre. Auch wenn wir Deutschen uns häufig für unsere Erinnerungskultur rühmen, wenn es um die Aufarbeitung dieses Völkermords geht, haben wir offenkundig noch Nachholbedarf. Umso mehr sei Der vermessene Mensch empfohlen.

PPS: In der kommenden Woche lest ihr noch ein Interview, das wir mit Regisseur Lars Kraume geführt haben.

Der vermessene Mensch startet am morgigen Donnerstag, 23. März 2023, in unseren Kinos.

Der vermessene Mensch; Deutschland 2023; Regie und Drehbuch: Lars Kraume; Bildgestaltung: Jens Harant; Musik: Christoph M. Kaiser, Julian Maas; Produzent: Thomas Kufus; Darsteller*innen: Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek, Sven Schelker, Max Koch, Ludger Bökelmann, Leo Meier, Anton Paulus, Tilo Werner, Corinna Kirchhoff, Alexander Radszun; Laufzeit ca. 116 Minuten; FSK: 12; ab 23. März im Kino

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