Ganz schön spät 

Ein paar kritische Gedanken zu einer Premiere im Deutschen Bundestag: Seit 1996 gibt es alljährlich eine Gedenkstunde zur Erinnerung an den Tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Erstmals – und das ist die Premiere 78 Jahre nach Kriegsende – wurde nun der queeren Opfer des Nationalsozialismus gedacht.

Von Nora Eckert

Wo Hass um sich greift, ist niemand sicher.

Bärbel Bas, Präsidentin des Deutschen Bundestages in ihrer Begrüßung bei der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus, 27. Januar 2023

Aber queere Opfer? Gab es die denn damals? Die Opfer ja, aber noch nicht den Begriff, der bekanntlich für alles steht, was heute in der Buchstabensuppe LSBTI* versammelt ist. Ja, der Begriff queer ist jüngeren Datums, aber die Menschen, die damit gemeint sind, wurden während der NS-Zeit verfolgt, gedemütigt, misshandelt und ermordet. Die Akten sagen genau das aus.

Doch postwendend belehrt uns der Historiker Alexander Zinn in einem Interview für die Zeitung Die Welt, aus historischer Perspektive sei diese Benennung Quatsch. Hier also das Unerfreuliche, die kakophonische Begleitmusik zu dem Erinnerungstag vorweg. Damit war es im Interview aber längst nicht getan.

Ich jedenfalls empfinde es als eine Genugtuung, wenn nun endlich das ganze Unrecht der NS-Diktatur zur Sprache kommt und ins Bewusstsein gerückt wird und habe keine Schwierigkeiten, von den queeren Opfern zu sprechen. Wenn dann allerdings jemand wie Herr Zinn außerdem noch niedere Beweggründe unterstellt bei dem Bemühen, allen Opfergruppen in der historischen Aufarbeitung gerecht zu werden, fehlen mir wirklich die Worte. Aber Herr Zinn weiß es besser: „Wir schauen aus der heutigen Perspektive auf die Geschichte und interpretieren hinein, was uns wichtig ist. Damit geht eine Neigung einher, die Geschichte zu verbiegen, um des Prestiges habhaft zu werden, das mit der Zugehörigkeit zu einer Verfolgtengruppe einhergeht.“

Ach so, wir gedenken und erinnern des Vorteils wegen und betreiben zu diesem Zweck Geschichtsklitterung – so nennt man das wohl, wenn man Geschichte verbiegt. Ist Infamie eigentlich strafbar? Gemeingefährlich auf jeden Fall. Und dann: Natürlich kann man Geschichte nur rückblickend betrachten, aber Unrecht bleibt auch aus damaliger Perspektive ein Unrecht, auch wenn sich ein Staat dafür die passenden Gesetze macht. Das sollte eigentlich nach allem, was bisher als sogenannte Vergangenheitsbewältigung strafrechtlich geschehen ist, ein für alle Mal geklärt sein. Denn Legalität ist in einem Verbrecherstaat naturgemäß verbrecherisch.

Mir fällt bei dem Namen Alexander Zinn nur noch das englische Pudding Head ein. Ihm scheint die Rolle zu gefallen und vor allem zu passen – siehe meine Besprechung seines Beitrags im Jahrbuch Sexualitäten 2022. Wenn dieses Interview in der Welt nicht so traurig wäre, könnte man fast darüber lachen, wenn auch nur über einen verdammt schlechten Witz.

Doch nun zum eigentlichen Ereignis, dem Vorträge und Diskussionsrunden am Mittwoch (im SchwuZ) und am Donnerstag (Anhörungssaal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus) vorausgegangen waren. Sie waren überschrieben mit „Die queeren Opfer der NS-Zeit – ein schwieriges Gedenken?“ und „Gedenken bedeutet handeln!“ Beides trifft zu und erinnerte uns daran, dass das Gedenken am besten mit einem wachen Blick für die Gegenwart verbunden ist – Stichwort Backlash und der anschwellende Hass in den Sozialen Media und der Gewalt auf der Straße. Die Zeiten könnten schwieriger werden. Gedenken hat nichts mit Ausruhen zu tun, sondern sollte uns eine Handlungsanleitung für bevorstehende Kämpfe bedeuten.

Es wurde viel über Geschichte gesprochen und darüber, wie sehr eine systematische, archivbasierte Aufarbeitung der NS-Verbrechen gegen queere Menschen fehlt. Das ist leider richtig. Es gibt Forschungen, aber noch keine umfassende. Die Wissenslücken sind nicht zu übersehen. Hier zeigt sich ein grundsätzliches Dilemma marginalisierter Gruppen, die eben gern übersehen und ignoriert werden. Oder wie erklärt sich die lange Wartezeit für eine Gedenkstunde im Bundestag – fast drei Jahrzehnte sind darüber ins Land gegangen? Aber dagegen können wir etwas tun. Schließlich ist es der Hartnäckigkeit einzelner Menschen zu verdanken, dass das Thema queer endlich in dieser Weise im Deutschen Bundestag angekommen ist. 

Klar, wir dürfen das Erreichte nicht kleinreden, denn es ist in allen Fällen dem Aktivismus der LSBTIQ* Communitys zu verdanken, doch geschenkt wurde uns nie etwas. Was leicht daran zu erkennen ist, dass zwar nach 1945 ein Konsens darüber herrschte, dass der NS-Staat ein Unrechtsstaat war, aber die junge Bundesrepublik hatte keine Hemmungen, dieses Unrecht für bestimmte Gruppen weiterbestehen zu lassen – siehe § 175. Auch das war der neuentstandene demokratische Rechtsstaat. Um diese Tatsache kommt die Politik nicht herum. Die „Trägheit des Herzens“, übrigens eine der sieben Todsünden, blieb noch lange epidemisch in unserem Land und das Wegschauen ist nach wie vor unser Problem. Der Kampf um Anerkennung dauert an – siehe Selbstbestimmungsgesetz, Abstammungsrecht, Änderung Artikel 3 des Grundgesetzes und noch vieles andere.

So gesehen, geht es auch um Gerechtigkeit. Die Politologin Judith N. Shklar wusste in ihrem Essay Über Ungerechtigkeit Kluges über die Frage, wie wir zu Gerechtigkeit kommen, mitzuteilen: „Welche Entscheidung wir auch immer treffen, sie wird so lange ungerecht sein, wie wir der Perspektive der Opfer nicht uneingeschränkt Rechnung tragen und ihrer Stimme nicht volles Gewicht beimessen. Weniger zu tun ist nicht nur unfair, sondern politisch gefährlich.“

Wir sehen auch: In der Bundesrepublik muss man alt, sehr alt werden, damit einem Recht und Gerechtigkeit widerfahren. Wir haben ein wunderbares Grundgesetz, dessen Mütter und Väter mit Absicht in den ersten Artikeln elementare Menschenrechte festgeschrieben haben. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die freie Persönlichkeitsentfaltung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Gleichberechtigung aller Menschen und ihre Gleichbehandlung vor dem Gesetz.

Das waren und sind die Glaubenssätze für eine freiheitliche und bessere, weil gerechtere Welt. Es war allerdings nicht bloß ein Schönheitsfehler, dass nicht nur sexuelle und geschlechtliche Minderheiten noch lange und manche bis heute davon ausgeschlossen blieben, was lange niemanden in der Mehrheitsgesellschaft störte, wenn es dort überhaupt bemerkt wurde. Die Rechtspraxis etwa mit Blick auf den § 175 und der sich daraus ergebende diskriminierende und stigmatisierende Umgang mit bestimmten Gruppen bleibt ein dunkles Kapitel der bundesrepublikanischen Geschichte. Zu den Gruppen zählen übrigens auch trans*Frauen, denn ihre weibliche Geschlechtsidentität hat sie bekanntlich nicht davor bewahrt, ebenfalls wegen dieses Paragrafen abgeurteilt zu werden.

Großer Andrang herrschte diesmal für die Gedenkstunde im Plenum des Bundestages. Die queeren Communitys hatten den ungeheuren Symbolwert der Veranstaltung verstanden und zeigten Präsenz. Ich kritisiere nicht, sondern stelle nur fest, dass der Fokus auf schwul und lesbisch lag – aber bei der Benennung queer durften trans*, inter* und nichtbinär sich wenigstens mitdenken (darin haben wir Übung). Wer wollte, konnte die Veranstaltung im live-stream verfolgen. Ja, es war eine würdige Stunde mit sehr berührenden Momenten, der Georgette Dee zum Schluss mit dem Couplet „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ einen melancholischen Klang verlieh.

Und jetzt bitte das Selbstbestimmungsgesetz, liebe Ampelkoalition, seien sie so mutig, wie wir es sind!!!

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

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