Als es an einer Stelle darum geht, dass auch Väter einmal „in despair“, also verzweifelt oder verzagt sein können, denken wir uns schon, dass der so aufgeweckte wie empfindsame Junge aus Holz namens Pinocchio der schreibenden und beratenden Grille Sebastian J. Cricket zwar lauscht, aber längst einen anderen Entschluss gefasst hat: Er, der vom Waldgeist zum Leben erweckt wurde, damit sein Papa Meister Geppetto nach dem Verlust seines Sohnes Carlo nicht mehr allein sein muss, wird ihn allein lassen. Zuvor hatte Papa ihm gesagt, wie schwierig es mit ihm sei, wie ärgerlich es wäre, dass er nicht mehr wie Carlo sei und ihm eigentlich nur Scherereien bereite. Pinocchio bricht also auf, um Papa Geppetto aus der Ferne, angestellt als sprechende Puppe in Graf Volpes Wanderzirkus, unter die Arme zu greifen.
Veränderung kann gut sein
Als es erneut um die Resignation der Väter geht, ist es Pinocchio der Candlewick, den Sohn des örtlichen Podestà, versucht mit diesen Worten aufzumuntern. Eine Geste emphatischer Zuneigung, denn Candlewick sah Pinocchio als feindliche Kreatur, die er zuerst gern hätte brennen sehen. Es soll nicht die einzige Stelle in Guillermo del Toros Pinocchio sein (verfügbar auf Netflix), in der Motive, die zuerst einen Charakter beeinflussten und die Handelnden in eine bestimmte Richtung trieben, im späteren Verlauf aufgegriffen werden und so Konstellationen und Zugänge verändern.
Verändert haben del Toro und seine Co-Autoren ohnehin manches. So wurde die Handlung des auf dem Buch Die Abenteuer des Pinocchio von Carlo Collodi basierenden Stop-Motion-Films in das faschistische Italien der 1930er-Jahre unter Diktator Benito Mussolini verlegt; statt eines Kutschers als einem der Antagonisten ist es hier eben der Podestà, also ein Gebietsgouverneur. Ebenso finden sich die Figuren Fuchs und Mangiafuoco im Zirkusleiter Graf Volpe vereint und statt der Katze gibt es mit Spazzatura (zu deutsch etwa: Müll, Abfall) einen Affen, der als Assistentin des umtriebig-hintertriebenen Grafen unterwegs ist. Das Seemonster bleibt. Hinzugekommen sind Fliegerbomben und Seeminen.
Ein Magier, aber kein Schwindler
Wenig überraschend dürfte es sein, dass Guillermo del Toro und Team sich einer eher düsteren Interpretation der Geschichte verschrieben haben, was durch eine FSK-Freigabe ab zwölf Jahren unterstrichen wird. Jedoch ist dieser Pinocchio kein drastischer Horrorschinken, wenn auch nicht davor zurückgeschreckt wird, die Gräuel des Faschismus und Krieges, psychische Manipulation sowie physische Gewalt, Trauma, Mobbing und Verlust darzustellen. Teils geht es dabei durchaus intensiv zu und an mancher Stelle dürften sich geneigte Zuschauer*innen an Pans Labyrinth erinnert fühlen. Allerdings geht es bei der Darstellung nie nur um Schauwerte oder ewige Exposition.
Wenn del Toro, der an dem Projekt bereits seit 2008 dran war, sagt, dass dies ein Herzensprojekt sei und keine Kunstform sein Leben und seine Arbeit so bereichert habe, wie die Animation und darüber hinaus keine andere Figur jemals eine so tiefe Verbindung zu ihm gehabt habe wie Pinocchio, erklärt dies nicht nur, wieso er sich hier erstmals einem Animationsfilm zuwendet, sondern es klingt beinahe prophetisch. Denn Guillermo del Toro mag ein Bildzauberer und Geschichtenmagier sein. Was er hingegen nicht ist, ist ein hochstapelnder Märchenerzähler.
Grauen und Wunder, Herz und Horror
Das Fantastische an vielen seiner Geschichten ist, dass sich Grauen und Wunder verbinden. Dass Herz und Horror Hand in Hand gehen können. Dass sie voller zweiter Chancen und Bewährungsproben an unerwarteten Ecken stecken und Geschichten von Held*innen im Grunde nie nach einem Schema erzählt werden, welchem zufolge jeder Ausgang von Beginn an klar sein muss. So finden wir auch in seiner Pinocchio-Version Gutmütigkeit an Stellen, an denen wir sie nicht unbedingt vermutet hätten.
Dass der Film darüber hinaus mit einem Budget von 35 Millionen US-Dollar und dank markanter, an die Illustrationen von Gris Grimly angelehnter Animation hervorragend aussieht, durch Alexandre Desplat musikalisch gefühlvoll begleitet wird und mit unter anderem Ewan McGregor, David Bradley, Christoph Waltz, Tilda Swinton, Cate Blanchett (wer sie nicht bei ihrem ersten „Auftritt“ erkennt, ist ein Loser), Ron Perlman und Finn Wolfhard hervorragende Schauspieler*innen als Sprecher*innen hat, macht ihn auch auf der Stilebene zu etwas Besonderem. Eine Entdeckung ist Gregory Mann, der Carlo und Pinocchio spricht und singt, und die Begeisterung („Oh boy, oh boy, oh boy!“) und Sorge sowie den Zweifel und das Forschsein perfekt umsetzt. (Offenbar haben wir den Film im englischsprachigen Original gesehen. Das ist übrigens witzig bzw. bedarf einiger Gedanken: Im saubersten British English wird hier in einer amerikanisch–mexikanisch–französischen Koproduktion italienischer Lokalkolorit debattiert).
Gemeinsam Fuß fassen
Nebenher wird noch so manch existenzielle Frage aufgebracht (wofür wäre denn sonst Tilda Swinton an Bord, hm?) und so geht es ebenfalls immer wieder darum, wofür es sich zu leben oder zu sterben, zu bleiben oder zu gehen lohnt. Apropos: Eine Sache, die in dem sonst sehr runden Film seltsam anmutet ist, dass Candlewick auf einmal einfach nicht mehr stattfindet. Hier scheint es, als hätten Ken Schretzmann und Holly Klein beim Schneiden irgendwie versäumt, eine Szene reinzupacken. Sollte es sie nie gegeben haben: umso absonderlicher.
Davon einmal abgesehen ist Guillermo del Toros Pinocchio freilich ein mehr als sehenswerter und durchaus erinnerungswürdiger Film, der aus gutem Grund sowohl den Golden Globe als auch soeben Oscar für den Besten Animationsfilm einheimste. Dass Disney im vergangenen Jahr eine Live-Action-Verfilmung an den Start brachte, die bei Kritiker*innen durch- und schon längst dem Vergessen anheimfiel, zeigt darüber hinaus auf, dass der durchaus komplexe Stoff kein Selbstläufer ist. Dank del Toro und Team läuft’s aber hier — und wir empfehlen gemeinsam mit dem düster-herzlichen Pinocchio Fuß zu fassen.
AS
PS: Der „Big Baby Il Duce March“ ist inhaltlich, tonal und in der Inszenierung ganz weit vorn! Die sparsam eingesetzten Original-Songs sind ohnehin alle recht exquisit.
Guillermo del Toros Pinocchio ist seit dem 9. Dezember auf Netflix verfügbar.
Guillermo del Toros Pinocchio; USA, Mexiko, Frankreich 2022; Regie: Guillermo del Toro, Mark Gustafson; Buch: Guillermo del Toro, Matthew Robbins, basierend auf dem Buch Die Abenteuer des Pinocchio von Carlo Collodi; Bildgestaltung: Frank Passingham; Musik: Alexandre Desplat; Mit den Stimmen von: Gregory Mann, Ewan McGregor, David Bradley, Christoph Waltz, Tilda Swinton, Cate Blanchett, Ron Perlman, Finn Wolfhard, Burn Gorman, Jon Turturro, Tim Blake Nelson, Tom Kenny; Laufzeit: ca. 117 Minuten; FSK: 12
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