Spannung mit Luft nach oben

Beitragsbild: Michelle Yeoh als Evelyn Quan Wang in einem der Multiversen in Everything Everywhere All at Once von The Daniels // Foto: © Leonine

Es ist wohl kaum übertrieben, wenn ich behaupte, dass sich diese 95. Oscar-Verleihung, die in der vergangenen Nacht im Dolby Theatre in Los Angeles, Kalifornien, stattfand, bereits im Vorfeld als eine der spannenderen der letzten Jahre erweisen würde. Wer erinnert sich noch an Verleihungsmomente des vergangenen Jahres? Lediglich manches Red-Carpet-Outfit und die Ohrfeige, die Will Smith dem Komiker Chris Rock verpasste, ist erinnerlich.

Frauen, die reden

Dieses Jahr gab es, obwohl fünf Iren anwesend waren, was, wie der Moderator und Comedian Jimmy Kimmel in seiner launig-braven Eröffnungsrede aufbrachte, das Gewaltpotenzial auf der Bühne um Einiges erhöht haben dürfte, keinerlei körperliche Gewalt. Dafür manch starke Worte. Etwa von der Kanadierin Sarah Polley, die den Oscar für das Beste adaptierte Drehbuch für Women Talking/Die Aussprache (basierend auf einem Roman von Miriam Toews) gewann und anmerkte: „First of all, I just want to thank The Academy for not being mortally offended by the words ‚women‘ and ‚talking‘ put so close together like that. Cheers.“

Szene aus Die Aussprache; Jessie Buckley, Judith Ivey, Rooney Mara, Claire Foy, Sheila McCarthy, Michelle McLeod, Liv McNeil, Kate Hallett // Foto: Michael Gibson © 2022 Orion Releasing LLC. All Rights Reserved.

Sie bedankte sich also bei der Oscar-Akademie dafür, dass sie nicht tödlich beleidigt davon gewesen sei, dass die Worte „Frauen“ und „sprechen“ so dicht beieinander stünden. Das sitzt. Insbesondere wenn wir uns anschauen, dass in den prominentesten Kategorien Bester Film und Beste Regie nahezu ausschließlich heterosexuelle cis-Männer nominiert waren. Die Aussprache war als Bester Film nominiert; gewonnen hat in beiden Kategorien die durchaus etwas queere Science-FictionActionDramedy Everything Everywhere All At Once des Regie-Duos The Daniels (Daniel Kwan, Daniel Scheinert). 

Stephanie Hsu als queere Joy Wang/Jobu Tupaki in Everything Everywhere All at Once von The Daniels // Foto: © Leonine

Nominiert war der Film in elf Kategorien — von denen es in sieben die gülden-anmutende Statue gab. So auch für die Beste Nebendarstellerin Jamie Lee Curtis, die natürlich auch ihrer Tochter Ruby dankte, die sich 2020 als trans* outete, und den Besten Nebendarsteller Ke Huy Quan, der tief gerührt rief: „Mom — I just won an Oscar!“ Der Oscar sei Jamie Lee Curtis mehr als gegönnt (verdient ist er allemal), natürlich hätten wir uns aber auch gefreut, hätte ihre EEAAO-Schauspielkollegin Stephanie Hsu die Trophäe mit nach Hause nehmen dürfen.

Geschichte in der Mache

Die queere Stephanie Hsu spielt im faszinierend wirren Familienfilm die ebenfalls queere Tochter von Michelle Yeohs Hauptfigur Evelyn Quan Wang. Yeoh wurde vollkommen zurecht mit dem Oscar als Beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Ihre Leistung in diesem Film ist famos und überhaupt hat sie über bald vier Dekaden durch hervorragende und nuancierte Leistungen geglänzt. Wenn ich mich nicht irre, ist die 60-jährige Yeoh die erste Asiatin und überhaupt erst die zweite nicht-weiße Frau, die diesen Oscar gewann.

So widmete sie ihren Oscar auch all den „ganzen kleinen Mädchen und Jungs, die aussehen wie ich“ und wandte sich noch an die Frauen: Sie sollen sich niemals sagen lassen, dass sie ihre besten Jahre bereits hinter sich hätten. Ihre einnehmende Rede in einer feinen Robe von Dior Haute Couture, die perfekt zum Academy Award passte, beendete sie mit den Worten: „This is history in the making.“

Ebenfalls nominiert war u. a. Cate Blanchett für ihre Rolle der fiktiven lesbischen Dirigentin Lydia Tár in Todd Fields Tár, der trotz sechs Nominierungen leer ausging; ebenso Ruben Östlunds Triangle of Sadness, der in drei Kategorien nominiert war und zu unseren Favoriten dieser Oscar-Saison gehörte (eine Besprechung zu beiden Filmen folgt). 

Leere auf Inisherin und keine Zugabe für Elvis

Apropos leer ausgehen: Die gerade nach solidem Erfolg bei den Golden Globes als Oscar-Favorit ins Rennen gegangene schwarzhumorige Tragödie The Banshees of Inisherin konnte keinen Oscar ergattern. Da half es auch nicht, dass Jimmy Kimmel Eselin Jenny auf die Bühne holte (können wir bitte eine Kategorie: Beste Darstellung/Tier bekommen? Danke!)

Und auch Baz Luhrmanns neuester Streich, das eindrückliche Music-Biopic Elvis konnte in keiner der acht nominierten Kategorien einen Gewinn verzeichnen. Was durchaus schade und nach meiner Meinung auch nicht angemessen ist. Statt Austin Butler für die Beste Hauptrolle auszuzeichnen ging dieser Preis an Brendan Fraser für seine Rolle des krankhaft fettleibigen, schwulen Charlie in Darren Aronofskys The Whale

So ging etwa auch der Oscar für den Besten Schnitt an EEAAO, was fein ist, aber auch hier glänzte Elvis. Ähnlich in der Kategorie Bestes Produktionsdesign — hier heimste Edward Bergers in den USA gefeierte Neuverfilmung von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues die begehrte Trophäe ein. Dass hier nicht Elvis geehrt wurde, ist ein großes Versäumnis. 

Der deutsche Westen gewinnt

Der für uns enttäuschende Im Westen nichts Neues, der auch kaum mehr etwas mit der Romanvorlage zu tun hat, konnte außerdem den Oscar für die Beste Bildgestaltung (James Friend, in der Tat tolle Bilder, auch wenn alles nach Fantasyfilm aussieht) und die Beste Filmmusik (Volker Bertelmann aka Hauschka; in der Tat der stärkste nominierte Score und das Beste am Film) sowie den Besten Internationalen Film gewinnen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die ebenfalls in LA weilte, dürfte begeistert sein (allerdings entstand der Netflix-Film als deutsch-amerikanisch-britische Koproduktion ohne deutsche Filmförderung, was auch etwas aussagt).

Wir mochten ihn wie gesagt nicht und wenn das amerikanische Publikum ihn so schätzt, da es die erste Verfilmung des Stoffes aus Deutschland, von einem deutschen Team und in deutscher Sprache ist und dem Film daher eine besonders große Authentizität zuschreibt, wird mir und uns hier gleich nochmals ganz anders. Nicht nur erfindet der Film Handlungsstränge hinzu, die es im Buch nicht gibt (und lässt andere wesentliche aus), sondern erfindet auch Historie neu. 

Keine Chance für CLOSE

Portrait von Close-Regisseur Lukas Dhont // Foto: Mayli Sterkendries © Pandora Film

Immerhin wurde er nicht auch noch als Bester Film ausgezeichnet. Durch diese Nominierung galt es übrigens als klar, dass er den Oscar als Bester Internationaler Film einheimsen würde. Bisher war es nämlich immer so, dass die Filme, die in beiden Kategorien nominiert waren, den vormaligen Auslandsoscar gewannen. Dennoch ist es enttäuschend. Hätten wir doch dem belgischen Film Close des schwulen Regisseurs Lukas Dhont die Trophäe gewünscht.

In dem Film geht es um Léo und Rémi, beide 13 Jahre alt und beste Freunde. Sie sind unzertrennlich, vertrauen einander und teilen alles miteinander. Mit dem Ende des Sommers und dem Wechsel auf eine neue Schule gerät ihre innige Verbundenheit plötzlich ins Wanken, als Mitschüler*innen in den beiden ein Paar oder Freunde mit Extras sehen — dies bleibt natürlich nicht folgenlos. Die von uns geschätzte Sängerin Cassy Carrington kommentierte hierzu unter einen Facebook-Post der Berliner Drag Queen Nina Queer, die sich ebenfalls enttäuscht über den Nicht-Gewinn zeigte:

„Ich bin auch enttäuscht und traurig. CLOSE ist der Film, der mich in den letzten Jahren am meisten bewegt hat. Dieser Film erzählt in so sensiblen Bildern eine zwischenmenschliche und zerbrechliche Geschichte. Die Emotionen in dem Film springen den Zuschauenden quasi an. 💔“

Gut geschnitzte Gefühle und Dissidenten

Sehr happy sind wir über die Auszeichung für Guillermo del Toros Pinocchio, der sich der von Disney weichgespülten Geschichte Carlo Collodis nicht nur auf neuer und düsterer, sondern ebenso emotional eindringlicherer und dadurch nachhallender Weise nähert. Abgesehen davon kann auch die LGBTQ*-Community in der Geschichte ums Anderssein, Dazugehören-Wollen und Suchen nach dem richtigen Existieren viele bekannte Themen finden. Charmant wäre allerdings auch ein Preis für Marcel the Shell with Shoes on gewesen. Doch macht Pinocchio uns durchaus happy.

Zur Besten Dokumentation wurde der so eindrückliche wie erschreckende Film Nawalny über Russlands wohl bekanntesten Dissidenten Alexei Nawalny von Daniel Roher gewählt, die sich vor allem mit dem auf ihn verübten Giftanschlag und dessen Nachspiel befasst. Mit Regisseur Roher auf die Bühne kam auch die Ehefrau Nawalnys, Julia Nawalny, die in Richtung ihres Mannes sagte: „Bleib stark, meine Liebe!“

Von Wakanda auf den Teppich

Ebenso erfreut der Oscar für das Beste Kostümdesign: Dieser ging an Ruth Carter für ihre Outfits in Black Panther: Wakanda Forever. Bereits 2018 wurde sie für ihre Kostüme des ersten Teils ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede widmete sie die Trophäe ihrer Mutter, die erst kürzlich im Alter von 101 Jahren gestorben sei. Und sie bat den 2020 verstorbenen Chadwick Boseman, der den Black Panther verkörperte, „Chadwick, bitte pass auf meine Mama auf“.

Gäbe es Preise für die Besten Looks auf dem Roten Teppich (der dieses Mal champagnerfarben gewesen sein soll, aber eher einem gräulichen Sandton glich und nichts für die Veranstaltung und Darsteller*innen und deren Looks tat), hätte hier natürlich auch so manch eine Trophäe vergeben werden können.

Michelle Yeohs Dior Haute Couture Dress haben wir erwähnt. Die immer (!) stilsichere Cate Blanchett überraschte in einem Satin-Look von Louis Vuitton und Giuseppe Zanotti mit starkem Colourblocking. Ein Dress, der sich nahtlos in die Reihe elegant-zeitloser Looks einfügt, die wir auch in Dijanna Mulhearns im Prestel Verlag erschienen Text-Bildband Oscars – Glamour auf dem roten Teppich. Eine Fashiongeschichte der Academy Awards sehen können, für den Blanchett eine Einleitung schrieb. 

Bestechende Looks — auch fürs Museum 

Lady Gaga (von der es zuerst hieß, sie würde aus Zeitgründen nicht kommen können) faszinierte in einer am Rücken tief ausgeschnittenen Korsett-Robe von Atelier Versace, versehen mit Schmuck von Tiffany & Co. Halle Bailey, die neue Arielle, wirkte wie eine Chiffon-Prinzessin in Dolce & Gabbana und Rihanna präsentierte stolz ihren Babybauch in einer aufwendigen, an Kriegerinnen erinnernden Robe von Alaïa. 

Tems in Lever Couture, Jessica Chastain (die im Saal Maske trug) in maßgeschneidertem Gucci, Danai Gurira in Jason Wu, Andrea Riseborough in Alexander McQueen, Jamie Lee Curtis in Dolce & Gabbana, Angela Bassett in Moschino und Schmuck von Bulgari, Janelle Monáe in Vera Wang und Reza oder Michelle Williams Chanel Haute Couture und Schmuck Tiffany & Co. stachen besonders ins Auge. Nicole Kidman trug ein maßgeschneidertes Armani Privé-Kleid mit Blütenbesatz und freiem Bein, das definitiv in ein Museum gehört genau wie Kate Hudson Metallic-Look von Rodarte und Rahaminov Diamonds.

Mehr Substanz im kommenden Jahr bitte

Viel weiß und schwarz fiel auf, auch bei den Herren, die wieder eher sehr klassisch, wenn auch gern mit Twist auftraten. So etwa Austin Butler (in Saint Laurent), Pedro Pascal in Zegna oder Paul Mescal (in Gucci, nominiert für seine eher nicht heterosexuelle Rolle in Aftersun). Idris Elba glänzte in blauem Gucci-Sakko, Dwayne Johnson in einem roséfarbenen Satin-Smoking-Jacket und Samuel L. Jackson zeigte in Armani Privé, wie ein Champagner-Ton auszusehen hat.

Gespannt sind wir, ob die Diversität und Weltoffenheit, die sich die Academy of Motion Picture Arts and Sciences gern auf die Fahnen schreibt, im kommenden Jahr noch ein wenig manifester werden lässt. Dass etwa weder Viola Davis für ihre Leistung in Gina Prince-Bythewoods The Woman King noch Danielle Deadwyler als Mamie Till in Chinonye Chukwus Till als Beste Hauptdarstellerinnen nominiert waren, ist arg irritierend (oder die Regie oder die Filme…).Ebenso ist es vollkommen unnötig, gleich zehn Filme als Besten Film zu nominieren, von denen bei der Hälfte mehr als klar war, dass sie keine Chancen hätten. Hauptsache eine rühmende Erwähnung und dann doch die Frauen übersehen? Da ist solide Luft nach oben und wir sind gespannt, wie groß der Einfluss der seit 2022 neuen Präsidentin der AMPAS, Janet Yang, in den kommenden Jahren sein wird.

AS

PS: Ebenfalls keinen Preis erhielt Steven Spielbergs Eigen-Biopic The Fabelmans, über das wir viel Gutes hörten, das Kino jedoch selber nach einer Dreiviertelstunde verließen. Der Film gehörte mit zu dem Schlechtesten, was wir in dieser Oscar-Saison gesehen haben. Und wie bei Büchern gilt: Nach einem Drittel sollte irgendwas passiert sein, das mensch an die Geschichte bindet und irgendwie gefällt. Das war hier nicht der Fall. 

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