Deutschland spricht nur im Flüsterton

Der Schwarze Historiker, Soziologe und Schriftsteller W. E. B. Du Bois bereiste 1936 Nazi-Deutschland, lieferte darüber zeitgeschichtliche Momentaufnahmen und beschrieb am Beispiel der Judenverfolgung die verhängnisvolle Macht von Verschwörungstheorien.

Von Nora Eckert

Wer war William Edward Burghardt Du Bois? Geboren wurde er 1868 in Massachusetts/USA. Seine beiden Großväter waren ein Sklavenhalter und Farmer aus Frankreich und ein aus Afrika nach Nordamerika verschleppter Sklave. Du Bois wurde zum bedeutendsten afroamerikanischen Intellektuellen seiner Zeit; er wurde 95 Jahre alt. Als politischer Aktivist war er zugleich Ideengeber für die Bürgerrechtsbewegung. Er promovierte als erster Schwarzer an der Harvard University und veröffentlichte bedeutende historische Arbeiten. Während seines Studiums kam er auch für drei Semester nach Berlin und hörte Vorlesungen unter anderem bei Max Weber. Als er einmal nach der Ehre gefragt wurde, in Harvard promoviert zu haben, antwortete er selbstbewusst: „Eine Ehre, das versichere ich ihnen, war das für Harvard.“ Du Bois stand politisch links und wurde während der berüchtigten McCarthy-Ära in den 1950er Jahren verfolgt, verhaftet und freigesprochen. Aus Protest legte er daraufhin seine US-Staatsbürgerschaft ab, wanderte nach Ghana aus, wo er in Accra genau einen Tag vor Martin Luther Kings epochaler Rede „I Have a Dream“ von 1963 verstarb.

Wie bei allen älteren Publikationen, gleich ob wissenschaftlich, journalistisch oder literarisch, in denen es um Fragen von Hautfarbe und „race“ geht, sind begriffsgeschichtliche Vorbemerkungen unumgänglich, denn auch bei Schwarzen Autor*innen kommt das N-Wort ebenso zuverlässig vor wie das ganze Arsenal an sprachlicher Diskriminierung. Nicht dass sie kein Bewusstsein für Rassismus gehabt hätten, im Gegenteil, dieser beherrschte schließlich ihren Lebensalltag und die Alltagssprache mit absoluter Macht. Und so beginnen Du Bois‘ Reiseberichte mit einer „Vorbemerkung zur historischen Begrifflichkeit“. Die Schwierigkeiten einer deutschen Ausgabe würden sogleich ins Zentrum von Du Bois‘ Themen führen, die immer auch entlang der „Farbenlinie“ verlaufen. Und so stellt sich die Frage, „wo verläuft sie, wie können wir sie begreifen – und kritisieren?“ Die Übersetzerin Johanna von Koppenfels und der Herausgeber Oliver Lubrich haben dafür einen gangbaren Weg gefunden.

Doch genug der Vorrede, denn was Du Bois 1936 regelmäßig als Reiseberichte an den „Pittsburgh Courier“ sandte und was jetzt in einer tadellosen Edition in der Reihe „textura“ des C.H. Beck Verlags vorliegt, ist in seinen Details faszinierend und spannend, denn da ist ein stets wacher Blick und ein kritischer Geist im Spiel, der aus den Kolumnen Zeitdokumente von Gewicht macht.

1936 fand die Olympiade in Berlin statt, die dem NS-Regime die Gelegenheit zu einer Machtdemonstration bot. Über die Spiele selbst berichtete Du Bois zwar nicht, wohl aber stellte er in Richtung USA einige unbequeme Fragen. Denn die Schwarzen, die von dort anreisten, erhielten eine unerwartete Sichtbarkeit, die Zuhause nichts an ihrer Ungleichbehandlung und Ausgrenzung änderte – zum Publikumsstar wurde so beispielsweise der Leichtathlet Jesse Owens mit vier Goldmedaillen. Ich hatte einmal Gelegenheit den Olympiafilm von Leni Riefenstahl zu sehen und weiß, wie frenetisch das vollbesetzte Olympiastadion Owens anfeuerte und zujubelte unter lauten USA-Rufen.

Bis zu diesem Sportereignis mochte der „Durchschnittsbürger“ davon ausgehen, so Du Bois‘ sehr spitze Bemerkung, „die Hauptbeschäftigung schwarzer Amerikaner bestehe darin, sich lynchen zu lassen“. Darum die Forderung: „Wir müssen repräsentiert sein, nicht nur im Sport, sondern auch in der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst.“

Die Reise nach Europa hatte neben Deutschland auch Zwischenstopps in England, Frankreich, Belgien und Österreich. Du Bois fällt immer wieder auf, wie anders er als Schwarzer in Europa behandelt wird im Vergleich zu den offen rassistischen USA. Selbst in Nazi-Deutschland kann er sich überall unbehelligt bewegen. Das mag zwar verblüffen, doch unter der Oberfläche sieht es anders aus. So kommt er nicht umhin festzustellen, dass Belgiens Reichtum der Reichtum des schwarzen Kongo ist, also das Ergebnis eines mörderischen Kolonialismus. Und dass der Rassismus, so offen oder verdeckt er auch immer auftritt, ein globales Problem darstellt, das nach einer ökonomischen Antwort verlangt. Gleichberechtigung hängt nun mal mit der wirtschaftlichen Lage des Menschen zusammen. So hängt das eine vom anderen ab:

„Wenn wir allerdings nachverfolgen, auf welchen Wegen dieser Reichtum [gemeint ist der der Weißen, N.E.] angesammelt und sein legaler Besitz gesichert wurde, dann stoßen wir direkt auf Mord und Betrug in den Kolonien, auf Hungerlöhne in der Industrie, auf Machenschaften beim Umgang mit Investitionen.“

In Hitler-Deutschland erlebt er eine überwältigende Mehrheit, die insgesamt zufrieden und auch wohlhabend sei, denn die Versorgung sei gut, hochwertig und billig. „Und dennoch, in direktem paradoxen Widerspruch zu alledem, ist Deutschland schweigsam, nervös und bedrückt, es spricht nur im Flüsterton. Es gibt keine öffentliche Meinung, keine Opposition, keine Diskussion irgendwelcher Art.“ Erst in den letzten Berichten, die an den „Pittsburgh Courier“ gehen, verliert Du Bois alle Zurückhaltung. Das ist eine Selbstschutzmaßnahme, denn die Berichte werden erst veröffentlicht, wenn er Deutschland bereits verlassen hat und er keine Repressionen mehr zu fürchten hat.

„[…] entschieden wird eine Kampagne des Rassenvorurteils gegen alle nichtnordischen Rassen geführt, vor allem aber gegen die Juden. Sie übertrifft an rachsüchtiger Grausamkeit und öffentlicher Herabwürdigung alles, was ich jemals erlebt habe, und ich habe vieles erlebt.“ Anzumerken bliebe hier, dass das NS-Regime 1936 mit Blick auf die Judenverfolgung sich noch sehr zurückhielt im Vergleich zu dem, was an systematischer Vernichtung schon bald folgen sollte.

Die Not der deutschen Juden nennt er eine unvergleichbare Tragödie: „Es handelt sich hier um einen Angriff auf die Zivilisation, vergleichbar lediglich mit den Schrecken der spanischen Inquisition und des afrikanischen Sklavenhandels.“ Es sei ein „Weltkrieg gegen die Juden“. Du Bois sucht nach Gründen für dieses ihm im Grunde unerklärliche Verhalten und glaubt sie in den Schrecken der jüngeren deutschen Geschichte zu erkennen – als Stichworte liefert er Krieg, Versailler Vertrag, Inflation, wirtschaftlicher Zusammenbruch und Revolution. 

Und genau in dieser mentalen Gemengelage tauchte Hitler auf. „Adolf Hitler kam an die Macht, weil er die Welt beschuldigte, sich verschworen zu haben.“ Die Deutschen beugten sich einem Mann, „der anfangs ein Witz war, dann zu einer Plage wurde und plötzlich als Diktator heraufzog“. Möglich wurde dies auch durch die gewaltige Propagandamaschine, die in Gang gesetzt wurde und eine Erfindung des Ersten Weltkrieges war: „Die systematische Verzerrung der Wahrheit zu dem Zweck, große Mengen von Menschen alles glauben zu machen, was die Regierung sie glauben machen will. […] Nirgends wird sie mit so atemberaubender Wirkung eingesetzt wie heutzutage in Deutschland.“

Du Bois hat noch über viele andere Dinge berichtet, etwa über seine Kunsterlebnisse, über seinen Besuch in Richard Wagners Bayreuth. Er kommt ins Schwärmen, wo er über all die Wagner-Opern erzählt, die er in musikalisch und sängerisch mustergültigen Aufführungen erlebt. Tief beeindruckt ist er auch von einer anderen deutschen Besonderheit, nämlich der Berufsausbildung mit einem perfekten Berufsschulsystem. Er besucht Siemensstadt in Berlin, wobei Du Bois keineswegs verborgen bleibt, dass all die gut ausgebildeten, gut funktionierenden Menschen für die Industrie verfügbares „Menschenmaterial“ seien, um „ein Endprodukt hervorzubringen, das in seiner effizienten, präzisen und regelmäßigen Arbeit weltweit unübertroffen ist“. Auch darin mag – wie im Politischen – ein Aspekt der Manipulierbarkeit stecken.

Irritierend fand ich lediglich, dass er die militärische Aufrüstung in Deutschland nicht als konkrete Kriegsgefahr erkannte, sondern diese „neue Armee“ als ein Instrument begreift für einen neuen deutschen Kolonialismus. Dass dieser Krieg in Europa stattfinden würde, zog Du Bois wohl nicht ins Kalkül. Nicht unerwähnt sei am Schluss, dass in Berlin gleich zwei Gedenktafeln an ihn erinnern – eine an der Humboldt-Universität und eine andere am Haus Oranienstraße 130 in Kreuzberg, wo er als Student wohnte.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

W. E. B. Du Bois: ‚Along the color line‘ Eine Reise durch Deutschland 1936; September 2022; Herausgegeben von Oliver Lubrich und aus dem Englischen übersetzt von Johanna von Koppenfels; Hardcover, 168 Seiten, 5 Abbildungen. ISBN: 978-3-406-79154-3; C.H. Beck Verlag; 20,00 €

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