„Es gibt eine bestimmte Art, wie sich Fremde durch fremde Orte bewegen. Immigranten, Juden, Homosexuelle – um zu überleben, haben sie gelernt, scharf zu beobachten, zuzuhören statt zu reden, stets auf der Hut vor Bedrohungen zu sein. Sie tragen Geschichte auf ihren Schultern und begnügen sich mit weniger für eine aussichtsvolle Zukunft. Das ist die DNA und der Ethos von Minjan – und zugleich die Art, wie ich mich selbst durch mein Leben bewegt habe.“
„Ohne sie hätten wir niemals unseren Minjan.“
So äußert sich Eric Steel im Director’s Statement über seinen Film Minjan (im Verleih von Salzgeber), der dem 17-jährigen, stillen, büchervernarrten, aus einer russischen Einwandererfamilie stammenden, im jüdisch geprägten Brighton Beach, Brooklyn lebenden David (Samuel H. Levine) in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre dabei folgt, wie er genau dies versucht: sein Leben als Immigrant, Jude und Schwuler auszutarieren. All dies im Schatten der immer verheerender wirkenden HIV/Aids-Krise.
Allein ist David, der seine Sexualität im Laufe des Films nach und nach in grobkörnigen, Intimität vermittelnden Bildern, erkundet, dabei nicht. Sein Großvater Josef (Ron Rifkin), ein frommer Jude und kürzlich verwitwet, sucht nach einem kleineren Apartment. In einem sozial geförderten Wohnhaus wird er theoretisch fündig, doch nur, weil David dem Wunsch des für die Vergabe zuständigen Rabbi Zalman (Richard Topol) nachkommt mit seinem Großvater zum Minjan zu erscheinen, um das nötige Quorum der Betgemeinde von zehn Personen zu erreichen.
Drei Männer und ein Suchender
David, der von seinem Vater regelmäßig geschlagen wird und von seiner Mamme überfordert ist, zieht bei seinem Großvater ein. Ihre Nachbarn sind zufällig zwei schwule Männer, Itzik (Mark Margolis) und Herschel (Christopher McCann), die seit dem Tod ihrer Frauen zusammenleben und im Haus einfach als Freunde oder Mitbewohner gelten. Schnell bekommt David mit, dass sie eben mehr sind als das.
Während David, der eine Toraschule besucht, da seine Mutter befürchtete an einer öffentlichen Schule würde er für sein Jüdischsein verprügelt werden, im East Village die schwule Welt und seine Bedürfnisse kennenlernt, lernt er nach und nach auch Itzik, der ein russisches Arbeitslager überlebt hat, und den Intellektuellen Herschel besser kennen, die ihm neben seinem aufmerksamen Großvater nicht selten eine Stütze sind, während auch er den drei älteren Männern unter die Arme greift.
Deine Geschichte, nicht meine und viel Wodka
Der Film, den Regisseur Steel gemeinsam mit Daniel Pearle geschrieben hat, basiert auf der Kurzgeschichte des lettisch-kanadischen Schriftstellers David Bezmozgis, über die Steel sagt, sie zu lesen, fühlte sich an wie eine Erinnerung der Sinne. Lange versuchte er Bezmozgis und dessen Agentur davon zu überzeugen, die Geschichte, in welcher der Protagonist nicht schwul ist, verfilmen zu dürfen.
Als es ihm schließlich gelang, habe der Autor eine Bedingung gestellt: „Ich sollte den Film zu meiner eigenen Geschichte machen, nicht zu seiner. Das war der beste Segen beziehungsweise die beste Herausforderung, die mir jemals jemand gegeben hat.“ In der Tat, dürfte dies für viele Filmschaffende eher Traum als Albtraum sein, wenn eben auch ein herausfordernder.
Ein zentrales Motiv in Minjan ist dabei das Finden der Zugehörigkeit (wobei der Film die Frage, ob eine eindeutige Verortung der eigenen Person unbedingt notwendig sein muss, leider ausspart): David fühlt sich, als kaum jiddisch oder hebräisch sprechender russischer Jude, ein Stück weit von dieser Welt, in der er lebt, ausgeschlossen. Auch die Toraschule und das fromme beziehungsweise orthodoxe Judentum scheinen ihm fremd. Gerade als Homosexuellem. Doch jüdisch und gläubig ist er. Kann oder darf er so überhaupt schwul sein? Dazu noch als Russe? Immerhin ist er, der fremd im eigenen Leben ist, wodkafest.
Intellekt ist sexy
Es wundert kaum, dass der 1964 geborene Steel angibt, unabhängig davon auch Teile seiner eigenen Geschichte zu erzählen, die insbesondere in Bezug auf die Momente, in denen hier Aids thematisiert wird, zum Tragen kommt, von einem Zitat James Baldwins inspiriert worden zu sein: „Geh dahin zurück, wo Du hergekommen bist, oder so weit zurück, wie Du kannst, begutachte alles, trete Deine Reise erneut an und sei ehrlich dabei. Singe und rufe es hinaus, verkünde es oder behalte es für Dich selbst; aber wisse, woher Du gekommen bist.“
An der öffentlichen Schule (an der ihm sein Lehrer (Chinaza Uche) eine Anmeldung fürs College gibt) lesen sie gerade James Baldwin; in der Bar „Nowhere“ (hey, Gregg Araki!) liest der Barkeeper Bruno (Alex Hurt) bedächtig Giovannis Zimmer, in dem es immerhin um das tragische Ende einer aus Angst uneingestandenen Sexualität und Liebe geht – ein Ausblick? Wer weiß. Allerdings ist Minjan kein tragischer Film im klassischen Sinne, wenn auch ein intellektuell getragener. Es ist ein Wort-und-Blick-Film.
Einer, der sich in Andeutungen ergeht, einer der Szeneriesprünge betreibt und uns Lücken ausfüllen lässt. Was mitnichten heißt, dass er unvollständig wäre. Oder nicht auch körperlich und sexuell aufgeladen. Die Sexszenen zwischen David und Bruno sind unglaublich gut gemacht, sehr anziehend und schlicht heiß, ohne dabei den Boden des Realistischen zu verlassen, worin wohl wiederum der Grund der Anziehung liegen mag. „Lust und Begehren sind Dinge, die man als junger Mensch sehr stark empfindet“, sagt Steel dazu.
Die, die wir verloren haben
Über den lesenden Barkeeper Bruno findet dann auch das Thema HIV/Aids direkten Einzug in die Geschichte Minjans und das Leben Davids. Er erklärt ihm die Auswirkungen des Virus; in einer Schlüsselszene fragt David nach Kerben im Türrahmen Brunos, ob diese etwa für Eroberungen stünden und der erwidert geschockt und etwas angewidert, dass das die Zahl der Freunde sei, die bereits gestorben wären. Wie erwähnt finden sich auch hier Steels eigene Erfahrungen, erwähnt er doch, dass „im Jahre 1988 alle aus meinem ursprünglichen Freundeskreis tot [waren] – außer mir.“
Probier dich also mal aus, während dein Umfeld wegstirbt. „Es wäre naiv und falsch gewesen, zu behaupten, dass der einzige Sex, den schwule Männer nach der Entdeckung des Virus hatten, geschützter Sex war“, kommentiert Steel, dass es auch im Film ungeschützten Sex gibt.
Auf einer weiteren Ebene werden darüber hinaus immer wieder Holocaust und die Aids-Krise in Beziehung zueinander gesetzt. Dies glücklicherweise nicht in Form einer Gleichsetzung, was bei aller Offenheit infam wäre, sondern im Kontext einer offenbar gruppenbezogenen Gefahr, des Nicht-Wissens, wer stirbt und wer lebt und der Unerklärlichkeit des Überlebens und zuweilen der Hilflosigkeit jener, die überlebt haben. Das ist durchaus interessant und findet wie erwähnt eher unterschwellig statt, was sicherlich nicht verkehrt ist.
Eine lohnenswerte Herausforderung
Minjan ist also eine sehr komplexe, durchaus fordernde Nummer, doch werden die geneigten Zuschauer*innen gleich auf mehreren Ebenen belohnt. Der Film ist bei aller (unterschwelligen) Intellektualität nicht prätentiös, dafür geprägt von feinsinnigem und stillem Humor. Er ist von Ole Bratt Birkeland wunderbar gefilmt. Er zeigt authentisch jüdisches Leben, wie es selten der Fall ist, vor allem in Verknüpfung mit schwulem Leben. Die Musik von Klezmer-Künstler David Krakauer und Kathleen Tagg trägt die Erzählung mit und in sich noch eine weitere. Dass Minjan an mancher Stelle sexy ist, erwähnte ich.
Dazu kommt die Entdeckung von Samuel H. Levine, der es als David problemlos schafft, neben Schauspielgrößen wie Ron Rifkin (mit dem er eine ausgezeichnete Chemie hat) oder Mark Margolis zu bestehen. Levine, den Steel zuerst in einem Theaterstück sah, in dem er zwei Rollen spielte, beherrscht es, binnen des Bruchteils einer Sekunde nur durch kleine Mimikveränderungen eine große Veränderung in seinem Inneren deutlich zu machen. Auch ist es ein großer Gewinn, dass Levine zwar attraktiv aber eben nicht der klassische Ryan-Murphy-Beau ist (nicht, dass es gegen die grundsätzlich etwas zu sagen gäbe…).
Dein Dazugehören gehört nur dir
Was bedeutet es also, dazuzugehören? Das ist wohl eine Frage, die jeder Mensch nur für sich beantworten kann, ist Zugehörigkeit doch wohl für jedes Individuum anders definiert. Sind unsere Bedürfnisse im Allgemeinen zwar oft ähnlich, so im Detail doch sehr verschieden. Am zum Ton des Films passenden stillen Ende des erstaunlichen und überdurchschnittlichen Minjan wissen wir immerhin, dass David seine Definition finden wird.
AS
Der rbb zeigt Minjan im Rahmen von rbb QUEER am Samstag, 13. August 2022 um 23:30 Uhr.
Minjan; USA 2020; Regie: Eric Steel; Buch: Eric Steel, Daniel Pearle; Kamera: Ole Bratt Birkeland; Musik: David Krakauer, Kathleen Tagg; Darsteller*innen: Samuel H. Levine, Ron Rifkin, Christopher McCann, Mark Margolis, Richard Topol, Brooke Bloom, Alex Hurt, Zane Pais, Chinaza Uche; Laufzeit ca. 118 Minuten; englische Originalfassung (mit jiddischen, hebräischen und russischen Teilen) mit deutschen Untertiteln; FSK 16; im Verleih von Salzgeber; erhältlich als VoD und auf DVD
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