Klasse, Klassismus, Klassenbeste

Marlen Hobrack erklärt uns, wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet, findet dafür klare Worte, und erweist sich als nicht ganz immun gegen Sozialromantik, denn Herkunft ist nicht alles, auch wenn sie uns angeblich wie Scheiße am Schuh klebt.

Von Nora Eckert

Beginnen wir so persönlich wie es auch die Autorin in ihrem Buch tut: Marlen Hobrack ist Arbeiterkind aus dem Osten und heute Akademikerin (wie übrigens auch ihre beiden Geschwister). Ich bin ebenfalls Arbeiterkind, aber aus dem Westen, keine Akademikerin und schreibe dennoch wie sie Bücher und bin wie sie journalistisch unterwegs. Womit schon mal klar ist, Arbeiterkind zu sein, sagt überhaupt nichts über das, was wir später einmal sind. Anders als sie, war ich immer stolz auf das Etikett Arbeiterkind – schon aus provokatorischen Gründen, wenn ich mal wieder unter lauter Akademiker*innen mit Professoren- oder mindestens Doktortiteln ganz titellos mitspielte und weiterhin mitspiele.

In „Klassenbeste“, das im vergamgenen Sommer bei Hanser Berlin erschienen ist, stellt uns Hobrack nach und nach ihre gesamte Familie inklusive Tanten und Onkels vor. Alle geben auf ihre Art Musterbeispiele für soziale und politische Verwerfungen. Eine Zentralgestalt ist dabei ihre Mutter, umrahmt von soziologischen Erörterungen über die soziale Lage einer Bevölkerungsgruppe, die einmal Arbeiterklasse hieß, mit deutlichem Ost-West-Gefälle und gewissen blinden Flecken in der wissenschaftlichen Wahrnehmung, die sie treffsicher aufspürt und zu Recht kritisiert. Was mich natürlich auch an meine Mutter denken ließ und ebenso an meinen Vater mit ganz anderen Erfahrungen auf meiner Seite. Was mich wiederum zu der Frage brachte: Gab es einen Unterschied zwischen West-Arbeiter und Ost-Arbeiter? Es sieht fast so aus, wobei wir damit bereits in der Falle sitzen, nämlich Einzelfälle zu generalisieren. Jede Statistik tut das zwar in gewisser Weise, aber in deren Zahlen stecken Tausende, Hunderttausende Einzelfälle, also der algorithmische Durchschnitt.

Lassen wir unsere so unterschiedlichen Mütter und Väter mal beiseite. Was mir sofort gefiel, das ist ihre Begabung, den Finger in die Wunde einer voreingenommenen Wissenschaft zu legen. Wenn sie beispielsweise fragt, wo denn die Frauen seien, wenn es um das Thema Arbeiterklasse geht. Seien die nur Ehefrauen? Auch sei nicht zu übersehen, dass Feministinnen mit der Figur der Arbeiterin „fremdeln“. Weder würden sie ihre Bedeutung kennen noch wirklich Wissen über Erwerbsarbeit und Reproduktion besitzen. Aber da war ein gewisser westlicher feministischer Blick schon immer sehr reduziert, sehr weiß, sehr bürgerlich und sehr ausschließend.

So gesehen, hat es durchaus seine Berechtigung, wenn Hobrack ihre durchweg werktätige (wie es in der DDR hieß, im Westen jedoch berufstätige) Mutter als Exempel in die Erörterungen einbezieht. Zum Beispiel fragt sie, warum ihre Mutter, die in ihrem Leben nichts anderes als Arbeit kannte, nicht gegen die ausbeuterischen Verhältnisse kämpfte. Ganz einfach: „Man wird nicht zum Subjekt der Revolution, während man schmutzige Windeln in einem Kochtopf auskocht, in einem Plattenwerk Buch über die sozialistische Produktion führt oder Schweine in Hälften teilt.“

Das ist herzerfrischend lebensnah und desavouiert gerne und mit einem unverkennbaren Unterhaltungswert ein politisches Bequemlichkeitsdenken, das vor lauter Theorie den Menschen aus dem Blick verliert. So würden sich Feminismus und Marxismus die Hand reichen, wenn es darum geht, die Sphären der Produktion und Reproduktion zu trennen mit klaren geschlechtlichen Zuordnungen. In der Figur der Arbeiterin zeige sich jedoch, „wie sich die Sphären gegenseitig determinieren und überdeterminieren“.

Interessant und wohl DDR-spezifisch, was sie über ihren Vater mitteilt und stellvertretend für die Männer, die „nirgendwo Macht oder Autorität: weder auf der Arbeit noch in ihrer Familie“ genossen. Dass sie sich nicht an der Care-Arbeit beteiligten, dürfe nicht als patriarchale Situation missverstanden werden: „Mein Vater war eine Art dunkle, zeternde, bisweilen gewalttätige Instanz, aber er war nach außen hin machtlos. Womöglich war seine Gewalt eine Reaktion auf die Destabilisierung seines ohnehin fragilen Selbstbildes.“ Wobei Hobrack ergänzt, nicht der Mann sei Hegemon, sondern das Männliche.

Sie kritisiert ebenso die Behauptung, Gewalt habe ihren Ursprung nicht in Klassen- und Schichtzugehörigkeit, denn: „Den Zusammenhang von Gewalt und Herkunft darzustellen ist kein Klassismus, sondern ein Argument für mehr soziale Gerechtigkeit, die gleiche Entwicklungschancen ermöglicht.“ Wie wahr. Klassistisch wäre es dagegen, den Zusammenhang als gleichsam natürliche Ordnung der Gesellschaft dazustellen.

Auch wenn es keine neue Erkenntnis darstellt, so trifft es dennoch den Kern des Populismus: „Rechte schreien bekanntermaßen gerne nach Law and Order, aber diese Härte des Gesetzes sollen nur die anderen spüren. Das spricht immerhin für ein großes Maß an kognitiver Dissonanz, die das eigene Fehlverhalten zu ignorieren hilft.“ Und was gewisse Linke angeht, wie beispielsweise Sahra Wagenknecht, so funktioniere deren Populismus auch nicht anders. Wenn diese behaupte, Identitätspolitik ignoriere die Anliegen der Durchschnittsmenschen, dann nehme sie billigend in Kauf, viele Menschen auszuschließen – nämlich die Frauen und Queers, die Schwarzen und Migrant*innen.

Kommen wir noch einmal zurück zu den Müttern. Meine kam wie mein Vater aus ärmlichen Verhältnissen und auch in Hobracks Familie ist das nicht anders. Meine Großmutter väterlicherseits zog sechs unehelich geborene Kinder groß und lebte in einer Barackensiedlung, erbaut für obdachlose Familien. Arbeiten, um existieren zu können, war einfach unumgänglich. Das lernten alle ihre Kinder. Auch im Westen gab es unter verheirateten Frauen Erwerbstätigkeit plus Haushalt und Kinder, aber statistisch gesehen wahrscheinlich weniger als in der DDR.

Meine Mutter war „nur“ Hausfrau und Mutter von drei Kindern. Mein Vater bestand darauf: Meine Frau muss nicht arbeiten. Die erste Waschmaschine kam erst spät, ein Fernseher war wichtiger. Wie Hobracks Mutter war Waschen auch für meine eine komplett manuelle Tätigkeit. Das hieß dann Waschtag, der schon am Abend zuvor mit dem Anheizen des großen Waschkessels für die Kochwäsche begann und sich über den ganzen nächsten Tag hinstreckte – und gebügelt wurde auch noch alles. An Pampers war noch nicht zu denken, also gehörte Windeln waschen dazu. Hobracks Mutter konnte mit Geld nicht umgehen und landete mit der Ankunft im Kapitalismus in der Schuldenfalle, meine hingegen konnte gut rechnen und war trotzdem großzügig. Ach so, in Urlaub sind wir auch nie gefahren.

Was ich damit sagen will: Herkunft ist nicht alles. Im Großen und Ganzen mag es zutreffen, wenn Hobrack erklärt, wir seien das Produkt unserer Herkunft und unserer Sozialisation, abgesehen davon, dass wir stets Kinder unserer Zeit sind. Aber erstens ist nicht alles kulturgeprägt und zweitens bleibt ein Beispiel eben doch nur ein Beispiel und trifft für das nächste schon nicht mehr zu. Der über Strecken allzu persönliche Ton versucht zwar immer wieder den Anschluss zu gesellschaftlichen und sozialen Tendenzen zu finden, doch Einzelfälle eignen sich schlecht zur Hochrechnung und machen eher anfällig für Sozialromantik. Dennoch, lesenswert ist Klassenbeste schon deshalb, weil die Autorin an vielen Stellen mit soziologischem Schubladen- und Bequemlichkeitsdenken aufräumt und gegen jeglichen Populismus, gleich ob von links oder rechts, den klaren Blick behält.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverband Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Marlen Hobrack: Klassenbeste; August 2022; 224 Seiten; Hardcover, gebunden mit Schutzumschlag; ISBN 978-3-446-27477-8; Hanser Berlin; 22,00 €

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