Versteckspiel

Am 22. Juni wurde Afghanistan hart von einem Erdbeben erschüttert, mehr als 1 000 Menschen fielen dem zum Opfer. Leider bedarf es nur zehn Monate nach dem desaströsen Abzug der westlichen Truppen eines solch dramatischen Ereignisses, damit wir einmal wieder an dieses geschundene Land denken. Denn auch Journalistinnen und Berichterstatter sind im Sommer 2021 aus dem Land geflohen – so es ihnen möglich war. Umso wichtiger ist es, dass wir uns immer wieder der mehr als schwierigen Lage in dem Land gewahr werden, es über Putins Krieg in der Ukraine nicht vergessen.

Afghanischer Brief

Zwar kein direkter Bericht, aber dennoch eine sehr eindrückliche und anregende Geschichte aus und über Afghanistan ist Catherine Halls Roman Rückblende, der im Frühjahr 2022 in der Übersetzung von Andrea Krug beim Verlag Krug & Schadenberg erschienen ist. Protagonistin ist die lesbische, britische Kriegsfotografin Jo Sinclair, die in ihrem Haus in Brighton ihre teils grausamen Erlebnisse in Kabul Revue passieren lässt.

Sie macht das in Form eines langen Briefs oder Berichts an ihre frühere Partnerin Suze. Wie und warum sich die beiden getrennt haben, erfahren wir später, aber erst einmal klagt Jo ihrer Ex ihre Erfahrungen. Als Fotografin war sie in vielen Kriegsgebieten, aber im Wesentlichen hören wir ihre Geschichte aus Afghanistan. Von der ersten Reise rund um den Beginn der westlichen Intervention vor mehr als 20 Jahren und von ihrer Rückkehr etwa zehn Jahre später.

Der Wert eines Frauenlebens

Es ist bedrückend, aber auch beeindruckend, was sie erlebte. Beim ersten Mal mit Faisal unterwegs, steht ihr dieser bei ihrer zweiten Reise nicht zur Verfügung. Er vermittelt ihr aber die junge Journalistin Rasihda als Begleiterin vor Ort. Mit ihr macht sich Jo auf, vor allem das Leid der Frauen in Afghanistan in ihren Bildern festzuhalten. Besonders in einem Frauenhaus erfährt Jo einiges über die – aus unserer Perspektive – Ungerechtigkeiten, die Frauen in Afghanistan traditionell erdulden müssen. Und das zu einer Zeit, als der Westen bereits seit einem Jahr Einfluss auf die afghanische Gesellschaft nehmen konnte.

Es geht für Jo aber um mehr. Die Unterdrückung von Frauen und Sexualitäten ist das eine, aber natürlich sieht sie viele andere Dinge. Hübsche und gepflegte Gärten einerseits, Expat-Partys und Coworking-Spaces, die sich auch in Kabul ausbreiten, aber leider auch Waffen und Gewalt, Selbstmordattentate, trostlose Friedhöfe und Armut. All diese Eindrücke verarbeitet sie in ihrem Bericht an Suze – und dabei auch gleich ihre zerbrochene Beziehung und das Trauma, in dem sie nun steckt – inklusive ungeplanter Schwangerschaft.

Kriegstagebuch 1914/1915

Daneben gibt es eine zweite Erzählung, die sich mit den kurzen Kapiteln von Jos Erinnerungen abwechselt. Elizabeth Willoughby ist die Mutter von Jos Tante Edith, die erst kürzlich verstorben ist und Jo ihre Wohnung in dem britischen Kurort vererbt hat. Teil des Vermächtnisses ist Elizabeths Tagebuch aus den Jahren 1914/1915, in dem sie ihre Eindrücke im PAVILION, einem für die Verletzten des Ersten Weltkriegs eingerichteten Krankenhaus in Brighton, festhielt.

Elizabeth war seit längerem mit Robert verlobt, der jedoch als Offizier an die Front geschickt wurde. Um dennoch ihren Beitrag zu leisten, meldete sich Elizabeth zum Dienst im PAVILION, wo vor allem die für die Briten kämpfenden Inder behandelt werden. Sie lernt den indischstämmigen Arzt Hari kennen, verliebt sich in ihn und entfernt sich immer mehr von Robert. Doch leider steht auch diese Liebe nicht unter einem guten Stern.

Ein Leben wie vor hundert Jahren

Auch dies ist die Geschichte einer unvollendeten Liebe, einer Beziehung in schwierigen Zeiten und einer Entfremdung – so wie auch bei Jo mit Suze einerseits und ihrem Leben als Kriegsreporterin andererseits. Elizabeth lebt klassisch im viktorianischen Zeitalter, als die Aufgabe einer Frau entweder war, sich zu Tode zu schuften oder einfach hübsch auszusehen – beides keine angenehmen Szenarien, wie wir heute empfinden würden.

Natürlich drängt sich die Parallelität auf: So, wie wir Elizabeth und ihre Position in der Gesellschaft vor einem Jahrhundert erleben, so werden uns und Jo auch die meisten Frauen im heutigen Afghanistan gezeigt. Während sich die Frauen im Westen viele Rechte erkämpften, sieht die Lage am Hindukusch noch aus wie vor hundert Jahren – vielleicht sogar noch düsterer.

Und dennoch sind die Geschichten von Jo und Elizabeth alles andere als düster: In beiden Erzählungen schafft es Hall, so einige hübsche Szenen mit kräftigen Farben – vor allem die Farben müssen an dieser Stelle hervorgehoben werden – vor unserem geistigen Auge zu zeichnen. Wir sehen die Protagonistinnen fast bildlich vor uns, fühlen mit ihnen und leiden mit ihnen. Die Grauen des Kriegs aber, wie auch die Unterdrückung von Frauen und sexuellen Minderheiten werden dabei an keiner Stelle beschönigt.

„Sie schlagen uns und sie ficken uns“

Catherine Hall hat also mit Rückblende einen wunderbar anschaulichen Roman geschrieben, der in keinem einfachen Setting spielt – Kriegsfotografie ist wohl einer der aufreibendsten Berufe überhaupt, die Pflege von Kriegsversehrten, wie Elizabeth sie praktiziert, ebenso. Und die Lage in Afghanistan ist, wie eingangs erwähnt, wohl ohnehin eine der prekärsten auf der ganzen Welt – und für Frauen gleich doppelt.

Dass Hall zwei Frauen, eine lesbische Hauptakteurin und eine an der Homosexualität ihres Begehrten scheiternde Neben-Hauptakteurin, in den Mittelpunkt ihres Romans stellt, diesen somit diese schwierigen Rollen zuweist, ist grandios. Dass wir auf diese Weise einmal mehr daran erinnert werden, wie Frauen vielerorts nicht nur im übertragenen Sinne mit Füßen getreten und mit Steinen beworfen werden, dass die Situation für sie in Afghanistan auch in Friedenszeiten fast untragbar ist, ist eine traurige, aber aufrüttelnde Erkenntnis, die nicht nur nach dem jüngsten Erdbeben in Afghanistan auch unsere Welt vielfach erbeben lassen sollte.

HMS

Catherine Hall: Rückblende; Aus dem Englischen von Andrea Krug; Dezember 2021; Hardcover mit Schutzumschlag; ISBN: 978-3-959-17020-8; Verlag Krug & Schadenberg; 22,00 €; auch als eBook

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