Fotografierter Zeitgeist

Beitragsbild, v. l. n. r.: Untitled, from the Dungeon Series, 1978-79; Debbie Harry, 1977; Coffee table, 1977-78 // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Eine Wiederentdeckung des Fotografen Jimmy DeSana in der Galerie Meyer Riegger korrespondiert, wie es der Zufall will, mit Fotos von Ruth Orkin in der Kreuzberger Galerie f3.

Von Nora Eckert

Fotos sind vieles, sie erzählen Geschichten, geben ebenso Rätsel auf oder schockieren, spiegeln gelebtes Leben wider, halten flüchtige Augenblicke fest, sind Beweismittel und täuschen ebenso Wirklichkeiten vor. Fotos sind auch bildgewordener Zeitgeist. Zwei aktuelle Ausstellungen bestätigen Letzteres so einleuchtend wie faszinierend. Die Fotos, die sie zeigen, sind am gleichen Ort entstanden, nämlich in New York, aber mit einem zeitlichen Abstand von 30 bis 40 Jahren. Sie wirken, als stammten sie, wenn nicht gerade von jeweils anderen Planeten, so auf jeden Fall aus unterschiedlichen Kulturepochen. Die Fotos entfalten ihren Sinn durch die Zeit, in der sie entstanden sind und die sie in ihrer Ästhetik festhalten und widerspiegeln. Ausgeschlossen ist ihre Austauschbarkeit, denn die in ihnen eingeschriebene Geschichtlichkeit macht sie füreinander gleichsam fremd. Sie sind im wortwörtlichen und auch doppelten Sinne Zeitgeistprodukte.

Ausstellungsansicht Meyer Riegger: Chocolate Syrup, 1979 und Curtains, 1981 // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Das Brooklyn Museum in New York zeigte im letzten Jahr eine dem Fotografen Jimmy DeSana (1949 bis 1990) gewidmete Retrospektive. Die New York Times titelte in ihrem ausführlichen Ausstellungsbericht „Jimmy DeSana, Downtown Pioneer and Provocateur, Goes Mainstream“. Anders als sein Zeitgenosse Robert Mapplethorpe gelang DeSana offenbar nicht der Sprung in die internationale Bekanntheit, aber für New York war er wie Mapplethorpe in der queeren Subkultur unterwegs und eine Persönlichkeit von Rang, eine der Schlüsselfiguren der späten 70er und 80er Jahre. Beide gehörten der gleichen Generation an, beide waren schwul und hatten eine Vorliebe für das SM-Milieu, das zahlreiche Spuren in ihren fotografischen Werken hinterlassen hat, und beide fielen schließlich AIDS zum Opfer – Mapplethorpe 1989 und DeSana ein Jahr später.

Enema, 1978-79 // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Jetzt also lässt sich auch in Berlin (und noch bis einschließlich 6. Januar) in der Galerie Meyer Riegger in der Schaperstraße 14 ein Querschnitt durch das fotografische Werk DeSanas besichtigen. Es lohnt sich. Es lohnt sich als Rückblick auf eine hedonistisch geprägte Zeit, die mit dem Auftreten des HI-Virus ein recht gewaltsames Ende fand. Es lohnt sich durch DeSanas eigenwillige Bildästhetik, in der nackte Körper dominieren, aber nicht um sie bloß als Akt zu zeigen, sondern um sie in Beziehung zu setzen mit einem häuslichen Ambiente. Was daraus entstand ist nicht selten etwas Surreales. Hinzu kommt, DeSana spielt förmlich mit den Körpern, verfremdet sie immer wieder und begreift Geschlecht (Gender) als etwas Performatives, das sich ständig neu erfindet. Dass er bei all dem ein ausgesprochenes Faible für den Surrealismus besaß und beispielsweise Man Ray als Vorbild nahm, gibt der Queerness noch zusätzlich einen Verfremdungseffekt als besonderen Kick.

Soap Suds, 1980 // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Das alles ist bereits in der frühen Publikation „101 Nudes“ von 1972 zu beobachten. DeSana fotografierte Freund*innen nackt in einem bürgerlichen Wohnambiente. Dort sitzen sie am Klavier, liegen ausgestreckt bäuchlings auf einem Sofa, befinden sich im Vorgarten, nehmen ungewohnte Positionen ein und werden wie die häuslichen Gegenstände selbst objekthaft. Die wohnliche Mittelstandsidylle, so die kritische Absicht dieser fotografischen Aktion, wird durch die regelrechte Invasion der nackten Körper in Frage gestellt, ihrer sinnstiftenden Ordnung beraubt.

Sofa, 1977 // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Wie bei Mapplethorpe begegnen uns auch bei DeSana zahlreiche Fotos mit SM-Szenen, und wo immer Sex ins Bild kommt, gesellt sich zuverlässig etwas Unerwartetes hinzu: Da sehen wir einen masturbierenden Mann und neben ihm einen Hund, der die Zähne bleckt. Auf einem anderen Bild sitzt ein Mann mit einer Ledermaske über dem Kopf einem Hund Auge in Auge gegenüber. Bizarr auch dieses Motiv: ein schlanker Frauenkörper liegt langgestreckt auf einem Sofa, an den Füßen und an den Händen trägt die Person High Heels und wirkt auf diese Weise wie ein menschlicher Vierbeiner.

Dog, 1977-78 // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Faszinierend in ihrer farblichen Opulenz sind auch die Porträts, darunter die in den 70ern stilprägende Sängerin Debbie Harry von der New-Wave-Band Blondie oder der Schriftsteller William Burroughs, der mit dem Roman Naked Lunch der Beat Generation zugerechnet wird. Nicht unerwähnt seien die fotografischen Arbeiten, die in Richtung Abstraktion weisen und Strukturen und Materialität zum Thema haben.

William Burroughs, 1981 // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Mit Ruth Orkin (1921 – 1985) geht die fotografische Zeitreise zurück in die 50er Jahre und in die bescheidenen Anfänge des Feminismus. Im Mittelpunkt steht die damalige Ikone der, wenn nicht emanzipierten, so doch mindestens selbstbewussten Frau jener Zeit: Lauren Bacall. Orkin ist in der Kreuzberger Waldemarstraße 17, wo die Galerie fhochdrei ihre Ausstellungsräume hat, nicht zum ersten Mal zu Gast – zuletzt war dort die Fotoserie „American Girl in Italy“ zu sehen. Das Thema Frau nimmt in Orkins fotografischen Arbeiten breiten Raum ein, und immer ist sie dabei auf der Suche nach einem selbstbewussten Ausdruck, auf der Suche nach Spuren der Emanzipation. Der Titel der aktuellen Ausstellung lautet deshalb wenig überraschend WOMEN und zeigt vorwiegend Unveröffentlichtes.

Lauren Bacall, St. Regis Hotel, New York, 1950 // © Orkin/Engel Film and Photo Archive; VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Als Fotojournalistin entwickelt sie ein ebenso starkes Interesse an der Straßenfotografie, an Alltagsszenen mit den daraus entstehenden zahllosen Schnappschüssen, die die Lebenswirklichkeit mitunter geradezu ikonisch einfangen. Neben den Stars, wie etwa der schon erwähnten Lauren Bacall oder Jane Russell, interessieren Orkin sehr oft die einfachen und berufstätigen Frauen, die Stewardessen, Kellnerinnen und Soldatinnen sind. Oder die in Schönheitssalons arbeiten und andere Frauen frisieren. Ein wunderbares Bild aus der Serie „Beauty Parlour“ ist jene Frau, die sich ihre Dauerwelle gerade erneuern lässt, mit einer Zigarette lässig im Mundwinkel und dabei die Zeitung lesend. Auf einem anderen Bild sitzen ältere Frauen um einen kleinen Kiosk herum, bereit zum Plausch oder ebenfalls in der Zeitung lesend, fürwahr eine Idylle, die gar nicht zur Großstadt passen will und doch darin ihren Platz findet.

Zwei Frauen unter der Trockenhaube, aus der Serie Beauty Parlour , New York, 1949 // © Orkin/Engel Film and Photo Archive; VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Die Reise zwischen den in Wilmersdorf und Kreuzberg gelegenen Galerien ist eine Zeitreise zu zwei signifikanten Stationen der Fotogeschichte des 20. Jahrhunderts und zugleich eine Zeitreise, die uns sensibilisiert für gesellschaftliche Veränderungen und den darin eingeschriebenen Wahrnehmungsverschiebungen. Und wie der Zufall es wollte, findet sie hier wie dort am gleichen Ort statt, nämlich in New York. Die Galeriebesuche bieten, so gesehen, auch die Gelegenheit zu Kulturstudien der besonderen Art.

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

Portrait with Dog, nd // © Jimmy DeSana Trust Courtesy of the Jimmy DeSana Trust; P·P·O·W, New York; and Meyer Riegger, Berlin/Karlsruhe/Kassel

Jimmy DeSana ist noch bis einschließlich 6. Januar 2024 bei Meyer Riegger in der Schaperstrasse 14, 10719 Berlin zu sehen (Dienstag – Samstag von 11:00 Uhr bis 18:00 Uhr).

Ruth Orkin – WOMEN ist bei f3 – freiraum für fotografie in der Waldemarstraße 17, 10179 Berlin, noch bis zum 18. Februar 2024 zu sehen, jeweils mittwochs bis sonntags von 11:00 Uhr bis 19:00 und kostet 5,00 € Eintritt.

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