Fotos, mehr Fotos, noch mehr Fotos

Beitragsbild, v. l. n. r.: Lee Miller: David E. Scherman, dressed for war, London, 1942 // © Lee Miller Archives, East Sussex, England.; Alfred Ehrhardt: Blick über das Treenetal auf die Landschaft Stapelholm, aus der Serie Schlei und Eider, 1930/40er Jahre, Silbergelatineabzug, 17,3 x 17,5 cm / 24,2 x 18,0 cm // © Alfred Ehrhardt Stiftung

Ein Gang durch Galerien und Museen mit lauter eindrucksvollen Spuren der Verwandlung unserer Wirklichkeit in Bilder. Ein paar Empfehlungen zu aktuellen Fotoausstellungen mit Arbeiten von Lee Miller, Laurenz Berges, Ralph Gibson, Alfred Ehrhardt und vielen anderen.

Von Nora Eckert

Fünf Kinderköpfe ragen aus dem Wasser, gespiegelt auf der gekräuselten Wasseroberfläche, umgeben von einem in Grüntönen getauchten Raum unter Ausschluss des Himmels. Im Hintergrund dichte Reihen von Laubbäumen, davor der See. Ja, der Anblick enthält mindestens so viel Magie wie Witz und der Titel „Nixies Children“ trifft es gut – ein absoluter Hingucker. Zu sehen ist die großformatige Fotografie der aus Finnland stammenden Künstlerin Aino Kannisto in der neuesten Gruppenausstellung der Stiftung Alfred Ehrhardt in der Auguststraße in Berlin-Mitte.

Aino Kannisto: Nixies Children, 2015 Chromoluxe Aluminium-Print, 76 x 100 cm // © Aino Kannisto, Courtesy Galerie m, Bochum

Daneben sind Arbeiten von Ellen Auerbach, Orri Jónsson, Anne Lass, Christa Mayer und natürlich des Genius Loci Alfred Ehrhardt zu sehen, ein Klassiker, der mich mit seinem breiten künstlerischen Spektrum immer wieder ins Staunen versetzt. Damit sind unterschiedliche Generationen mit ebenso unterschiedlichen Positionen vereint, die dennoch miteinander zu korrespondieren vermögen. In den anderthalb Galerieräumen der Stiftung hat die Kuratorin Marie Christine Jádi Arbeiten zum Thema Mensch und Landschaft in der Fotografie unter dem programmatischen Titel „Außen im Innen, Innen im Außen“ versammelt.

Orri Jónsson: Þórdís, Paris 1991, Silbergelatineabzug 2018, 22,5 x 15 cm // © Orri

Vielleicht ist das nur meinen persönlichen Präferenzen geschuldet, aber Ehrhardts Fotografien scheinen mir dieses Programm am deutlichsten zu erfüllen. Parallel zu den Porträts, die in der Ausstellung erstmals präsentiert werden, entstanden Landschaftsaufnahmen – sozusagen als die zwei Seiten einer Sache. Dabei interessierte Ehrhardt der Mensch in seiner Umgebung, als ließe sich in der Persönlichkeit eines Menschen gleichsam der landschaftliche Raum, den er bewohnt, wiederfinden und umgekehrt, und als ließe sich ihr inniges Verhältnis im Foto sichtbar machen, gleichsam materialisieren. Was daran erinnert, dass sich nicht nur Menschen, sondern eben auch Landschaften porträtieren lassen, die überhaupt erst durch den menschlichen Blick als solche entstehen und im wahrsten Sinne Charakter gewinnen.

Wer die Adresse in Mitte bis jetzt noch nicht kannte, dem sei sie dringend empfohlen. Ein Besuch dieser kleinen, feinen Galerie in der Auguststraße lohnt sich mit seinen stets vorzüglich kuratierten Ausstellungen samt anregendem Beiprogramm eigentlich immer – ästhetische Überraschungen ebenfalls inklusive.

In Schöneberg sind es mindestens drei Adressen, die Foto-Interessierte sich merken sollten: Zum Beispiel das Atelier André Kirchner in der Grunewaldstraße, wo man spezialisiert ist auf Architektur– und Stadtraum-Fotografie (sich aber gerade in der Sommerpause befindet). Deshalb ersatzweise ein Katalog-Tipp: Kirchner, selbst Fotograf, hatte 2019 in der Berlinischen Galerie eine Serie von Panoramafotos gezeigt zum Thema „Stadtrand Berlin“. Aufgenommen wurden sie nach dem Mauerfall und zeigen lauter bizarre Orte des Übergangs, eines merkwürdigen Dazwischen von Nicht-mehr-Stadt und Noch-nicht-Landschaft, Orte von maximaler Tristesse, Verlassenes, Verwitterndes überall und daneben Neubauten hinter Kornfeldern – ein Zeitdokument der besonderen Art (erhältlich im Museumsshop der Berlinischen Galerie). Wie der Stadtrand heute, also dreißig Jahre später wohl aussehen mag?

Ganz in der Nähe des Ateliers Kirchner befindet sich die Galerie G37 in der Gleditschstraße. Die aktuelle Ausstellung zum Thema „Zeit“ hat bereits am 11. August Finissage. Also letzte Gelegenheit für Kurzentschlossene, um Arbeiten von Mitgliedern der Gruppe „FotoVisionBerlin“ zu sehen, die von Teilnehmer*innen eines Fotokurses an der Lette-Akademie 2018 gegründet wurde: „Wir sind Frauen und Männer, ältere und jüngere, Profi und Amateure, technikbegeistert oder intuitiv – wir schätzen unsere Vielfalt und was uns alle verbindet, ist die Freude am Fotografieren“, so heißt es in einer Selbstdarstellung der Gruppe.

In der Ausstellung haben mich die Arbeiten der Kunsthistorikerin Kathrin Giogoli besonders angezogen. Das sind abstrakt anmutende Fotos, auf denen Strukturen und wiederkehrende Muster eine besondere Rolle spielen und die dabei sehr Konkretes wiedergeben, nämlich die schrundigen, stark strukturierten Oberflächen von Baumstämmen und daneben menschliches Haar, ergraut oder in ähnlichen Farben wie die Baumrinden, changierend zwischen grau, braun, schwarz und weiß. Das Phänomen Zeit ist in all den verwitterten Oberflächen der Bäume förmlich greifbar. Der Eindruck des Abstrakten ist dabei eine Frage des Formats, indem die Fotografin in ihren Arbeiten nur Details und Ausschnitte wiedergibt. Der Effekt ist keineswegs neu, aber immer wieder verblüffend, wie auf diese Weise aus Bekanntem fremdartige Texturen entstehen.

Eröffnung der Ausstellung Vom Freisein in der Welt von der Fotografin Kaarina-Sirkku Kurz im Haus am Kleistpark, Berlin, 2023 // © Amélie Losier

Die dritte Adresse ist das Haus am Kleistpark, ebenfalls in der Grunewaldstraße gelegen. Dort befinden sich gerade zwei Fotoausstellungen im Endspurt, die ich ebenfalls Kurzentschlossenen dringend empfehlen möchte (noch bis 13. August). Als Studio-Ausstellung im Erdgeschoss sind Arbeiten von Kaarina-Sirkku Kurz mit dem sprechenden Titel „Vom Fremdsein in der Welt“ zu besichtigen und in der oberen Galerie eine dem Fotografen Arno Fischer gewidmete Retrospektive mit einem Querschnitt aus fünfzig Jahren künstlerischer Arbeit, die ebenso sinnfällig wie vielsagend mit „Eine Reise“ überschrieben ist. Zu besichtigen sind Szenen aus dem Alltag im Ostblock, in Indien und den USA; Modefotografie vermischt sich bei Fischer mit Straßenfotografie und wurde zu einem ästhetischen Merkmal in dem DDR-Modemagazin „Sibylle“, für das er lange Zeit arbeitete. Das Haus am Kleistpark ist zwar nicht auf Fotografie abonniert, aber sie ist dort ein gern und oft gesehener Gast.

Vernissage der Ausstellung Eine Reise von Arno Fischer im Haus am Kleistpark Berlin, 2023 // © Amélie Losier

Womit ich meinen Berliner Rundgang beende und mich auf den Weg Richtung Westen mache, nämlich nach Siegen, wo das Museum für Gegenwartskunst eine für meinen Geschmack traumhaft schöne Ausstellung mit Arbeiten von Laurenz Berges präsentierte (in Siegen ist die Ausstellung bereits geschlossen, wenn dieser Bericht veröffentlicht wird, aber sie wandert nach Köln und ist dort ab November in der Photographischen Sammlung der SK Stiftung Kultur zu sehen – also, auf nach Köln).

Und was ist so traumhaft? Es sind Bilder wie aus Geisterhäusern. In diesen verlassenen Häusern blieb alles so bewahrt, wie es einmal aussah, als ihre Bewohner darin noch lebten. Als seien es gleichsam Installationen für die Ewigkeit. Anstelle der Bewohner ist nun die Melancholie dort eingezogen. Geblieben sind die menschlichen Spuren. Die Lebensgewohnheiten haben buchstäblich Abdrücke in den Räumen hinterlassen – zum Beispiel der bequeme Lesesessel neben dem Fenster mit einer wärmenden Decke darüber, kleine Erinnerungs-Altäre auf Schränken und in Regalen, gefüllt mit Fotos, Souvenirs und Büchern. Auf einem anderen Foto schauen wir in eine Schublade. Ihr Boden ist mit einem Papier mit Blumendekor bedeckt und darauf liegt einsam ein Schlüssel und ein kleiner weißer Knopf. Hier eine alte Zeitung dazu ein paar Münzen, dort hängt neben Fotos an der Wand eine Wärmflasche. Lauter Stillleben einer anwesenden Abwesenheit, einer stillstehenden Zeit, funktionslose Räume, die verschlüsselte Erinnerungen beherbergen und im wahrsten Sinne umbaute Menschenleere darstellen.

Laurenz Berges, „Blick in den Flur“, 2021, Das Becherhaus in Mudersbach, 2018 – 2022 // © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Die Fotoserien tragen den Titel „Halten und Schwinden“. Laurenz Berges hat sie in Mudersbach, einem Ort unweit von Siegen, aufgenommen, und zwar im Haus der Großeltern von Bernd Becher, der zusammen mit seiner Ehefrau Hilla zu den bedeutendsten deutschen Fotografen zählt. Bekannt sind von ihnen die Fotoserien mit Industriebauten von monolithischer Wucht, aber auch mit Fachwerkhäusern aus dem Siegerland. Eine zweite Serie entstand in dem Haus, das Hilla und Bernd Becher bewohnten. Laurenz Berges war übrigens Schüler von Bernd Becher.

In einem Interview mit dem Kurator Thomas Thiel erklärte er, ihn haben „Räume mit Geschichte“ seit jeher interessiert. Er arbeite langsam, oder positiv ausgedrückt, er arbeite gründlich, was in den Fotos selbst als eine besondere Konzentration eingeschrieben zu sein scheint. Alles gewinnt eine geradezu auratische, zeitlose Präsenz. Schon die von Berges verwendete Technik der Großformat-Kamera verlangt mitunter Belichtungszeiten von mehreren Minuten.

Laurenz Berges, „Schlüssel und Knopf“, Das Becherhaus in Mudersbach, 2018 – 2022 // © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

„An den Orten, an denen ich fotografiere, bin ich im Moment der Aufnahme fast immer die einzige Person. Diese Zeit vor Ort und das Alleinsein sind wichtig für meine Bildfindung. Was ich fotografiere ist jedoch von Menschen gestaltet und zeigt welchen Einfluss sie auf die direkte Umgebung, auf den Raum, die Stadt und das Land ausüben. Mich interessiert das transitorische Moment dieser Räume, die durch die Auflösung entstehende Leere und die bevorstehende Veränderung. Diesen Zustand halte ich im Medium der Fotografie fest.“

Ausstellungsansicht Neu-Entdeckungen (17.02.2023 bis 11.02.2024), MGKSiegen, Arbeiten von Cy Twombly, Sammlung Lambrecht-Schadeberg // © Cy Twombly Foundation, New York, Arbeiten von Niele Toroni, Sammlung Lambrecht-Schadeberg, © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Philipp Ottendörfer

Noch ein Wort zum Siegener Museum für Gegenwartskunst. Die Fotografie ist dort ein Sammlungsschwerpunkt. Zu sehen sind in der ständigen Ausstellung Arbeiten von August Sander über Hilla und Bernd Becher bis zu Candida Höfer. Daneben beherbergt sie die exquisite Kunstsammlung Lambrecht-Schadeberg und kann damit Erlesenes aus der Kunst nach 1945 präsentieren: Hans Hartung, Rupprecht Geiger, Cy Twombly, Lucian Freud, Maria Lassnig, Sigmar Polke, Francis Bacon und vieles mehr.

Und damit ist es Zeit, Richtung Norden zu fahren. In Hamburg sind es Lee Miller und Ralph Gibson, die uns mit faszinierender Augenblicks-Kunst erwarten. Jene Lee Miller gewidmete Schau im Bucerius Kunst Forum trägt den Titel „Fotografin zwischen Krieg und Glamour“ (der Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen), was schon mal zwei sehr gegensätzliche thematische Schwerpunkte ihrer künstlerischen Arbeit bezeichnet, nämlich die fotografische Kriegsberichterstattung während des 2. Weltkriegs, also ihre Arbeit als Fotoreporterin und auf der anderen Seite die Welt der Mode, mit der für Miller im Grunde alles begann.

Lee Miller, Nude bent forward [thought to be Noma Rathner], Paris, 1930 // © Lee Miller Archives, East Sussex, England.

Bevor sie aber selbst die Kamera in die Hand nahm, arbeitete sie in den 1920er Jahren zunächst als Fotomodell. Doch selbst ist die Frau, mag sie sich damals wohl gedacht haben – und tauschte kurzerhand die Seiten, um zu beweisen, dass nicht nur Männer mit der weiblichen Schönheit zu zaubern vermögen. Sie wird zur Bildlieferantin für die Vogue. Was bei ihr schon früh ins Gewicht fällt und künstlerische Früchte trägt, das ist ihr unverkennbarer Eigensinn, der andere Blick, den sie kultiviert, der Sinn für das Überraschende, Ungewöhnliche, auch Provozierende. Sie selbst meinte einmal: „Ich war sehr, sehr hübsch. Ich sah aus wie ein Engel, aber innerlich war ich ein Teufel.“ Wenn man so will, blieb sie in allem, was sie anpackte den Extremen treu.

Sie ging nach Paris und lernte dort Man Ray kennen, mit dem sie eine Liaison eingeht. und schon befand sie sich inmitten der surrealistischen Bewegung, dem damals Avanciertesten in Sachen Kunst. Ihre Offenheit für experimentelle Techniken und stilistische Freiheiten machen ihr Ausdrucksrepertoire schier grenzenlos. Sie will unterwegs sein, ist eher die Ruhelose. Nach dem surrealistischen Abenteuer heiratet sie einen Ägypter und lebt für eine Weile in Kairo. Danach stehen England und eine zweite Ehe auf dem Plan, nämlich mit dem surrealistischen Maler Roland Penrose. Inzwischen herrscht Krieg und deutsche Bomben fallen auf das britische Königreich. Miller fotografiert die Zerstörungen. Von der US Army wird sie als Kriegsreporterin akkreditiert und ist bei der Landung der Alliierten in der Normandie dabei.

Lee Miller: Fire masks, London, 1941 // © Lee Miller Archives, East Sussex, England.

Später ist sie im besiegten/befreiten Deutschland unterwegs, benutzt in Hitlers Münchner Privatwohnung dessen Badewanne und lässt sich darin fotografieren. Aber sie besucht auch das Konzentrationslager Buchenwald. Wir kennen die zahllosen dokumentarischen Aufnahmen aus den befreiten Lagern mit Leichenbergen und den nur noch aus Haut und Knochen bestehenden Häftlingen. Lee Miller findet zu einer anderen, subtilen und nicht minder verstörenden Bildsprache: Häftlinge stehen in einer Reihe neben einem Haufen Knochenresten aus dem Krematorium.

Diese fürwahr fulminante Schau der Extreme ist noch bis zum 24. September zu besichtigen und eine unbedingte Empfehlung. Das Schönste und das Brutalste nebeneinander – die Fotografie zwingt es durch die betrachtende Distanz so oder so ins Ästhetische, während die Fotografin mal die inszenierte, mal die traumatisierende Wirklichkeit dahinter tatsächlich gesehen hat. Ihr Hinschauen unterscheidet unseres um genau diesen Faktor des Realen und Unmittelbaren.

Lee Miller: The Lead evening dress, London, 1941 // © Lee Miller Archives, East Sussex, England.

Etwa 2 km Luftlinie entfernt vom Bucerius Kunstforum liegen die Deichtorhallen. Unter dem Titel „Secret of Light“ ist dort noch bis zum 20. August eine ebenfalls groß angelegte Werkschau mit Fotografien von Ralph Gibson zu bewundern. Er begann wie so viele mit Straßenfotografie, doch spätestens mit den 1970er Jahren verließ Gibson die dokumentarische Fotografie und schuf einen surrealen Stil, mit dem er einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der Fotografie nahm.

Der Kunstwille ist darin unverkennbar. Legendär seine Black Trilogy, die in Buchform mit „The Somnambulist“ 1970 startete, durch „Déja-Vu“ 1972 fortgesetzt und mit „Days at Sea“ 1974 komplettiert wurde. Ging es darin zunächst um die Welt der Träume und um Magisches mit Szenen, bei denen Hitchcocks Horror grüßen lässt, so im Weiteren um das Phänomen der flüchtigen Erinnerungen, die wir wohl alle kennen, und schließlich führt die Entwicklung immer klarer zur Abstraktion, indem Gibson den Objekten förmlich auf die Pelle rückt und sie durch die ungewöhnliche Nähe ihres Zusammenhangs beraubt und in Isoliertheit versetzt.

Ralph Gibson, aus der Serie The Somnambulist, 1970 // © Ralph Gibson

Im Fall der Déja-Vu-Erlebnisse erklärte Gibson: „Ich bemerkte, dass, wann immer ich ein Déja-Vu hatte, es in meinem Bewusstsein zur gleichen Zeit verblasste, in der ich es registrierte. Eine Art mentaler Kontrapunkt. Die Fotografie ist eine solche zeitbasierte Handlung.“ Womit wir wieder bei der Augenblickskunst wären, die durch Gibsons Leidenschaft für den Surrealismus immer etwas Traumhaftes visualisiert – seien es die zwei dunklen Türen, eine ausgestreckte Hand mit Pistole vor einem Wolkenhimmel, zwei ineinandergreifende Hände, eine Hand, die ein Auge verdeckt und vieles mehr dieser Art.

Ralph Gibson,aus der Serie Déja-Vu, 1974 // © Ralph Gibson

Roland Barthes verglich die Fotografie mit einer Geste, indem sie unseren Blick auf etwas lenkt und einen bestimmten Moment einfängt, als wolle sie sagen „das da, genau das!“ Fotografie ist eine ziemlich diktatorische Schule des Sehens, denn indem sie die Wirklichkeit in lauter Bilder zerlegt, setzt sie uns der Gefahr aus, am Ende um uns herum nur noch Bilder einer Ausstellung wahrzunehmen, als lebten wir in einer Welt aus Motiven.

Ralph Gibson, aus der Serie Days at Sea, 1974 // © Ralph Gibson

Bei Gibson scheint mir dieses Prinzip auf die Spitze getrieben zu sein. Zum einen muss er das Surreale nicht erst erfinden, es ist bereits in der Wirklichkeit vorhanden, man muss es nur wie er im Alltag und in unserer Umwelt aufspüren. Hinzu kommt, er zerlegt die Wirklichkeit in ihre Einzelteile, verengt den Ausschnitt radikal, sieht lauter Nebensächliches, Banales und verwandelt es gleichsam in Attraktionen.

Man mag seine späten Arbeiten als eine Ansammlung banaler Details beliebig nennen – hier ein Stück Zaun, dort ein Baumstamm, markiert mit einem aufgesprühten grünen Kreuz, ein Stück Mauer, Schnee auf dünnen Zweigen, welkende Blätter und noch mehr dieser Art. Als Bilderwand und Summierung entsteht eine Art Elementarbaukasten der Wirklichkeit. Weil Gibson der Kunstanspruch der Fotografie offenbar viel bedeutet, experimentiert und abstrahiert er unentwegt – so beispielsweise, als er mit der Farbfotografie begann und Farbe und Struktur in Serien von Maueroberflächen zusammenbringt.

Ralph Gibson in der Ausstellung SECRET OF LIGHT // Foto: Philipp Meuser

Wer es nicht bis zum 20. August nach Hamburg schafft, hat ab September die Möglichkeit die Gibson-Retrospektive in München zu besuchen, und zwar im Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung in der Maximilianstraße. Ein Katalog zur Ausstellung ist im Kehrer Verlag erschienen.

[PS: Ab dem 7. Oktober 2023 ist in den Deichtorhallen die Ausstellung Cindy Sherman Anti-Fashion zu sehen; bis zum 10. September 2023 kann diese noch in der Staatsgalerie Stuttgart angeschaut werden. Ein Katalog ist im Sandstein Verlag erschienen; Anm. d. Red.]

Unsere betrachtungswillige Autorin Nora Eckert // Foto: © privat

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

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