Nicht nur Kompetenzgewinn und Optimierung

Anmerkung: Die Verlinkungen bei den Verlagen führen zu unserem Schlagwortbereich zu diesem.

Puh, nun haben wir euch Mitte Februar kurz alle in den Kategorien Belletristik, Übersetzung und Sachbuch/Essayistik für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Titel vorgestellt, schrieben von einer kleinen Symphonie. Wenige Wochen später berichteten wir von der Vorstellung der fünf nominierten Belletristik-Autor:innen im Literarischen Colloquium Berlin, die so gut besucht wie vielfältig war und vor wenigen Tagen schrieben wir von der Präsentation der Übersetzer:innen, ebenfalls im LCB, die faszinierender war, als die erste Veranstaltung und doch weit weniger gut besucht. 

Gar keine Präsenzveranstaltung gab es leider für die nie ganz so geliebte Kategorie Sachbuch/Essayistik. Doch auch hier wurden die Titel im Deutschlandfunk Kultur vorgestellt und zwar von Andrea Gerk und Christian Rabhansl, die sich mit den vier Autorinnen und dem einen Autoren unterhalten haben. Wir haben es natürlich gehört und, gerade da wir Sachbücher lieben, natürlich auch unseren Honig-Senf dazugegeben. 

Kitsch mit relevantem Anstrich

Christiane Hoffmann, die ganz sachlich als „derzeit erste stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung“ angekündigt wird, taucht mit Moderatorin Andrea Gerk in die – durchaus spannenden – Hintergründe ihres Buches Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters ein und auch darin, was für eine körperliche Erfahrung dieser Fußweg für sie gewesen ist. Sie beschreibt Vertreibungs-, Ver- und Entwurzelungserfahrungen, die ihr auf dem Weg, auf dem sie im Geiste auch einen Du-Dialog mit ihrem verstorbenen Vater führt, in der Familiengeschichte und bei ihren Recherchen begegnet sind. 

Ein interessantes Gespräch, das Lust auf das Buch machen könnte. Bis Christiane Hoffmann dann doch etwas schwurbelt, wir uns anschließend die Leseprobe aus dem C.H. Beck Verlag gönnen und nun das Gefühl haben, nominiert ist der Titel wohl eher, weil es ein „Buch der Stunde“ sein könnte und semi-kitschige Erinnerung mit einem Anstrich zeitgeschichtlicher Relevanz immer geht. Weder als vormalige SPIEGEL– noch als Buchautorin gewinnt Hoffmann bei uns also einen Blumenstrauß oder sonst etwas. 

In die widersprüchlichen Ecken blicken

Als Moderator Christian Rabhansl einen echten „Kunstberserker“ ankündigt, sind wir kurz nicht sicher, ob er den nominierten Horst Bredekamp oder doch Michelangelo meint, mit dem sich Bredekamp auf gut 800 Seiten im gleichnamigen bei Klaus Wagenbach erschienenen Buch befasst. Das Buch, Ergebnis einer jahrzehntelangen Arbeit, sei beeindruckend – dass wir uns das gut vorstellen können, schreiben wir bereits hier. Wir hoffen uns bei Gelegenheit selbst davon überzeugen zu dürfen.

Das Gespräch, in dem es um die guten – göttlichen – und weniger guten – schrecklichen – Seiten des künstlerischen und handwerklichen Tausendsassas der Hochrenaissance geht, lässt uns meinen, dass es sich hier nicht nur um ein Nachschlagewerk mit Standardfunktion handeln könnte, sondern auch um eines, das sich in Ecken des Künstlers Michelangelo Buonarroti wagt, in die sich biographischer Mainstream bisher nicht wagte.

Zudem scheint es ein zugänglicher Titel zu sein, der trotz des üppigen Preises, auch aufgrund einer ebensolchen Ausstattung, nicht nur für Hardcore-Kunstjunkies und Halbprofis, sondern durch Zugänglichkeit auch etwas für lose Interessierte sein dürfte. Aus denen könnten schließlich „höchst kenntnisreiche Amateure [werden], von denen die Profis nur lernen können“, wie es in Unsere einzigartige Insektenwelt heißt.

Pluralität ist nicht Pluralismus

„Pluralität“ – das ist inzwischen schon mehr ein Kampfbegriff als alles andere. Juliane Rebentischs nominierter Titel Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt (liegt im Suhrkamp Verlag vor, unsere Besprechung folgt) trägt also gleich die richtigen Schlagworte im Titel und mit und über Hannah Arendt ließ und lässt sich ja bekanntlich ohnehin trefflich streiten. So startet das Gespräch von Juliane Rebentisch und Andrea Gerk dann auch gleich mit den unterschiedlichen Definitionen von „Pluralität“, quasi damals und heute. 

Arendt nämlich sah in Pluralität nicht Diversität und Pluralismus, wie wir es heute gern definieren, sondern verknüpfte damit Austausch, Streit, Offenheit und mehr, so fassen wir mal Rebentischs Zusammenfassung zusammen. Auch geht es um Arendts im Gespräch so genannte „Schwierigkeiten mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung“ und aus welchen Betrachtungen oder Schlussfolgerungen ihre Haltung hergerührt haben könnte. Juliane Rebentisch scheint hier, jedenfalls in Teilen, zu anderen Ergebnissen zu gelangen als Natan Sznaider in seinem ebenso Anfang 2022 erschienenem Werk Fluchtpunkte der Erinnerung, in dem er sich ebenfalls mit Hannah Arendt und diesem Thema befasst.

Genauso scheint diese kritische Auseinandersetzung mit Hannah Arendt einen so zeitgenössischen Bezug wie wissenschaftlichen Anspruch zu haben. Quasi eine Beschäftigung mit der Entstehung und Definition von beispielsweise Alternativen Fakten für philosophisch geschulte Streittheoretiker (und sicherlich auch -praktiker). Und klar, ohne Eichmann geht auch hier nichts. Ein spannendes Gespräch zu einem interessanten, streitbaren Buch.

Mehr einander zuhören

Gleich auf den ersten Seite ihres nominierten Buches Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders Denken (gerade im btb-Verlag erschienen, unsere Besprechung folgt) stellt Hadija Haruna-Oelker ebenfalls einen Bezug zu Hannah Arendt her, so Christian Rabhansl in seiner Vorstellung der Politikwissenschaftlerin. Auf eine sehr schöne Einstiegsfrage antwortet Haruna-Oelker, dass es in diesen Zeiten manchmal sehr schwierig sei, die Schönheit herauszufiltern, wenn Menschen beispielsweise kategorisiert werden oder wenn es Krieg gibt (hier sind ein paar schöne Bild- und Kunstbände).

„[…], dass wir eben alle unterschiedlich gleich sind. In den Differenzen das Schöne zu sehen, um die Abwertung zu bekämpfen die dahintersteckt“, fährt sie, wieder auf Arendt bezogen, fort. Damit ist schon einmal klar, dass ihr neuer Titel kein How-to-Ratgeber, sondern eine Betrachtung der Mechanismen bewusst eingesetzter Hervorhebung von Unterschiedlichkeit, um am Ende diskriminieren zu können, ist. Das klingt also durchaus nach einer groß angelegten Analysearbeit, der sich zu stellen jedoch höchst interessant sein dürfte.

Zumal es, um hier mal wieder damit um die Ecke zu kommen, nach einem sehr zugänglichen Buch klingt (was ohnehin der erste Eindruck war), zudem einem sehr persönlichen; beides wird im äußerst einnehmenden Gespräch von Haruna-Oelker und Rabhansl deutlich. Über komplexe, schwierige, interpretationsreiche Themen wie Privilegien, Identität und Gerechtigkeit auf Augenhöhe zu schreiben, das ist natürlich schon einiges wert. Wir sind gespannt.

Präzision, dieses verletzende Werkzeug

Dass uns schon allein der Titel des letzten vorgestellten Buches – Etymologischer Gossip. Essays und Reden (erschienen bei kookbooks) – anfixte, haben wir bereits geschrieben. Das Gespräch von Uljana Wolf und Andrea Gerk ändert daran nichts (und der Blick, den wir bereits reingeworfen haben, ebenso wenig). 

Wolf freut sich erst einmal über die überraschende Nominierung ihrer diversen Essays, die sie aus den letzten Jahren zusammengetragne hat. „Eine wilde Sammlung verschiedener Textsorten, für die Sie sogar neue Begriffe gefunden haben“, nennt Gerk dies, dem wollen wir uns gern anschließen. Wie es der Titel auch verrät, geht es viel um Wörter, Herkunft und Bedeutung dieser und so weiter. Womit das Buch gar im Zusammenhang einiger in der Kategorie Übersetzung nominierter Titel gelesen werden kann.

Dass wir natürlich diese Sprach- und Wortbegeisterung von Uljana Wolf extrem sexy finden, könnt ihr euch wohl denken. Es lohnt sich für unsicher-interessierte potenzielle Leser:innen auch, sich den Beitrag anzuhören, da Wolf einen kurzen Abschnitt aus ihrem Etymologischen Gossip vorliest (okay, zugegeben, das findet sich auch auf dem Buchrücken, dennoch). Das Gespräch kann außerdem als eine Empfehlung, wie das Buch gelesen werden dürfte, verstanden werden. 

Und auch dafür sind gute Sachbücher und Essays ja wohl da: Um besser verstehen und vor allem wohl, eigenständig denken zu lernen

Zu hören ist die hochspannende Sendung in der Mediathek von Deutschlandfunk Kultur. Der Preis der Leipziger Buchmesse wird am 17. März um 16:00 Uhr vergeben, die Verleihung wird auf der Seite der Leipziger Buchmesse gestreamt. Einen Beitrag dazu gibt es bei uns Anfang der kommenden Woche.

Eure queer-reviewer

PS: Vielleicht nicht ganz überraschend: Unser Beitragstitel entstammt auch dem Gespräch von Andrea Gerk mit Uljana Wolf.

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