Neulich im Museum

Was bedeutet das eigentlich, sich selbst in einer Antiken-Ausstellung zu entdecken? Dass man schon verdammt alt ist? Und was tuscheln da zwei alte Damen angesichts des wohlgeformten und so lebensechten Marmorbildnisses, das ich unmöglich sein kann und das mich doch in gewisser Weise wiedergibt? Und schließlich: was in Museen noch so alles zu entdecken ist.

Kunst-Betrachtungen von Nora Eckert

Klar, die Marmorstatue, um die es hier geht, war natürlich nicht ich. Denn wie sie da so kühl in ihrer milchig-weißen Pracht vor mir stand, wird sie ein Alter von wohl mindestens zweitausend Jahren haben. Aber immer noch frisch und jugendlich in ihrer Nacktheit, den Oberkörper leicht gedreht, den Kopf geneigt, den Blick nach unten gerichtet auf etwas, was wir nicht sehen. Eine Momentaufnahme in Stein gehauen, ganz wie aus dem Leben, als würde sich die Gestalt im nächsten Moment aus der Körperdrehung herausbewegen, um uns, die wir sie betrachten, direkt ins Auge zu schauen oder sich vielleicht doch von uns abzuwenden, um das Podest zu verlassen, auf das sie der Kurator der Ausstellung so prominent in eine Parade mit weiteren marmornen Zeitgenoss*innen aus augusteischer Kaiserzeit platzierte. 

Als ich mich der Statue gerade näherte und ihres besonderen Körpers gewahr wurde, fielen mir auch die zwei älteren Damen auf, die sich im Gespräch befanden. Gekleidet in langweiliger, nichtssagender Bürgerlichkeit. Mir fällt da so ein altes Wort ein: schicklich. Ja, so in Beige- und Grautönen, konservativ und unauffällig. Hamburgisches Bildungsbürgertum eben, aber gibt es so etwas überhaupt? Hamburgisch jedenfalls, weil die Ausstellung in Hamburg zu sehen war und Bildungsbürger, weil die Kunstinteressiertheit der beiden Damen möglicherweise etwas mit Bildung zu tun hat, mag sie noch so hohl und der Mensch, der sie besitzt noch so antiquiert sein. Fraglich allerdings, ob ich ihnen beispielsweise auch in einer Cy Twombly Retrospektive oder in sonst was Modernem begegnet wäre. Man liebt es eher gediegen, bevorzugt das edle Unvergängliche.

Ich konnte nicht hören, was sie sprachen, doch gingen ihre Blicke hin zu der antiken Gestalt, was mir signalisierte, dass sie sich über sie unterhalten. Und die erste Assoziation war: Sie unterhalten sich über mich. Nein, ich leide keineswegs an Beziehungswahn, auch Paranoia genannt. Und doch unterhielten sie sich über mich. Gut, sie wussten es nicht und hielten ihre Blicke auf die antike Schönheit gerichtet.

Als ich schließlich neben ihnen stand, waren sie schon im Begriff wegzugehen und im Weggehen höre ich noch, wie die eine zu ihrer Begleitung ziemlich zickig – oder nennt man das besser schnippisch oder herrisch? – drei knappe Sätze spricht, als dulde dieser diskursive Schlusspunkt keine Widerrede. Ja, denn für mich erkennbar, wollte die andere, obschon nur für den Bruchteil einer Sekunde, ihrem Impuls nachgeben, wenn schon nicht zu widersprechen so doch wenigstens das gerade Gehörte abzumildern. Sie war offenbar in dieser Sache weniger streng, gutmütiger und ließ den Einwand trotzdem fallen. Was ich hörte, war: „Na ja, das ist ja nun alles geklärt. Und es ist darüber schon genug gesagt worden. Schließlich gibt es auch noch Normale.“ 

Berliner Hermaphrodit (von unbekanntem Künstler) – Das ist allerdings nicht die Statue aus der erwähnten Ausstellung // © Gipsformerei Staatliche Museen zu Berlin

Bei dem Wort „Normale“ blickte sie ihre Begleiterin siegesgewiss und mit einem etwas verkniffenen Lächeln um die Mundwinkel an, während sie mit einer Geste zu bekräftigen schien, dass sie beide auf jeden Fall zu den Normalen gehören würden. Die andere quittierte es mit einem wortlosen Nicken. Die antike Marmorstatue und das, was sie an Menschlichem darstellt, tue das demzufolge nicht und ist eben nicht normal. Denn auf sie bezog sich der Kommentar.

Die zweitausend Jahre alte Statue stellte einen Hermaphroditen dar mit weich gerundeten Formen des Körpers, einem ebenso wohlgeformten Busen und einem kleinen Penis. Solche Statuen waren damals im römischen Kaiserreich Hausschmuck in den Villen der Besserverdienenden, wie wir heute sagen würden, und gemessen an dem sonst Üblichen durchaus etwas Exotisches, aber doch auch irgendwie Anziehendes. Für die Kunstgeschichte eigentlich nichts Besonderes. Und die Antiken-Forschung weiß zum Thema auch einiges mitzuteilen. Wer will findet davon genug bei Google.

Aber was hat die Statue mit mir zu tun? Ich bin kein Hermaphrodit, ich bin trans*. Doch wenn ich nackt vor dem Spiegel stehe, sehe ich als Spiegelbild einen „Herm“, wenn auch nicht so makellos wie das marmorne Modell. Marmor hat die eindeutig bessere Haltbarkeit als so ein menschlicher Körper aus Fleisch und Blut. Doch sonst stimmt alles. Die beiden Damen gaben mir jedenfalls zu verstehen, dass ich nicht so normal bin wie sie – ein Glück! Aber sie wissen sicherlich auch nicht, wie normal die Vielfalt liebende Natur in ihrer Vielfalt ist, und stelle mir zugleich vor, wie ich heute als Frau mit Penis nach zweitausend Jahren kunsttauglich werde und mich als Wohnzimmerschmuck und diesmal vielleicht in Bronze oder vielleicht auch aufblasbar, metallisch glänzend in Neonfarben à la Jeff Koons irgendwo begegne. Das Gerede um die Normalität gäbe es gratis dazu, denn eines ist klar, nichts scheint die Welt der Normalos so sehr zu verunsichern wie das, was davon abweicht, und nichts benötigen sie mehr, als permanent in ihrer Normalität bestätigt zu werden – die Armen. 

Museumsbesuche jedenfalls bieten mitunter bemerkenswerte Wirklichkeitserfahrungen. Deshalb gleich noch zwei Erinnerungen. Damals befand sich das Ethnologische Museum noch in Dahlem, als ich mit einer Freundin dort zu einem Besuch verabredet war. Sie kündigte mir für die Südsee-Abteilung etwas Besonderes an. Ich würde staunen, meinte sie. Sie hatte einen Blick für Kurioses und konnte sich darüber göttlich amüsieren. Vornehme Zurückhaltung war nicht ihre Art. Sie brauchte Publikum und wusste, dass das Leben eine Performance ist und damit die Magie des Ganzen nicht zu kurz komme, war „Karma“ ihr Lieblingswort.

Uli-Figur, Nördliches Neuirland // © Ethnologisches Museum, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Martin Franken

„Hier ist es!“, und zeigte auf eine etwa ein Meter hohe Figur aus bemaltem Holz, um sogleich laut aufzulachen in eben ihrer Art. „Du, die hätten uns als Gottheit verehrt.“ Die Figur hatte kleine spitze Brüste und einen Penis zwischen den zu kurzen und krummen Beinen. „Aber der Kopf“, protestierte ich. Vielleicht war das grimmige Gesicht, diese lange Reihe gebleckter Zähne, die stieren Augen, die Hakennase ja eine Schutzmaßnahme gegen das Begehren – eine Immunisierung gegen sexuelle Phantasien. Vielleicht verdanken sich die Figuren überhaupt erst solchen Phantasien. Immerhin konnten Menschen, die sie schufen, um ihr eine rituelle Bedeutung zu geben, beides zusammen denken – Weibliches und Männliches. Ebenso offensichtlich, wie hier einer männlichen Figur etwas Weibliches eigen ist. Sie haben einen Namen und heißen Uli-Figuren.

Der Surrealist André Breton, fasziniert von den Kulten indigener Gesellschaften und vor allem von deren Kunst, schrieb darüber ein Gedicht, worin er die Figur einen großen Gott nennt, der ängstigt und verzaubert. Also auch in der Wirkung ein Sowohl-als-auch. Verunsicherung und Anziehung – beides gehört, nebenbei bemerkt, zur Ausstrahlung von trans*Menschen, die eigentlich nichts anderes tun, als ihren Körper geschlechtsidentitär vom Kopf auf die Füße zu stellen. Die Subversion von Geschlecht führt am Ende zu erweiterten Konzepten von Frau und Mann und verhilft so, der Natur gerecht zu werden. Für trans*Menschen kein Problem, das haben nur die anderen, eben die Normalos.

Irgendwann hatte ich es endlich geschafft, den berühmten Prado in Madrid zu besuchen und all die anderen reichen Kunstsammlungen der Stadt. Im „Reina Sofia“, das vor allem spanische Kunst des 20. Jahrhunderts enthält, war sie wieder da, diese seltsame Gottheit. Zwar diesmal keine Uli-Figur aus der Südsee, dafür eine moderne Skulptur, in der ebenfalls Frau und Mann zugleich beheimatet scheinen. Ich weiß nicht, wie der spanische Künstler Angel Ferrant, dem eine besondere Vorliebe für prähistorische Kunst nachgesagt wird, seine Figur verstanden wissen wollte. Der digitale Katalog des Museums gab darüber keine Aufklärung. Möglich, dass ich mit meiner Interpretation schiefliege, abwegig erscheint sie mir nicht.

Zu sehen ist eine sitzende Gestalt, alles an ihr ist stilisiert, so der kleine dreieckige Kopf, die Brüste, die wie Scheiben links und rechts an einem schmalen Körper angebracht sind. Der Bauch hingegen ist groß und rund und ebenso voluminös das Becken, die weit offenen Oberschenkel und die im Sitzen angewinkelten Beine. Zwischen diesen ragt ein Ding hervor, ja, ein nicht zu übersehendes Ding, lang und rund. Auf diesem Ding wiederum ruht, was aussieht wie zwei Horngeweihe mit hübsch verschnörkelten Enden.

Majestad (Majest#t) von Ángel Ferrant // Foto: © Nora Eckert

Der Titel des 1951 entstandenen Werks verrät nichts und zugleich alles: „Majestad“. Majestät kann ein Mann und eine Frau sein oder – wie hier – beides zusammen. Was bedeutet dieses Ding zwischen den Beinen? Ich musste unwillkürlich an einen Phallus denken. Und auch daran, wie wir trans*Menschen in der Phantasie anderer umhergeistern und gar noch als Majestät. Sei es wie will, so binär wie unsere Kultur erscheint, so gibt es doch ein Wissen oder wenigstens eine Ahnung, dass sich zwei Geschlechter auch als eins denken, sehen, fühlen und leben lassen. Geht ins Museum – die Kunst weiß mehr!

Nora Eckert ist Publizistin, im Vorstand beim Bundesverbandes Trans* e.V. und bei TransInterQueer e. V. und Teil der Queer Media Society

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