Eingesperrt im eigenen Kopf

Jugendsünden. Die meisten Menschen dürften in ihrer Jugend etwas gemacht haben, auf das sie rückblickend nicht sehr stolz sind. Jemanden ungerecht behandelt, vielleicht sogar gemobbt. Sich mit einer falschen Person eingelassen. Oder einfach manch eine Emotion nicht unter Kontrolle.

Die beiden 17-jährigen Berliner Jannik (Lorenzo Germeno) und Tai (Anh Khoa Trẩn) manövrieren sich ebenfalls in eine Situation, die mensch mit viel Augenzudrücken später vielleicht als Jugendsünde durchgehen lassen könnte. Eigentlich ist die Situation aber viel zu ernst, als dass sie in diese Kategorie fiele.

Besoffen auf der Parkbank und im Luxusapartment

In der sechsteiligen Serie Nackt über Berlin von Regisseur und Autor Axel Ranisch – sein gleichnamiges Buch zur Serie erschien bereits 2018 (Hardcover) bzw. 2019 (Taschenbuch) bei Ullstein – (Co-Autor zum Drehbuch: Sönke Andresen; Produzentin: Milena Maitz) finden die beiden ihren Rektor Jens Lamprecht (Thorsten Merten) sturzbetrunken auf einer Berliner Parkbank. Sie schaffen ihn in seine einigermaßen luxuriöse Wohnung (ja, man lebt gut) in einem Hochhaus in Berlin-Mitte, wo sie ihn anschließend einsperren.

Als ihn zum Arbeitsbeginn am Montagmorgen immer noch niemand freigelassen hat, versucht Jens Lamprecht (Thorsten Merten) die Panzerglasfenster zu durchbrechen. // © SWR/Studio.tv.film/Oliver Feist

Was uns anfangs noch als Dummer-Jungen-Streich vorkommen mag, entpuppt sich bald zur handfesten Entführung. Tai und Jannik stellen ihrem Schulleiter unter anderem das Wasser ab und melden sich anonym als „Gott“ bei ihm – sie verlangen ein Geständnis zu den Vorkommnissen um die Mitschülerin Melanie Heise (Sidney Fahlisch), die sich vom Dach gestürzt hat. Lamprecht wehrt sich natürlich, aber Tage der Folter und der Mangel an Flüssigkeit (jenseits von teuren Weinen, an denen er sich notgedrungen nicht allzu genüsslich bedient) treiben ihn Schritt für Schritt in Richtung Wahnsinn…

Ein Haderer

Daneben gibt es weitere Motive, die Jannik und Tai betreffen. Beide hadern mit einem gewissen „Anderssein“. Tai ist der Sohn asiatischer Einwanderer und spätestens in der letzten Folge wird nicht mehr nur latent sichtbar, was das für ihn bedeutet. Unser Hauptcharakter jedoch ist Jannik, der stark übergewichtig ist – und noch dazu schwul und ungeoutet. Seine Mutter Simone (Alwara Höfels) ist liebevoll und einfühlsam, sein Vater Michael (Devid Striesow) eher vom Typ „egozentrischer Proll“. Anders als Lamprecht wohnen sie in einer alten Platte im Osten Berlins.

Simone (Alwara Höfels) hat die Hoffnung aufgegeben, dass Michael (Devid Striesow) von allein was merkt und klärt ihn und Jannik (Lorenzo Germeno) über ihren Zustand auf. // © SWR/Studio.tv.film/Oliver Feist

Jannik hadert. Mit sich, seinem Körper und seiner sexuellen Orientierung. Mit seiner Familie und vor allem seinem Vater, dem Jannik nicht männlich genug zu sein scheint. Mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern. Mit dem, was Tai und er tun – wobei Tai eher treibende Kraft ist, aber Jannik dennoch fasziniert und gleichsam erschüttert mitzieht. Und überhaupt mit der Beziehung zu Tai. Ist das Freundschaft? Oder ist das mehr? Was kann Jannik sich erlauben?

Nach und nach in den Bann

Soweit die doch relativ komplexe Gemengelage in Nackt über Berlin. Axel Ranisch zieht uns hier nach und nach in eine Geschichte hinein, die wir so eigentlich nicht erwarten. Wie oben bereits illustriert, gehen wir anfangs noch von einem harmlosen Jungenstreich aus, der aber zunehmend bitterböser Ernst wird. Die Handlungsmotive der verschiedenen Charaktere werden uns erst Stück für Stück offenbar und das macht diese Serie (und vermutlich auch das Buch) so fesselnd.

Als Abgesandte des Kollegiums soll Claudia Gieseking (Christina Große) den Direktor besuchen. Tai (Anh Khoa Trần, re.) und Jannik (Lorenzo Germeno, Mitte) sind erleichtert, dass sie an der Pforte abgewiesen wird. // © SWR/Studio.tv.film/Oliver Feist

Gerade die Geschichte um die tote Melanie wird erst einmal als eine Art Randnotiz eingeführt, bekommt jedoch in mehreren stark gemachten und aufeinander aufbauenden Rückblenden eine Tiefe, die wir so nicht erwartet hätten. Einerseits bereichert das die Serie, denn es hält einige unerwartete Wendungen sowie eine lesbische Geschichte bereit, die es so wohl nicht nur in Berlin geben dürfte. Andererseits zieht sich dadurch die Handlung jedoch auch ein wenig und leider ist gerade diese Geschichte verhältnismäßig wenig fesselnd geschrieben, was auch die Hintergrundgeschichte, die Lamprechts Figur Tiefe verleihen soll, nur bedingt auffangen kann.

Stilmittel gekonnt eingesetzt

Und dennoch arbeiten Ranisch und sein Team neben Rückblenden mit mehreren gekonnt eingesetzten stilistischen Elementen. Immer wieder gibt es Szenen – meist sind es Traumszenen Janniks –, die eher als Theater angelegt sind und manche Fantasien oder Möglichkeitsszenarien versinnbildlichen. Gerade für die komplexe Gedankenwelt eines Heranwachsenden, der mit vielen Problemlagen zu kämpfen hat, ist das eine sehr gute und gekonnte Herangehensweise.

Jannik (Lorenzo Germeno) soll für die Großmutter seines Freundes ein spontanes Ständchen spielen. // © SWR/Studio.tv.film/Oliver Feist

Was gerade Janniks Charakter auch weitere Tiefe verleiht, ist der gekonnte Einsatz der Musik über die gesamte Serie hinweg. Jannik ist großer Tschaikowski-Fan und so finden sich in einer Reihe der sehr stark von Martina Eisenreich zusammengestellten Musik Anleihen und Interpretationen von bekannten und weniger bekannten Werken des russischen Komponisten. Für die Serie ergibt sich hieraus ein stark emotionales akustisches Geflecht, das immer auf den Punkt die jeweilige Situation unterstreicht und wie gesagt, gerade Jannik dadurch noch tiefgehender ausdefiniert.

Gutes Handwerk…

Auch Maske und Kostüm (Milenka Nawka, Federico Nerri und Kjell Peterson) sind in der Regel auf den Punkt. Der Fatsuit sitzt Jannik perfekt und auch an anderen Stellen zeigen die Macherinnen und Macher, dass sie etwas von ihrem Handwerk verstehen. Lamprecht sehen wir seine Verzweiflung und Resignation in der Gefangenheit mit jedem Tag mehr an, Tai steht zunehmend unter Strom und Janniks Vater gibt in einer Szene einen unglaublich tollen betrunkenen Vater. Gute Kostümbildnerkunst trifft hier auf gekonntes schauspielerisches Handwerk.

Weitermachen oder aufhören? Tai (Anh Khoa Trần) hat vorgesorgt, aber wird Jannik (Lorenzo Germeno) einverstanden sein, den Direktor nicht wieder freizulassen? // © SWR/Studio.tv.film/Oliver Feist

Leider muss aber auch gesagt sein, dass zwei der Folgen in ihrer Spannung deutlich abfallen. Gerade in der ersten Folge muss sich die Serie noch finden und es ist denkbar, dass viele potentielle Zuschauerinnen und Zuschauer sich hier direkt verabschieden, wenn die Serie ab heute bei arte und ab morgen im Ersten läuft. Das ist schade, denn auch thematisch sprechen Ranisch und Team doch einige spannende und gesellschaftlich relevante Punkte an.

Implantiert, aber dennoch mit Tiefgang und Spannung

Das betrifft weniger die Schulszenen, als vielmehr den allgemeinen Umgang mit Homosexualität, dem eigenen Coming-out, nicht immer wohlgeordneten familiären Verhältnissen, aber auch den Umgang mit dem eigenen (und in diesem Fall: vor allem übergewichtigen) eigenen Körper oder auch Fremdenfeindlichkeit und Ankunft in einer anderen Kultur. Vieles davon wächst hier organisch aus der Geschichte, auch wenn gerade die Sache zur Fremdenfeindlichkeit zum Ende hin etwas implantiert und gezwungen wirkt.

Auch wenn Lamprecht (Thorsten Merten), anders als Vertrauenslehrer Frank Bussmann (Walid Al-Atiyat), nicht glaubt, dass Schülerin Mel wirklich springen wird – als Direktor muss er etwas unternehmen. // © SWR/Studio.tv.film/Oliver Feist

Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nackt über Berlin doch eine gute Unterhaltungsserie mit Tiefgang und Spannung ist. Axel Ranisch hat seinen Roman zu einer größtenteils kurzweiligen Serie gemacht, die vor allem ihrem Hauptcharakter eine große Tiefe gibt und uns mit mancher Problemlage konfrontiert, die uns auch heute noch beschäftigt, aber auch illustriert, wie schnell aus einem Jungenstreich böser Ernst werden kann.

HMS

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