Reinwaschen – und dann?

Beitragsbild, v. l. n. r.: Thomas Hitzlsperger in Katar, warum nur? im Lusail Stadion in Doha, Katar // Foto © SWR/NGLOW / Nick Golüke; Zeichen setzen mit der Pride Flag; Jochen Breyer in ZDFzeit: Geheimsache Katar, ebenfalls im Lusail Stadion in Doha, Katar // Foto: © ZDF/Mateusz Smolka

„’54, ’74, ’90,“ 2022? Die Sportfreunde Stiller haben zwar mit Jeder nur ein X vor wenigen Tagen ein neues und ihr mittlerweile achtes Studioalbum herausgegeben – ein WM-Song der Fußballfans ist darauf allerdings nicht zu finden (ein wunderbarer Fußballsong aber sehr wohl). Dabei hätte der uns ja doch vielleicht in die richtige Stim… hmm, nein eher auch nicht. Die unsichtbaren Schatten über der teils 50 Grad warmen autokratischen Wüstenmonarchie Katar sind einfach zu groß.

Haltung nicht um des Wortes willen

Das ist für uns einfach so und wie es nach einer spontanen Umfrage bei Instagram aussieht, geht es nicht nur uns bei the little queer review so. Bei einer durchaus nicht irrelevant zu nennenden (allerdings nicht repräsentativen) Zahl von Teilnehmer*innen ist die Antwort klar: 97 % meinen, keines der Spiele dieser Fußball-Weltmeisterschaft der Männer anschauen zu wollen.

Da mag sich Katrin Weber-Klüver vom Deutschlandfunk Kultur auch darüber echauffieren, dass wir „Haltungsweltmeister“ seien und jenen, die von Boykott reden, Heuchelei unterstellen, weil sie am Ende doch einschalteten, irgendwas Krudes zu Norwegen formulieren und überhaupt unausgereift ranten. Sicherlich gibt es jene, die sich für das hohle Wort „Haltung“ feiern lassen und schneller einknicken, als ein Tor in Madrid am 1. April 1998. 

Obszön die Realität verkannt

Dies aber nahezu allen zu unterstellen ist so absurd, wie es den Ernst, der für viele hinter der kritischen Auseinandersetzung steht, vollkommen verkennt. Wo wir aber schon beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind: Bekanntlich übertragen im frei empfangbaren Fernsehen ARD/Das Erste und ZDF die Spiele. Beide Sender haben im Vorfeld auch kaum mit kritischen Dokumentationen und Reportagen gespart, quasi eine Art ritueller Waschung. 

Thomas Hitzlsperger (re.) mit DFB-Kapitän Manuel Neuer (li.) // © SWR/NGLOW / Nick Golüke

Heraus stachen dabei eine übermäßig gefühlige ARD-Dokumentation namens Katar, warum nur?, die teil-selbstverliebtes Betroffenheitsfernsehen veranstaltet und in der leidende Hinterbliebene von toten Katar-Arbeitern in Nepal obszöner ausgestellt werden, als jeder peinliche RTL-Spendenmarathon zu Beginn der Nullerjahre es sich je getraut hätte. Thomas Hitzlsperger ist das Gesicht des Films von Nick Golüke und Robert Grantner und neben dem einen oder anderen interessanten Einblick bleibt vor allem eine hohle Reportage mit wenig Gehalt, dafür voller Phrasen, die so dreist wie unnötig ist (hier passt „Haltungsweltmeister“ dann doch irgendwie). Empfehlenswerter ist da die hart aber fair-Sendung, die sich der TV-Ausstrahlung anschloss und in der Thomas Hitzlsperger ebenfalls zu Gast ist (wenn das Ende der Diskussion für die Verabschiedung Frank Plasbergs auch arg abrupt kam).

Wir sind halt alle krank

Julia Friedrichs und Jochen Breyer waren für das ZDF in Katar und der Ausschnitt, in welchem der katarische WM-Botschafter Khalid Salman meint, dass Schwulsein Haram, also eine Sünde, und eine geistige Krankheit sei, ist inzwischen viral gegangen. Auch über diesen Ausschnitt hinaus, sei die Dokumentation ZDFzeit: Geheimsache Katar empfohlen, denn Friedrichs und Breyer gehen durchaus dorthin, wo es wehtut und im Gegensatz zu Hitzlsperger, der mit Manuel Neuer und İlkay Gündoğan (wir erinnern uns an ein gemeinsames Foto mit Mesut Özil und Recep Tayyip Erdoğan) gemütlich an der „Wir gucken einfach mal“-Oberfläche verharrt (dass Hitzlsperger diese Zurückhaltung kürzlich in der ZEIT kritisierte, wirkt beinahe anachronistisch-ironisch), kommt Breyer mit Leon Goretzka zu ein paar greifbareren Aussagen.

Journalist und Sportmoderator Jochen Breyer auf Reportagereise in Katar; hier im Gespräch mit WM-Botschafter Khalid Salman // Foto: © ZDF/Mateusz Smolka

In diesem Zusammenhang sieht man mit dem Zweiten also tatsächlich besser. Bei der Fülle an Film- und Audiosendungen sowie Büchern zu Katar, der WM-Vergabe und Korruption bei FIFA und Co. ließe sich also bequem die Zeit füllen, in der mensch sonst Spiele schauen würde. Schließlich setzt nach der heutigen Tatort-Ausstrahlung gar für zwei Wochen das vertraute Sonntagskrimi-Format mit neuen Folgen aus…

Boykott Deluxe Edition?

…das, wie geneigte Leser*innen wissen, wir bis auf wenige Ausnahmen seit geraumer Zeit sonntäglich besprechen. Nun stellten wir uns die Frage, inwieweit wir denn diese die erschlichene und durch Bestechung in ein fußballfremdes und menschenrechtsfeindliches Land gekickte Weltmeisterschaft übertragenden Sender boykottieren wollen – zumindest während der Laufzeit der WM.

Mit anderen Worten: Streichen wir für ein paar Wochen Rezensionen und Ähnliches zu Sendungen von ARD und ZDF? Gelten dann alle für die ARD produzierten Formate, was im Grunde also jeden so genannten dritten Sender beinhalten würde, als No-Go? ZDF – nichts mehr von ZDFneo und Co.? Denn, und das fehlt in diesen kritischen Reportagen: Sender, die Ausstrahlungsrechte einkaufen, viel Geld für Berichterstattung ausgeben, vor Ort noch mehr Geld ins Land schaffen, die gehören eben genauso dazu wie alle anderen. Sie finanzieren diese Geschichte mit und ein „Wenn wir’s nicht machen, machen’s andere“ ist dünn. Achso – und wie solide die ÖRR-Sender selber daran verdienen, durch nicht nur dezent goldschimmernde Werbedeals, sollte an sich für mehr als nur ein Näschenrümpfen sorgen. 

Heucheln statt hecheln?

Was also tun? Der Umgang der öffentlich-rechtlichen Sender mit diesem Thema treibt uns um, er stößt uns sauer auf, wir finden ihn unschön und um mal sowohl mit Thomas Hitzlsperger als auch Jochen Breyer zu sprechen: lässt uns mit gemischten Gefühlen zurück. Nun befindet sich der ÖRR so wie es aussieht ohnehin mal wieder in einer Umbruchphase (jaja, wir wissen, dass das immer mal so aussieht und dann so sehr im Nichts verpufft wie ein Furz im klimatisierten Dienstwagen mit Massagefunktion) und womöglich, wer weiß, lassen kritische Beobachter*innen und auch manch beteiligte Person dieses Mal nicht so schnell locker.

Vielleicht schafft mensch es ja, die Sender an ihrem vermeintlichen Anspruch zu messen und vor allem an dem Bild, das sie selber gern über Reinwaschungsreportagen von sich zu vermitteln wünschen. In diesem Sinne werden wir auch während der WM weiter über Formate von ARD und ZDF schreiben. Wir, wie viele andere, haben allerdings auch Fragen und werden diese stellen. Noch jedenfalls wollen wir nicht laut „Heuchler!“ rufen. 

AS

PS: Bei RTL+ gibt es übrigens seit wenigen Tagen die erweiterte Fassung der Reportage Rote Karte statt Regenbogen – Homosexuelle in Katar von Jonas Gerdes und Timo Latsch, in der es tatsächlich auch um queere Menschen in Katar und nicht nur queere Besucher*innen aus der westlichen Welt geht. Dazu lest ihr in den kommenden Tagen einen separaten Beitrag. 

PPS: Ein Blick auf arte lohnt sich übrigens immer. Unter anderem ist dort auch die Selenskyj-Serie Diener des Volkes verfügbar, die wir hier besprochen haben.

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