Im Sturzflug

Kriegsberichterstattung ist wohl eines der spannendsten, aber auch gefährlichsten Unterfangen, denen Journalistinnen und Journalisten ausgesetzt sind. In Tschetschenien beispielsweise gelten bis heute journalistische Tätigkeiten wie die der ermordeten Anna Politkowskaja als extrem schwierig und sind dennoch die wichtigste Quelle für Öffentlichkeit und Forschung zum Konflikt, der seit dem Ende der Sowjetunion für Terror in der russischen Teilrepublik sorgt.

Auch im Krieg in der Ukraine sehen wir uns in vielerlei Hinsicht mit einem Informationsdefizit konfrontiert. Ja, wir bekommen die Informationen, die uns mutige Männer und Frauen aus Kiew und dem Teil des Landes liefern, der seitens der Ukraine gehalten wird. Aber wir wissen wenig darüber, was in den russisch kontrollierten Gebieten passiert – was auch einer massiven Zensur des Kreml zu verdanken ist.

Ein Mann berichtet von der Front

Dem wirkt eine Veröffentlichung entgegen, die laut ihres Urhebers Pawel Filatjew in russischer Sprache im Internet frei zugänglich ist. Auf Deutsch ist sein Buch unter dem fast zu boulevardesken Titel ZOV – Der verbotene Bericht – Ein russischer Fallschirmjäger packt aus in der Übersetzung von Maria Rajer bei Hoffmann und Campe erschienen.

Filatjew berichtet von der russischen Seite der Front, selbst wenn er zumeist „nur“ den Kämpfen nah und nicht direkt in diese verwickelt gewesen zu sein scheint. Gemeinsam mit seiner Einheit ist er im Februar 2022 auf Befehl seiner Vorgesetzten in den Süden der Ukraine einmarschiert und half unter anderem bei der zwischenzeitlichen Eroberung von Cherson. Nach zwei Monaten wurde er wegen einer Hornhautentzündung aus der Ukraine abgezogen, ließ sich kurz in Russland (oder auf der Krim) behandeln und floh anschließend nach Frankreich, wo er heute offenbar Asylstatus genießt.

Ein kommentiertes Tagebuch

ZOV lässt sich prinzipiell in drei Teile gliedern: Erstens ist das eine Art Tagebuch, das am 24. Februar 2022 mit dem bevorstehenden Einmarsch in die Ukraine beginnt und vor allem die kommenden ersten beiden Kriegswochen aus Filatjews Sicht schildert. Die ersten unkoordinierten Vorstöße, die Belagerung und Einnahme von Cherson, die darauffolgende Operation in Nikolajew. Teil zwei ist eine gewisse Rahmenhandlung, in der wir den Autoren kennenlernen, seine Einschätzungen zum Krieg und zur russischen Armee, ihrer Verfasstheit und vor allem ihrer Schwächen.

Diese beiden Teile wechseln sich im Lauf des Buches ab, sodass wir wie in einem Film mit Rück- und Einblenden den einen Pawel Filatjew in der Ukraine verfolgen und ein zweiter Filatjew dies zwischendurch immer wieder aus dem Off kommentiert und einordnet – auch in Bezug auf seine Person und seine Einschätzung der russischen Armee. Die Netflix-Serie Inventing Anna (unsere Besprechung folgt) fährt ein ähnliches und in der Tat einigermaßen anschauliches Konzept.

Der dritte Abschnitt ist im Wesentlichen eine Fortführung der Rahmenbetrachtung. Allerdings ist diese deutlich länger als die vorhergehenden Abschnitte und anders als zuvor enthalten sie in wesentlichen Teilen auch eine Art Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und Appelle des Autoren. Dies umfasst beispielsweise die Ursachen, warum der russische Vormarsch verhältnismäßig erfolglos und mit hohem Blutzoll verbunden war und ist und welche Lehren aus dem Krieg und dem Agieren aller beteiligten Akteure gezogen werden sollten.

„Spezialoperation“ vs. „Blitzkrieg“

Zuallererst muss an dieser Stelle der Mut gelobt werden, den Pawel Filatjew mit dem Abfassen und Veröffentlichen dieses Berichts bewiesen hat. Von den russischen Behörden dürfte er nun bis an sein Lebensende (oder an das des Regimes im Kreml) gejagt werden, denn er hat in der Tat eine Reihe an Mängeln in der russischen Armee aufgedeckt. Den westlichen Militärgeheimdiensten dürften diese zwar (hoffentlich) bereits lange bekannt sein, aber dennoch ist es wichtig, diese immer wieder an die Öffentlichkeit zu bringen.

So beklagt er unter Rückgriff auf seine eigenen Erfahrungen den Mangel an Ausrüstung und Ausbildung für die Truppe (5 000 Helme hätten der russischen Armee vermutlich tatsächlich geholfen), eine militärische Mangelwirtschaft und grassierende Korruption und Inkompetenz vieler verantwortlicher Offiziere. Auch eine Strategie oder eine koordinierte Absprache, wie die Ukraine nun einzunehmen sei, habe es offenbar anfangs nicht gegeben oder wenn doch, dann wurde sie schlecht an die Soldaten (er schreibt nur von Männern) kommuniziert. In diesem Sinne dürfte der Einmarsch von Putins Armee wohl tatsächlich eher einer spontanen „Spezialoperation“ geglichen haben, als einem koordinierten „Blitzkrieg“.

Ein Erfahrungsbericht

Trotz des hohen Informationsgehalts und öffentlichen Mehrwerts – das Buch ist auf jeden Fall überaus lesenswert – gibt es aber auch ein paar Dinge, die an dieser Zusammenstellung zu kritisieren sind. Erstens handelt es sich tatsächlich nur um einen persönlichen Erfahrungsbericht. Die Bezeichnung „kommentiertes Tagebuch“ passt hier wohl besser als „Bericht“, denn a) sind es tatsächlich quasi Tagebucheinträge, die uns Filatjew präsentiert und b) basieren sie ausschließlich auf eigenen Erfahrungen.

Diese können (nachvollziehbarerweise – siehe oben) nicht von unabhängigen Stellen oder Journalistinnen und Journalisten überprüft werden. Ohne ihm hier eine irreführende Absicht unterstellen zu wollen, aber wir wissen nicht, welche Details, Gedanken oder sonstige Randaspekte Filatjew weggelassen oder für nicht berichtenswert erachtet hat. Das ist die Maßgabe, unter der dieser Erfahrungsbericht gelesen werden sollte.

Nicht jede/r ist ein Toni Hofreiter

Zweitens ist es doch manchmal schwierig, ihm zu folgen. An einer Stelle beispielsweise zählt er verschiedene abgekürzte Waffenkategorien auf („NSW, AGS, RPG-z, Panzerabwehrlenkwaffen, MGs vom Typ ‚Petscheneg‘ und AK-74-M mit Granatwerfer“), ohne jedoch zu erläutern, worum es sich dabei handelt. Seine anschließende Äußerung, warum bei der aus dieser Auswahl zugeteilten Waffen ein sinnvoller Kampf nur bedingt möglich war, ist für militärische Laien kaum nachvollziehbar, denn leider erklärt er an keiner Stelle, was NSW, AGS und Co. auszeichnet, um welche Waffen es sich handelt und wofür sie nützlich sind. Bei verschiedenen eingesetzten Fahrzeugtypen wiederholt sich dieses Muster.

Nun wissen mittlerweile inklusive Anton Hofreiter (fast) alle, was einen Leopard-2 auszeichnet und dass ein Marder offenbar kein Kampfpanzer ist (oder, Christine Lambrecht? Ach ja, Helme spielen übrigens an einer Stelle ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle). Aber bei den russischen bzw. sowjetischen Waffen sind Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller leider wenig gebildet – warum auch? Hier hätten der Autor oder vielleicht auch der Verlag bzw. die Übersetzerin ein wenig Klarheit schaffen und diese Kategorien im Text oder einem Glossar erläutern können und sollen. So nehmen wir das einfach zur Kenntnis, aber haben nicht immer einen Gewinn an Erkenntnis.

Etwas zu wenig Distanz

Ein letzter Punkt: Filatjew verurteilt an mehreren Stellen den Krieg und Russlands Agieren – und das scheint auch sehr glaubwürdig. Er sagt ferner, dass auch die Annexion der Krim sowie der „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk (übrigens nicht in Anführungszeichen gesetzt) nicht gerechtfertigt gewesen sei. Das stimmt, aber dennoch scheint seine Distanzierung nicht so vorbehaltlos, wie sie sein könnte (und müsste).

Hier schwingt leider doch ein wenig das so häufig propagierte Prinzip „Die Krim war immer russisch“ mit. Das mag in der Tat ein wenig an seiner Sozialisation und der permanenten Propaganda seitens der vom russischen Staat gelenkten Medien liegen, aber dennoch wäre hier ein wenig mehr Schärfe und Klarheit in den Details hilfreich und wünschenswert gewesen.

Schluss mit Harakiri

All das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pawel Filatjew mit ZOV – Der verbotene Bericht ein sehr eindrucksvolles Buch verfasst und in mindestens 15 Ländern außerhalb Russlands veröffentlicht hat. Es gibt uns die Einschätzung eines Soldaten, der weit vorne in diesem völkerrechtswidrigen Krieg gekämpft, der aber seinen Verstand eingeschaltet hat und sich entschloss, bei diesem Harakiri nicht mehr mitzumachen.

ZOV ist damit ein Buch, das trotz seiner kleinen Unzulänglichkeiten eine große Verbreitung finden sollte. Russlands Armee hat ihre Schwachstellen, an denen die Ukraine und ihre Verbündeten ansetzen können und Pawel Filatjew legt diese recht schonungslos offen. Und er zeigt, dass gerade in Russland und an der Front in der Ukraine an der Legitimität dieses Krieges gezweifelt wird. Was jedoch nicht zu dem falschen Schluss führen darf, dass durch „mehr reden“ der Krieg automatisch beendet werden könne, denn solange kein Umdenken im Kreml stattfindet, wird alles Reden wenig helfen.

HMS

PS: Ich habe ZOV bereits im Januar 2023 gelesen, im Februar diesen Text verfasst. Im März wurde schließlich bekannt, dass Pawel Filatjew während seines Einsatzes in der Ukraine Menschen gefangen genommen haben soll, die anschließend getötet wurden. Er selbst soll jedoch an diesen Exekutionen nicht beteiligt gewesen sein.

Auch wenn das nur zu einem gewissen Grad überraschen dürfte, haben wir bei the little queer review dennoch lange gehadert, ob wir ZOV mit unserem Text zusätzliche Öffentlichkeit geben wollen. Wir haben uns nun für eine Veröffentlichung entschieden – auch und gerade in der Woche der Meinungsfreiheit. Wir trauen unseren Leserinnen und Lesern zu, selbst zu entscheiden, ob sie nach Lektüre dieses Textes und in Kenntnis der Anschuldigungen gegen den Autoren ZOV lesen möchten oder nicht. Trotz aller Vorwürfe gegen Pawel Filatjew ist es gerade angesichts der jüngsten Entwicklungen – dem angeblich geplanten Attentat auf Wladimir Putin und die Drohne, die vergangene Woche über dem Kreml abgeschossen worden sein soll – sinnvoll und nötig, über Berichte von der Front zu verfügen.

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Pawel Filatjew: ZOV – Der verbotene Bericht. Ein russischer Fallschirmjäger packt aus; Dezember 2022; Aus dem Russischen von Maria Rajer; 192 Seiten; Hardcover, gebunden; ISBN 978-3-455-01614-7; Hoffmann und Campe; 23,00 €

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