Unvergessliche Touren auf vergessenen Pfaden

Anfang und noch einmal erneut Ende August 2020 wurde der Chiemgau ganz im Süden Deutschlands von starken Regenfällen und Hochwasser heimgesucht. Während in der Bibel noch Archen gegen das Wasser gebaut werden mussten, gibt es im Chiemgau stattdessen Berge, auf die man sich im schlimmsten Fall hätte flüchten können. In der Regel sind die Berge aber eher ein Schönwetterausflugsziel und für diese Aktivität hat Michael Kleemann den Band Chiemgauer Alpen – 40 außergewöhnliche Touren abseits des Trubels in der Reihe Vergessene Pfade des Bruckmann-Verlags zusammengestellt.

Abstand halten auf 40 Pfaden

Das Buch ist für Wanderfans nicht nur in Coronazeiten wie gemacht. Wenn ohnehin Abstand gerade die beste Möglichkeit ist, sich und uns alle vor dem Virus zu schützen, dann ist das Begehen vergessener Pfade dazu wohl das ideale Mittel. Dadurch dass sie vergessen sind, sind sie oft wenig frequentiert und Abstand halten ist sogar zum/zur Wanderpartner/in ein Leichtes.

Allein der Blick auf die Bank der Dandlberg-Tour lädt zum Verweilen ein // © Michael Kleemann/Bruckmann Verlag

Kleemann beschreibt eine Auswahl von 40 Routen zwischen den Berchtesgadener Alpen im Osten sowie dem Mangfallgebirge im Westen und dringt sogar in das malerische Tiroler Kaisergebirge vor. Seine Definition des Chiemgaus ist damit ziemlich breit, denn Schönau am Königssee oder Hausham am westlichen Ende sind kaum dem Chiemgau zuzurechnen. Zumindest die Einheimische sehen das gerne mal anders. Der eigentliche Chiemgau wird aber dennoch durch etwa 30 Routen abgedeckt, also ist das schon ok.

Die Einleitung gibt den Pfad vor: gute Ausrüstung, Kondition und vor allem Respekt vor der Natur

Ein Steinmännchen markiert den Aufstieg zur Hochscharte // © Michael Kleemann/Bruckmann Verlag

Darüber hinaus gibt es eine ausführliche Einleitung zu den vergessenen Pfaden, den persönlichen Anforderungen und der erforderlichen Ausrüstung. Die letzten ein bis zwei Punkte sind dabei besonders wichtig, denn verlorene Pfade bieten ihre besonderen Schwierigkeiten, mit denen man umgehen können muss. Der Abschnitt dazu, warum Pfade vergessen werden und ob und wie sie eine Zukunft haben können, ist sehr nachvollziehbar und gibt einen anregenden Einblick in die Entstehung, Verwilderung und Erosion alpiner Wanderpfade und an ihnen aufgestellte Steinmännchen.

Der Autor geht vorsorglich auf möglicherweise zu erwartende Kritik ein, dass dadurch letzte Ecken der Ruhe in den Alpen für Otto Normalverbraucher erschlossen werden (S. 11/12). Und in der Tat hat kürzlich der Fall des Königssee-Wasserfalls in Berchtesgaden – also genau in der weiter von Kleemann definierten Region „Chiemgauer Alpen“ – Schlagzeilen gemacht. Der natürliche Pool hoch oben mit malerischem Blick auf den Königssee wurde auf Instagram so stark beworben, dass zu viele Touristinnen und Touristen kamen und die umgebende Natur achtlos verwüsteten. Ein solcher Fall von Overtourism setzt unserer Natur sehr zu und sollte auf jeden Fall unterbunden werden. Der die Einleitung abschließende Absatz zum Naturschutz (S. 15) ist daher Pflichtlektüre!

Vergessene Pfade, aber wenig vergessene Infos

Aber nun zu den Pfaden selbst: Kleemann hat sich viele sehr schöne und oft auch herausfordernde Pfade herausgesucht. Manche davon sind tatsächlich eher unbekannt, andere aber zumindest bei Einheimischen schon länger keine Geheimtipps mehr. Gleich die erste Wanderung zum Schneibstein bei Schönau, bzw. Berchtesgaden, ist nicht unbekannt, aber deshalb nicht weniger herausfordernd, pittoresk oder anstrengend, aber aller Mühe wert. Auch die Wege zur Hörndlwand (Tour 10) oder der Hochscharte (Tour 11) sind bei vielen Einheimischen bekannt und beliebt. Andere, wie der Richtstrichkopf (Tour 9) oder die Rudersburg (Tour 28) sind tatsächlich nur wenig begangen und bieten viele Möglichkeiten zum Abstand halten und gewinnen.

Im Vordergrund die Hochscharte – ebenfalls im Buch und von der Verwandtschaft erkundet // © the little queer review

Die Kapitel zu den Touren sind dabei jeweils ca. zwei bis vier Seiten lang, was für einen solchen Wanderführer angemessen ist. Im Fließtext gibt es meist erst generelle Informationen zum jeweiligen Berg oder Ziel und anschließend eine Beschreibung der jeweiligen Wege. Auch auf markante Stellen und Weggabelungen wird in der Regel gut hingewiesen, auch wenn an manchen Stellen durchaus noch mehr Infos und Details hilfreich wären. Auf jeden Fall sind eine aufmerksame Vorablektüre und ebenso viel Aufmerksamkeit beim Auf- und Abstieg erforderlich, um sich nicht zu verlaufen, wenn man keinen einheimischen Führer dabei hat, der oder die die Route kennt.

Die bei jeder Tour auch beigefügten Routenkarten veranschaulichen die Wege immens, auch wenn  Kleemann hin und wieder noch deutlicher auf besonders schwierige Stellen hinweisen sollte, z. B. Schotterfelder. Vieles kann man aber dennoch in der schönen und anschaulichen Bebilderung mit Gipfeln, Panoramen, Almen erkennen – manchmal auch die „Autorenfrau“ Margit Kleemann. Aber, genau wie auf der Arche, ist man auch beim Wandern ja oft sinnvollerweise als Pärchen unterwegs 😉👫

Kräftezehrender, aber lohnender Aufstieg auf die Kampenwand // © Michael Kleemann/Bruckmann Verlag

Wie in jedem guten Wanderführer sind auch wesentliche Informationen für Wanderwillige enthalten: Schwierigkeitsgrad, Höhenmeter, Dauer (auch in Teilabschnitten), An- und Abreisemöglichkeiten, Einkehrmöglichkeiten und die Info zum jeweiligen Ausschnitt der Alpenvereinskarte sind in einer kleinen und übersichtlichen Box zu Beginn jeder Tour vermerkt. Auch GPS-Daten sind zum Download verfügbar – ein großes Plus für alle, die über entsprechende Geräte verfügen.

Ein empfehlenswertes Buch vor allem für Einheimische und alpin Trittsichere

Alles in allem ist Kleemanns Buch somit ein empfehlenswerter Wanderführer für jene, die einerseits alpin erfahren sind und andererseits auch einmal neue Pfade erkunden wollen. Ausgeprägte alpine Fertigkeiten und Trittsicherheit sind aber dafür auf jeden Fall von Nöten. Ottilie Normalverbraucherin aus Bottrop, die ein oder zwei Wochen Wanderurlaub in den Bergen verbringen will, ist auf jeden Fall mit einem Einsteigerbuch besser beraten, wohingegen ein queeres Pärchen aus München, das regelmäßig Wochenendausflüge in die Berge macht durchaus Gefallen an dem Buch finden könnte. Für die sportlich aktiven Einheimischen aus der Gegend ist es auf jeden Fall ein lohnenswertes Buch, das schöne Touren für einen halben oder einen ganzen Tag oder teils auch den frühen Feierabend auf neuen oder vielmehr alten, teils neu zu entdeckenden, Pfaden bereithält.

Kleemann, Michael: Chiemgauer Alpen – 40 außergewöhnliche Touren abseits des Trubels in der Reihe Vergessene Pfade; 1. Auflage, Juni 2020; Klappenbroschur mit Fadenheftung, 160 Seiten, ca. 200 Abbildungen; ISBN: 978-3-73431-329-5; Bruckmann Verlag; 19,99 €

HMS

PS.: Wenn’s es g’schafft habt’s, dann kinnt’s eich no an Fettnäpfchenführer Bayern durchlesn oder a Maß voguna.

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