Chiemgauer Schmankerl

Die Insel Sylt zitterte bekanntermaßen vor dem Neun-Euro-Ticket (für jene die sich nicht erinnern: das war so ein Sommer-High), das „den Pöbel“ ganz in den Norden bringen sollte. Dabei ist die Nordseeinsel vielleicht eine der schönsten, aber lange nicht die einzig schöne Gegend in Deutschland.

Bilderbuchlandschaft im Süden

Buchstäblich am anderen Ende der Republik in Südostoberbayern liegt der Chiemgau, eine der wohl ebenfalls schönsten Gegenden Deutschlands mit malerischen Seen, weiten Feldern und hoch aufragenden Bergen. Und der Chiemgau hat auch kulinarisch einiges zu bieten. Was genau, das stellen die Autorin Hannelore Fisgus und der Fotograf Ingolf Hatz in Das Chiemgau Kochbuch – Die junge Küche rund um das bayerische Meer – Gerichte. Porträts. Geschichten. vor, das im 9-Euro-TicketSommer im Christian Verlag erschienen ist.

Der Samerberg wird hier als Eingangstor zum Chiemgau gesehen – viele Einheimische würden da wohl nicht unbedingt zustimmen // © Ingolf Hatz/Christian Verlag

Von der Autobahn A 8 und der Bahntrasse München – Salzburg (überwiegend Regionalbahn, also bald-49-euro-ticket-geeignet) durchzogen beeindruckt der Chiemgau durch vieles, aber trotz manch überregional bekannter Gastwirtschaft, gehört die Kulinarik bisher nicht zu den ersten Vorzügen, die mensch mit dem Chiemgau assoziiert. Und doch haben Fisgus und Hatz eine Reihe von Restaurants und Wirtschaften samt Köchinnen und Köchen, Inhaberinnen und Inhabern aufgespürt, die sie uns hier präsentieren. Manchmal ist ihre Definition des Chiemgau allerdings sehr weit – Neubeuern und Samerberg würden die meisten Einheimischen beispielsweise recht eindeutig dem Inntal zuordnen, Fridolfing und Waging dem Rupertiwinkel.

Zwischen Inn und Salzach

In neun Kapiteln porträtieren Fisgus und Hatz 38 Lokale zwischen Inn und Salzach, die von traditioneller Hausmannskost bis zur modernen Fusion Kitchen so manches Gericht kredenzen, das wir mal mehr, mal weniger in dieser Gegend vermuten würden. Von der Almwirtschaft, über den Fischfang am Chiemsee, dörfliche Landküche oder Frisches von Berg und Boot sind viele verschiedene Perspektiven der Küche in einer ebenso diversen Gegend dabei. (Nur Insektenküche hat es noch nicht ins Buch geschafft.)

Wildpflanzerl aus dem Traditionsgasthaus Adlgaß in Inzell // © Ingolf Hatz/Christian Verlag

Manche davon sind traditionelle Gaststuben mit noch traditionelleren Gerichten. Der Kaiserschmarrn von Scarlet Haßlberger auf der Dandlalm in Röthelmoos ist beispielsweise in der Region bekannt und in der Tat einer der besten, die es geben dürfte (und dank des gut beschriebenen Rezepts, lässt er sich gar halb so gut selbst machen). Auch das Marzipan von der Fraueninsel ist kein Geheimtipp und Kloster Baumburg mit dem angeschlossenen Bräustüberl ist ebenfalls eine lokale Institution.

Gesichter und Geschichten hinter den Gerichten

Es sind aber nicht nur die alteingesessenen Platzhirsche – zumeist die größeren Brauereien –, die wir kennenlernen. Auch und gerade sehr viele junge Gesichter und Geschichten hinter den Gerichten begegnen wirund mit ihnen einer Reihe von jungen, ambitionierten Gastrobetreiberinnen und -betreiber, die das Traditionelle der (vor-)alpenländischen Küche mit neuen Elementen kombinieren, die sie in der Ausbildung oder beim Studium in renommierten Einrichtungen kennengelernt haben.

Klassische Brotzeit auf der Rachlalm // © Ingolf Hatz/Christian Verlag

Die wenigsten würden beispielsweise asiatische Einflüsse gepaart mit Renken aus dem Chiemsee verbinden. Oder portugiesische Einsprengsel gepaart mit alpenländischer Tradition. Alte Getreidesorten werden für kreative Rezepte genutzt oder Techniken wie das Fermentieren neu entdeckt. Die ein bis zwei Rezepte, die wir dabei pro Lokal präsentiert bekommen – von kühler Rote-Bete-Suppe und gegrillten Karotten mit Labneh über traditionellen Schweinebraten und Fischpflanzerl oder Risotto mit Bergkäse und Rauke bis hin zum Eierlikör-Gugelhupf oder Käsekuchen mit Heidelbeeren – bieten dabei eine Vielfalt, die viele nicht originär im Chiemgau verorten würden. Kreative Fusionsküche, die doch zumeist bodenständig bleibt. 

Viele der Gerichte werden sorgfältig vorbereitet und arrangiert – was auch immer wir hier sehen (siehe übernächsten Absatz) // © Ingolf Hatz/Christian Verlag

Manche der Köchinnen und Köche setzen dabei ausschließlich auf regionale Produkte, andere wollen bewusst die Geschmäcker und Farben der Welt in den Chiemgau und ihre in Wohlfühlambiente gestalteten Gaststätten holen. Was dabei den meisten gemein ist, ist dass sie auf Qualität und Nachhaltigkeit achten, „Slow Food“ ist das (auch in Das Chiemgau Kochbuch) viel bemühte Schlagwort. Nicht alle der präsentierten Rezepte dürften sich einfach nachkochen lassen, nicht alle Zutaten dürften im Chiemgau oder auch manch urbaner Gegend leicht zu finden sein, aber allein die Vielfalt der Rezepte und der aufwändig inszenierten Fotografien in dem Band von Fisgus und Hatz ist beeindruckend.

Werbung für den Chiemgau

Und doch gibt es zwei kleinere Wermutstropfen (womit nicht die beiden Kapitel zum Kymsee-Whisky und Mondino-Bitter gemeint sind): Einerseits sind die Bilder von Ingolf Hatz zwar sehr eindrücklich und viele von ihnen selbsterklärend – andere sind letzteres allerdings nicht. Die ein bis zwei Seiten Text und Erläuterung von Hannelore Fisgus pro Gaststätte sind meist sehr detail- und aufschlussreich und aus ihnen erschließt sich häufig, welche Bilder wir hier sehen. Manchmal ist es aber nicht so eindeutig und hier würden Bildunterschriften doch ein wenig helfen.

Nicht jeder Tropfen ist so wohltuend wie dieser Saft (oder Most?) aus Übersee // © Ingolf Hatz/Christian Verlag

Und zweitens: An manchen Stellen liest sich Das Chiemgau Kochbuch trotz der schlüssigen Texte und guten Rezepte ein wenig wie eine Werbebroschüre (auch wenn die zwar hübschen und aufwändigen Fotos dafür nicht die nötige Auflösung besitzen) – was dadurch ein wenig verstärkt wird, dass der Chiemgau Tourismus e. V. die Erstellung des Buchs offenbar auch unterstützt hat (was allerdings am Ende auch transparent gemacht wird und ohne die es diesen Band womöglich gar nicht gäbe).

Nichtsdestoweniger haben Hannelore Fisgus und Ingolf Hatz eine sehr schöne und eindrückliche Sammlung an Restaurants in und Rezepten aus dem Chiemgau zusammengestellt. Die Rezepte reichen von leicht nachkochbar bis schwer und ausgefallen, aber dennoch inspirierend. In mehr oder weniger jedem der von ihnen vorgestellten Restaurants würde mensch zu Gast sein wollen, selbst wenn sich nicht alle ausschließlich mit dem nun wohl kommenden 49-Euro-Ticket erreichen lassen dürften.

HMS

PS: Das Chiemgau-Kochbuch war 2022 in der Kategorie „Deutschland“ für den Deutschen Kochbuchpreis nominiert.

Hannelore Fisgus, Ingolf Hatz: Das Chiemgau-Kochbuch. Die junge Küche rund um das bayerische Meer. Gerichte, Porträts, Geschichten.; 1. Auflage, Juni 2022; Hardcover; 224 Seiten, ca. 110 Abbildungen; Format: 19,3 x 26,1 cm; Christian Verlag; ISBN: 978-3-959-61637-9; 29,99 €

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