Ich hab noch einen Schandfleck in Berlin

Das Beitragsbild zeigt links das Buchcover mit den Beelitzer Heilstätten und daneben eine Fotografie vom VEB Chemiewerk Rüdersdorf // Foto: © Corinna Urbach/Christine Volpert

Wenn seit einiger Zeit viele neue Abgeordnete regelmäßig in Berlin sind, sehen sie vermutlich primär die ordentlichen, aufgeräumten, aufgemöbelten Teile der Hauptstadt rund um den Reichstag und das Brandenburger Tor. Berlin ist aber weit mehr als das: „Arm, aber sexy“ hieß das früher mal.

Vor allem gibt es auch weit mehr Ruinen, abgesperrte Gebäude, verlassene Orte und brachliegende Flächen als in vielen anderen Städten Deutschlands. Diese Lost & Dark Places zu erkunden machen sich Corinna Urbach und Christine Volpert auf und haben hierzu ein gleichnamiges Buch im Bruckmann-Verlag veröffentlicht.

33 vergessene Orte in und um Berlin

Mit dem Untertitel 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte ist bereits vieles über den Inhalt dieses etwas anderen Stadtführers gesagt. In ebenso vielen Kapiteln à vier bis sechs Seiten erkunden die beiden Autorinnen das verlassene, das verfallene Berlin über die gesamte Stadt hinweg und teils auch darüber hinaus. Einleitend gibt es außerdem ein paar Worte zur Motivation, solche Orte zu besuchen sowie einige sinnvolle und beachtenswerte Verhaltensregeln an Lost Places.

Teufelsberg // Foto: © Jochen Teufel

Im Kapitel „Industrie“ beispielsweise werden alte Brachen vorgestellt, die das Stadtbild noch heute „schmücken“ wie die alte Siemensbahn in Charlottenburg/Spandau. Hinterlassenschaften der Nationalsozialisten – primär allerdings vor den Toren der Stadt – gibt es im Kapitel „Zweiter Weltkrieg“. Aus naheliegenden Gründen liegen die verlassenen Bauten des Kapitels „DDR“ primär im alten Ostteil der Stadt. Im Kapitel „Besondere Orte“ finden sich ganz spezielle Lost Places, unter anderem ein verlassenes Schiff auf der Spree in Friedrichshain oder die beispielsweise aus der jüngsten Folge Die Diplomatin bekannte US-Abhörstation auf dem Teufelsberg.

Interessante Orte mit bewegter Geschichte

Die Kapitel sind dabei meist ähnlich strukturiert. Neben zahlreichen Bildern, die direkt einen guten Eindruck von der Örtlichkeit geben, gibt es stets Anfahrtshinweise (zumeist mit ÖPNV oder Fahrrad sowie GPS-Koordinaten – praktisch vor allem für diejenigen, die Christine Volpert auch auf ihrem Blog unterwegsinberlin.de folgen) und eine kurze Einordnung des jeweiligen Orts, seiner meist sehr spannenden, teils skurrilen Geschichte – oft auch, wann und warum der Ort verlassen wurde. Abschließend gibt es stets „Das besondere Erlebnis“ einen kurzen Abschnitt, der praktische Hinweise gibt, etwa auf Besuchs- und Einkaufsmöglichkeiten in der Gegend. Fast alle Texte sind gespickt mit Trivia, Zusatzinfos oder auch so mancher Kuriosität, was den Stadtführer umso lesenswerter macht, ähnlich wie Michael Kleemanns Vergessene Pfade (der allerdings den für uns nicht gerade um die Ecke liegenden Chiemgau erkundet).

Verbotene Stadt in Wünsdorf // Foto: © Corinna Urbach/Christine Volpert

Sehr hervorragend ist vor allem, dass es auch manch eine verlassene Stätte im Umland gibt, die Urbach und Volpert zur Erkundung nahelegen. Die VEB Kraftfuttermischwerk in Fürstenberg/Havel oder die SS-Wohnsiedlung in Ravensbrück beispielsweise erlauben einen trotz der schwierigen Geschichte ansehnlichen Ausflug fast bis nach Mecklenburg-Vorpommern, die Beelitzer Heilstätten liegen da etwas näher an der Hauptstadt. Auch zum Erkunden des Berliner Umlands lädt Lost & Dark Places Berlin also auf jeden Fall ein.

Nur gucken, nicht anfassen!

Schade ist allerdings, dass man manche der Gebäude nicht aus der Nähe oder nur von außen besichtigen kann. Das alte, ausgebrannte Sporthotel in Hohenschönhausen oder das bereits erwähnte Gebäude des VEB Kraftfuttermischwerk beispielsweise liegen hinter Bauzäunen, ebenso die frühere irakische Botschaft in Pankow (letztere erinnert stark an den Bildband Zauber der Vergänglichkeit von Michael Kerrigan). Das hat natürlich seinen Sinn, sind diese Gebäude doch teils sehr marode und ein Betreten unter Umständen gefährlich. Manche haben inzwischen neue Besitzerinnen oder Besitzer und sollen „aufgewertet“ werden.

Sporthotel Hohenschönhausen // Foto: © Corinna Urbach/Christine Volpert

Auch wenn man also viele der Örtlichkeiten nur bedingt betreten kann – an einigen laufen vermutlich viele Berlinerinnen und Berliner tagtäglich vorbei, ohne wirklich Notiz von ihnen zu nehmen – gerade in diesen Fällen hilft Lost & Dark Places Berlin sehr gut, der oder dem einen oder anderen ein wenig die Augen zu öffnen. Gerade für Berlinerinnen und Berliner ist dieses Büchlein also ein sehr passender Begleiter und Ideengeber für kleine Erkundungstouren am Wochenende.

Eine Stadt mit Schandflecken und angelaufenen Perlen

In Berlin ist nicht alles hübsch und ordentlich, ganz im Gegenteil. Die Debatten haben sich aber oft gewaschen, vor allem, wenn es um die Nutzung des öffentlichen Raums geht. Da geht es um Autos, Pop-up-Fahrradwege oder um die Vergesellschaftung privaten Wohneigentums. Lost & Dark Places Berlin macht auf so manche Brachfläche aufmerksam, die vielleicht in die eine oder andere öffentliche Debatte einbezogen werden und diese in eine neue Richtung lenken könnte.

Siemensbahn // Foto: © Corinna Urbach/Christine Volpert

Klar, die neuen (und alten) Bundestagsabgeordneten befassen sich nicht mit der Stadtentwicklung in Berlin (das ebenfalls neu gewählte Abgeordnetenhaus sollte das allerdings, mal so als Vorschlag), aber so manche politische Debatte könnte anders verlaufen, würden solche Lost & Dark Places etwas mehr auf dem Radar der Planenden landen. Auch wenn es schade ist, wenn solche verlassenen Orte verschwinden – eine gewisse Magie üben sie ja nicht nur jetzt im Herbst aus – manche sind einfach Schandflecken in einer ansonsten alles andere als perfekt organisierten Stadt. Manche Orte dürften gerne mit etwas Leben neu erweckt werden.

Bis das soweit ist, können und sollten sie aber unter den Sicherheitsmaßgaben von Corinna Urbach und Christine Volpert besichtigt werden. Ihr Buch Lost & Dark Places Berlin stellt diese sehr gut zusammen und gibt gerade für einen kalten, grauen Herbsttag so manche passende Ausflugsempfehlung in und um Berlin. Nicht nur dem parlamentarischen Grauen lässt sich in vielen der von ihnen zusammengestellten Orte gut entfliehen, sondern auch manch tristem Alltag.

HMS

PS: Ende Januar 2022 ist übrigens die zweite Auflage des Buches erschienen und im Mai soll ein Folgeband erscheinen. Wir sind gespannt!

Corinna Urbach, Christine Volpert: Lost & Dark Places Berlin – 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte; 1. Auflage, März 2021; Klappenbroschur mit Fadenheftung; 160 Seiten; ca. 200 Abbildungen; Format: 16,5 x 23,5 cm; ISBN: 978-3-73431-932-7; Bruckmann; 22,99 €

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