„Gaygerton“ mit Wärme und Tiefgang

Von Maximilian Zwingel

„Bridgerton, but gay!“, so wurde Sonnenkönig, Pechrabe von Kai Spellmeier im Literaturgeschäft meines Vertrauens angepriesen. Ich, der immer auf der Suche nach queeren Geschichten ist, deren Protagonist*innen zu unserer Community gehören, war hooked. Repräsentation in Literatur, Film und anderen Medien ist immer schön! Besonders, wenn sie von queeren Autor*innen geboten wird. 

Picture it, London, 1816…!

Sonnenkönig, Pechrabe erzählt die Geschichte von Edward Arden, einem attraktiven, schwulen Sexworker, und Lord Frederick Francis Melville, dem nicht minder attraktiven Lord, der widerwillig nach den Regeln des Ton sein Leben verbringt. Edward steht ganz unten in der gesellschaftlichen Nahrungskette, ohne Titel, angesehenen Beruf oder Verwandtschaft. Und doch hat er seine Wahl-Familie in dem Schneider Samuel Hamilton, und der Sängerin Sally Savage gefunden, beide ebenfalls queer. Wo Samuel seine Sexualität anscheinend nicht auslebt, bändelt Sally ungeniert mit Amelia Raine an, deren Vater im Dienst der Krone steht. Für Edward gibt es nur das Hier und Jetzt. Jede Einladung und Gelegenheit zu einem Ball werden freudig wahrgenommen, denn jeder der anwesenden Herren könnte die nächste schlaflose Nacht und einen gefüllten Geldbeutel verheißen.

Frederick „Freddy“ Melville hingegen wird als ältester Sohn einer angesehenen Adelsfamilie von seiner Tante auf Bälle und zu einer Heirat gedrängt. Die Mutter verstorben, der Vater ein tyrannischer Griesgram, der sich auf den Familiensitz zurückzog und in London nicht mehr blicken ließ, und umringt von Geschwistern, sowie seinem Cousin Peniston Brock, manövriert Freddy pflichtbewusst, aber unzufrieden, durch Londons High Society von 1816.

Und so prallen diese zwei Männer auf einem Ball aufeinander. Einer fasziniert, der andere wutentbrannt. Der eine lernt sich selbst zu verstehen und zu akzeptieren, der andere ist/wähnt sich auf der ständigen Flucht vor sich selbst und der Nähe eines potenziellen Partners. Alles unter den wachsamen Augen des tratschfreudigen Ton. Jede Geste und jedes Wort könnten den sozialen Untergang bedeuten.

„Ein Wort der Warnung…“

Homosexualität war zwischen Männern im England von 1816 tabu und wurde mit allem zwischen Pranger und Hinrichtung bestraft. Und in diesem Punkt sticht das Buch bereits hervor und lässt den eingangs erwähnten Vergleich mit Bridgerton direkt hinter sich. Die ersten Worte, die Leser*innen sehen, gehören zu einer Inhaltswarnung. Vom uns noch unbekannten E. A. werden wir vor den kommenden Geschehnissen, die mit seiner Geschichte verbunden sind und die er uns ungeschönt erzählen wird, gewarnt. Es wird also keine Wohlfühl-Geschichte, an deren Ende ein Happy End steht. Das Verbot und die Strafbarkeit männlicher Homosexualität reichen bis weit ins Mittelalter zurück. Im Lauf der Geschichte war weibliche Homosexualität weniger im Fadenkreuz der christlich geprägten Gesetzgebung, da Frauen nachgesagt wurde kein sexuelles Verlangen zu haben. Das ermöglichte es, dass lesbische Paare sich in der Öffentlichkeit sehr frei bewegen konnten, da sie eher als sehr enge Freundinnen gelesen wurden, denn als Liebespaare. Hiervon machen Sally Savage und Amelia Raine auch guten Gebrauch.

Wir folgen unserem queeren Cast also durch ein gesellschaftliches Minenfeld. Zwei Zitate direkt am Anfang des ersten Kapitels verdeutlichen nur, wie bedeckt man sich halten musste.

„Welch Freude kann die Sünde sein,
dass wir ihr stetig folgen […]“

– Charles Clutton, 1824

„Wo wir verstohlen Blicke tauschten,
Das Lächeln, das nur ich verstand,
Das Flüstern, dem die Herzen lauschten,
Den Druck, den bebenden, der Hand […]“

– Lord Byron, 1811

Wo wir beim Cast sind: Wie etwa bei Bridgerton oder Downton Abbey werden wir direkt mit einer Ladung an Namen und Personen konfrontiert, die alle zwei Sätze später wieder vergessen sind. Wer war nochmal „Titus“? Was war nochmal mit Lady Ailesbury los? Und was hat Lady Montague mit allem zu schaffen? Das Gute ist aber, dass alle wichtigen Charaktere in Erinnerung bleiben. Selbst später eingeführte Figuren, die wichtig sind oder werden, bleiben hängen. 

Eher ein füllender Teil der Handlung sind die sich auf den Bällen wiederholenden Juwelendiebstähle. Sie passieren, dienen aber eher dazu, unsere zwei zentralen Figuren immer wieder zueinander zu bringen und zu konfrontieren. Sei es, weil Freddy denkt, Edward hätte es auf seine Schwester abgesehen oder weil Edward großen Spaß daran hat Freddy aufzuziehen. 

Links 2, 3, Rechts 2, 3,…

Das erste Aufeinandertreffen von Freddy und Edward auf einem Ball in den heute nicht mehr existierenden Argyll Rooms sorgt für gemischte Gefühle bei beiden. Wohingegen Edward vom attraktiven Rotschopf fasziniert ist, entflammen bei Freddy die Feuer der Hölle. Im Gegensatz zu Edward, der sich seiner Sexualität bewusst ist und diese ohne Scham lebt, wenn auch verborgen, fühlt Freddy sich ertappt, als die Blicke der beiden sich treffen, und Edward ihm ein Lächeln schenkt. Lord Melville deutet seine Gefühle als Zorn, wohingegen Edward erahnt, was im Lord vor sich geht.

Denn Freddy durchlebt in der Geschichte das, was viele schwule Männer in ihrem Leben durchmachen. Die Erkenntnis schwul zu sein, die Scham darüber und die Verneinung der eigenen Sexualität, was sich letztendlich – häufig, aber leider nicht immer – in Akzeptanz auflöst. Jedoch garantiert auch diese Auflösung für unsere zwei Protagonisten keine einfache Zeit miteinander. Etwa beendet Edward sein Verhältnis zu einem Freier, da dieser durch seine Geschäfte vom Kolonialismus und der Ausbeutung versklavter People of Colour in Amerika profitiert. Antrieb dazu ist seine Freundschaft mit der Assistentin von Samuel, die eine Person of Colour ist. Oder die Verhaftung eines Lords, der mit seinem Diener in flagranti erwischt und verhaftet wurde, was unsere queere Wahl-Familie in Aufruhr versetzt.
Oder aber Freddies fast offizielle Verlobung, die ihn unter Druck setzt. Oder das plötzliche Auftauchen seines Vaters, Lord Melville. 

„Versuchungen sollte man nachgeben […]“

Oscar Wilde

Sonnenkönig, Pechrabe ist ein großartiges Buch. Es las sich sehr schnell weg, ich konnte es nicht aus der Hand legen, beziehungsweise wollte es nicht. Kai Spellmeier entführt uns an historische Schauplätze, die teilweise leider nicht mehr existieren, wie beispielsweise  die erwähnten Argyll Rooms. Auch scheut er nicht die unangenehmen Teile des London des 19. Jahrhunderts wie etwa Kolonialismus und die Strafverfolgung von Homosexuellen. Gleichzeitig erschafft er Figuren, die einem ans Herz wachsen, und die man nicht gehen lassen möchte, nachdem man 395 Seiten lang mit ihnen gelitten, gefiebert, gewünscht und gelacht hat.

Unser Gastautor Max // Foto: © Olya Kuzminskaya

Wir erleben Edwards Schwierigkeit Nähe zuzulassen und Freddys langsame Selbstakzeptanz. Wir sind dabei, wenn Rettungspläne geschmiedet, Juwelendiebe überführt und Menschen erpresst werden. Jeder einzelne Hauptcharakter ist mit Sorgfalt ausgearbeitet, und wir erfahren kleine Details über sie, wie etwa Freddys Abneigung gegen Rotwein oder lernen Edwards Kater kennen, welcher Samuels Schneiderei nicht betreten darf. Das ständige Gefühl von Zusammenhalt in dieser Gruppe und wie sich Edward und Freddy langsam annähern, während sie die gesellschaftlichen Hürden und ihr alltägliches Leben bewältigen, hinterlässt in einen mit dem Wunsch nach mehr.

Weswegen ich direkt unter einem Post von @kaispellmeier nach einer Fortsetzung verlangte, was er mit „Ist in Arbeit“ beantwortete. Für mich rangiert dieses Buch in einer Liga mit Das Lied des Achill (Madeline Miller), Die Mitte der Welt (Andreas Steinhöfel) oder Aristoteles und Dante (Benjamin Alire Sáenz), denn nur wenig andere queere Geschichten haben mich so begeistert. Nicht zuletzt, weil jeder Bezug zu Sexualität keinerlei Fremdscham auslöst, da es so authentisch ist. Und jetzt lesen wir alle Sonnenkönig, Pechrabe damit wir schnell eine Fortsetzung bekommen, ja?

Unser Gastautor Max lebt in Berlin und studiert Musik und Lehramt Biologie/Musik. In seiner Freizeit vergräbt er sich in Büchern, Games und queeren Medien. 

Eine Leseprobe findet ihr hier.

Kai Spellmeier: Sonnenkönig, Pechrabe; März 2022; 400 Seiten; Softcover; ISBN 978-3-95761-214-4; LAGO; 14,00 €

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