Verzockt und zugenäht

Der Traum vom schnellen Geld: Ob nun so ganz direkt oder eher abstrakt, viele dürften ihn kennen und manches Mal träumen. Für nicht wenige darf dieser Traum gern um ein wenig Ruhm zum Geld erweitert werden. Möglicherweise wohnt dem gar ein Befreiungsgedanke inne. So scheint es jedenfalls beim Teenager Oskar Weber (Yuri Völsch, Das Boot), der eines der großen Talente der Gaming-Szene im E-Sport-Bereich ist und sich mit seinem Team für ein großes Final-Event qualifiziert hat. Unterstützt wird er dabei von Vater Patrick (Oliver Wnuk), während Mutter Ursula (Marie Burchard) ihren Sohn für süchtig hält. Sicher auch keine seltene Debatte…

Duschstürmung

Sohn und Vater geraten bei aller Turniervorbereitung im Tatort: Game Over schnell in das Mittelfeld der Ermittlungen von Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer). Diese beginnen mit dem Mord an der jungen Streifenpolizistin Lena Wagensonner (Xenia Benevolenskaya), die während einer Verkehrskontrolle erschossen wird (wir dachten zuerst, es könnte in Richtung des Falles aus Rheinland Pfalz im Januar 20222 gehen, Batic-Darsteller Nemec gibt in einem Hinter-den-Kulissen-Video aber an, dass Stefan Holtz und Florian Iwersen ihr Tatort-Drehbuch vor der entsetzlichen Tat geschrieben hätten).

Lena Wagensonner (Xenia Benevolenskaya) bei einer Verkehrskontrolle // Foto: © BR/Bavaria Fiction GmbH/Claudia Milutinov

Schnell wird das Auto, aus dem die Schüsse abgefeuert wurden, ausfindig gemacht — samt verkohlter Leiche im Kofferraum. In der Wohnung des Fahrzeughalters Michael Hetsch (Mauricio Hölzermann), die vom SEK gestürmt wird, entdecken die Beamten allerdings lediglich dessen Schwester Verena (Lea van Acken, aktuell in Zwei Seiten des Abgrunds zu sehen) unter der Dusche. Die ist wenig begeistert und verständlicherweise etwas perplex, Leitmayr und Batic hingegen sind noch patziger und unsensibler als sonst, schließlich ist eine Kollegin tot.

Lea van Acken als Verena Hetsch // Foto: © BR/Bavaria Fiction GmbH/Claudia Milutinov

Das ändert sich auch nicht, als herauskommt, was geneigte und erfahrene Tatort-Zuschauer*innen natürlich längst vermuten: Die Leiche im Kofferraum ist Michael Hetsch. Dudum. Dieser wiederum war fester Bestandteil der Gamer-Welt und spielte in einer Counter-Strike-Gruppe, in der auch viele Polizisten spielten. Moment… Mooooomeeent! Kommt der Täter etwa aus den eigenen Reihen?! Dudum! Die Münchner Ermittler suchen also Hilfe bei den Profis — sehr zu Freude Kallis, der Kenner und Fan ist.

Experimentierfreude

Zugegeben: Meine Tomb Raider, Assassin’s Creed und Silent Hill-Tage liegen eine gewisse Zeit hinter mir (was sicher auch daran liegt, dass ich keine Konsole mehr habe. Man reiche mir eine PS5 und ich bin wieder am Start), doch die Aussicht auf eine Folge, die diese Welt — vor allem jenen professionellen und auch finanzstarken Wettbewerbsbereich beleuchtet — fand ich spannend. Wenn wir hier auch skeptisch waren, ob das kürzlich noch über Ruhestand nachdenkende Team München so passend ist. Eher würde ich da an Moormann und Selb aus Bremen oder das Stuttgarter Duo Lannert und Bootz, das nach längerer Abwesenheit Mitte Juni wieder ermittelt, denken. 

Von links: Ivo Batic (Miroslav Nemec), Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) sowie Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer) versuchen Hinweise zum ausgebrannten PKW herauszufinden // Foto: © BR/Bavaria Fiction GmbH/Claudia Milutinov

Aber was soll’s: Experimente sind fein und nach dem gut wutbürgerlichen Beißer-Hackl darf es gern etwas fancier sein. Die Mischung macht’s! Und durchaus tauchen die Autoren Holtz und Iwersen (für Die Ibiza-Affäre Grimme Preis prämiert und ebenfalls beteiligt an der Serienadaption von Andreas Eschenbachs Eine Billion Dollar) in diese für viele fremde wenn nicht gar befremdliche Welt ein. Sie erschließen sich und uns, wie sie sagen, quasi einen „fremdkulturellen Kontext“. 

Realitätenhandlung

Hilfe bekam das Tatort-Team dabei von Phi-Long Pham, dem Vorstandsvorsitzenden von Munich eSports e. V., der sagt, dass die dargestellten Szenarien durchaus realistisch sind (minus der Mordermittlungen, in die E-Sportler für gewöhnlich nicht verwickelt sind). Was jedoch Themen wie „Cheats“, also Betrug und Betrugsversuche sowie Ehrgeiz und auch die Darstellung der Lobby, also dem virtuellen Vorraum des Spiels, angeht, sei das schon alles sehr treffend. (Der Verein durfte neben Expertise auch einige Komparsen und mehrere Schauspieler mit Sprechrollen stellen und sogar mit ihren echten Jerseys mit Spielernamen auftreten, wie Phi-Long Pham erzählt.)

Ganz oben: Oskar Weber (Yuri Völsch) hat mit den Icecubes gewonnen // Foto: BR/Bavaria Fiction GmbH/Thomas Neumeier

Immer tiefer geht es in die Welt des E-Sports und die darin lauernden Verlockungen wie aber auch Gefahren, denn es soll nicht bei zwei Toten bleiben. Hier kommen wir nun zum Erstaunlichen an diesem Tatort: Game Over von Lancelot von Naso: Es passiert unglaublich viel, die Geschichte ist wendungsreich, wir müssen gar um Kalli bangen. Und doch ist das alles derart betulich abgearbeitet, dass wir uns nach Ende des Tatorts ansahen und uns sagten: „Das waren NUR neunzig Minuten?“

Langatmigkeitsschock

Trotz aller Bemühungen hier nicht nur ein filmtechnisch eher unbekanntes Dunkelfeld zu beleuchten und dabei noch soziale Ungleichheit und Glücksrittertum zu thematisieren, Familienstreit, viel gezückter Waffen, dem Feind im eigenen Lager, diverser SEK-Ausrückungen: Dieses Game ist unfassbar langatmig und trotz manch recht launischem Dialog („Das is n’ Klassiker.“ — Bananen Split auch.“) leider auch ohne jeden Charme. Wenn Batic mit gezogener Waffe dem Hauptverdächtigen hinterher jagt und das ganze eine Gamer-Optik haben soll (Bildgestaltung: Peter von Haller, wird es gar unfreiwillig komisch — es ist nicht die einzige Szene in diesem Style. Da helfen auch größtenteils solide darstellerische Leistungen wenig.

Das SEK im Einsatz // Foto: © BR/Bavaria Fiction GmbH/Claudia Milutinov

So bleibt am Ende von Tatort: Game Over ein zwiespältiger Eindruck. Es ist toll, sich mit diesem Thema zu beschäftigen und durchaus ein wenig Lust darauf zu machen. Weniger toll ist jedoch leider die Umsetzung des Ganzen, die nach einem semi-erbaulichen Ende noch moralisch zweifelhaft von Batic und Leitmayr kommentiert wird. 

AS

PS: „Ich hab Erzieherin gelernt. Aber ich hasse Kinder.“ Top!

Von links: Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Ivo Batic (Miroslav Nemec) auf dem Weg zum Tatort im Tatort // Foto: © BR/Bavaria Fiction GmbH/Claudia Milutinov

Tatort: Game Over läuft am 21. Mai 2023 um 20:15 Uhr im Ersten und um 21:45 auf one und ist anschließend für sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.

Tatort: Hackl; Deutschland 2023; Buch: Stefan Holtz, Florian Iwersen; Regie: Lancelot von Naso; Bildgestaltung: Peter von Haller; Musik: Martina Eisenreich; Darsteller*innen: Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec, Ferdinand Hofer, Yuri Völsch, Oliver Wnuk, Marie Burchard, Jan Bülow, Lea van Acken, Xenia Benevolsenskaya, Stefan Betz, Robert Joseph Bartl, Stefan Betz, Mauricio Hölzemann, Christian A. Koch, u. a.; Laufzeit: ca. 88 Minuten

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