Schöner entmieten in Favoriten

Wohnraum ist knapp – nicht nur in Deutschland. In Berlin wurde ein Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungskonzerne gestartet – und selbst nach der Wiederholungswahl aus dem Februar nicht umgesetzt (auch nicht zu Unrecht). Gerade die österreichische Hauptstadt Wien gilt aber als sehr mieterinnen- und mieterfreundlich, bietet viel öffentlich geförderten Wohnraum an – nicht selten zum Leid von Eigentümerinnen und Eigentümern von Immobilien.

Rechten und Pflichten im (Ver-)Mietverhältnis

Und doch hat mensch als Vermieterin oder Vermieter sowohl Pflichten als auch Ansprüche. Für die Mietparteien gilt das ebenso. Und wenn letztere ihren Pflichten, beispielsweise der Mietzahlung, nicht nachkommen, dann kann eine Zwangsräumung in die Wege geleitet werden. Um so eine Räumung geht es in Lisbeth Exners Roman Realitätenhandlung – Neunundvierzig Minuten, der mit einem Vorwort der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek im Verlag Elster & Salis erschienen ist.

Fünf Personen und ein Geist sind bei dieser mit neunundvierzig Minuten veranschlagten Prozedur anwesend: die demente Mieterin, die auf ihr Recht beharrende, aber eigentlich eher planlose Eigentümerin, ein Gerichtsvollzieher, der dem Alkohol schon vor einiger Zeit abgeschworen hat, ein vom Balkan oder aus dem Näheren Osten stammender Vertreter der Firma, die eine mögliche Entrümpelung der Wohnung erledigen müsste (und der dem Alkohol noch nicht ganz abgeschworen hat) sowie der studentische Mitarbeiter eines Schlüsseldienstes, der die Wohnung für die anderen geöffnet hatte. Und eben der feine Geist, der vermutlich die Mutter oder die Großmutter der aktuellen Mieterin, ähm, verkörpert.

Ein Blick in die Gedankenwelten

Immer abwechselnd dringen wir Leserinnen und Leser in die innere Gedankenwelt der an dieser Szene beteiligten Personen ein. Wir verfolgen, wie der Gerichtsvollzieher über den Möbelpacker und dessen vermeintliche Alkoholsucht nachdenkt und wie der Möbelpacker uns erläutert, welchen Adrenalinkick er aus Wohnungseinbrüchen zieht. Wir verfolgen die von Demenz vernebelten Gedanken der Mieterin, die Erinnerung an ihren Vater und die vielen, vielen Bücher, die die Wohnung neben Bergen von Zeitschriften pflastern.

Gleichsam erleben wir, wie die nicht nur dezent ausländerfeindliche Vermieterin ihr Handeln vor sich und überhaupt allen rechtfertigt – schließlich könne sie nicht anders und bereits ihre Mutter habe sie zu dem verdonnert, was sie heute ist. Da ist es egal, dass das Haus vermutlich einst unter fragwürdigen Umständen die Eigentumsverhältnisse wechselte – das mit der Enteignung der Juden sei ja jetzt schon lange her. Dass das Gespenst sowieso bereits bessere Zeiten gesehen hat und die Räumung bitte an ihr vorbeigehen möge, dürfte sich von selbst erklären.

Nemo bono

Im Rahmen dieser verschiedenen Bewusstseinsströme stellt sich für uns heraus, dass eigentlich niemand wirklich von dieser Räumung profitiert – im Gegenteil, die meisten Beteiligten haben eher Aufwände und Schaden hieraus. Die Frage, die sich somit nach und nach als Kern der Debatte herausschält ist, die ob jedes Recht um des Rechts willen durchgesetzt werden muss, zumal es in diesem Fall lediglich als Erfüllungsgehilfe des Kapitals dient.

Das wird spätestens dann klar, wenn der junge Mann vom Schlüsseldienst seinen Auftritt hat. Anders als alle anderen Akteure in dieser Erzählung, die sich perfekt als Theaterstück oder Kammerspiel inszenieren ließe, äußert der Student seine Gedanken laut und in direkter Rede und scheint die vermeintliche Lösung für das Problem zu haben. Er durchbricht damit die Erzähl- und Handlungsebene, auf der die anderen Figuren agieren und verändert somit Diskurs und Gedanken der gesamten Geschichte.

Protokoll einer skurrilen Situation

Lisbeth Exner kombiniert somit in ihrem ersten Roman eine Reihe von prekären Themen mit anspruchsvollen darstellerischen Elementen. Von der Wohnungsnot in Großstädten über die Rechte und Pflichten von Immobilieneigentümerinnen und -eigentümern, über individuelle und gesellschaftliche Verantwortung – historisch und aktuell –, den Wert von Büchern und ein gewisses Messietum (und somit Kritik an der Konsumgesellschaft) deckt sie viele verschiedene Punkte ab, die sozialen Sprengstoff beinhalten.

All das garniert sie mit der bewusstseinsstromartigen Erzählweise aus der Gedankenwelt der einzelnen Figuren, die sich in ihren individuellen Argumentationen gut und gerne verrennen und in Kombination die Komplexität des Sachverhalts und der Folgen der geplanten Räumung offenlegen. Mit der Geisterfigur und dem unterschätzten Studenten baut sie jedoch zwei Charaktere ein, die uns aus dieser Gedankenwelt herausholen und zur Reflexion der gesamten Geschichte anregen – und die in einem fast schon abstrusen Zustand zu einem Ende finden.

Realitätenhandlung von Lisbeth Exner ist somit das Protokoll einer skurrilen Situation, die in der Zeit von Wohnungs- und Handwerkerknappheit, von theoretischen Debatten und der vielfachen Schwierigkeit in der praktischen Umsetzung viele Gedanken aufgreift, derer wir uns vielfach verschließen. Vermutlich ist das eine Lektüre, mit der mensch sich auseinandersetzen wollen muss, aber sie ist es wert, denn sie zieht ihre Leserinnen und Leser mit jeder Seite mehr in ihren Bann.

HMS

PS: Aus der Handlung erschließt sich (zumindest uns nur bedingt ortskundigen Berlinern) nicht, ob sich die in Frage stehende Wohnung tatsächlich im Wiener Bezirk Favoriten befindet. Vermutlich ist das aber auch egal, entmietet wird dieser Tage ja mehr oder weniger überall.

Lisbeth Exner: Realitätenhandlung. Neunundvierzig Minuten; Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek; 144 Seiten; Hardcover, gebunden mit Lesebändchen; ISBN 978-3-03930-037-2; Elster & Salis; 18,00 €

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